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Kapitel 2 Die Unantastbarkeit der Menschenwürde ganz konkret

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Das Grundgesetz beginnt mit der Achtung und dem Schutz der Würde des Menschen: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Artikel 1 GG gibt ein großes Versprechen, das alle staatlichen Gewalten bindet. Weder die Verwaltung noch der Gesetzgeber oder die Gerichte dürfen sich darüber hinwegsetzen oder sie verletzen. Es ist das Versprechen, jeden Menschen um seiner selbst willen zu achten.

Worauf gründet sich die Idee der Menschenwürde eigentlich? Woher kommt der Gedanke, es gebe unveräußerliche Menschenrechte? Seit der Antike haben sich viele Denker mit dieser Frage auseinandergesetzt, sie in ihren philosophischen, theologischen, politischen oder juristischen Dimensionen ausgeleuchtet.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Der Politiker und berühmte Redner des antiken Rom Marcus Tullius Cicero entwickelte ein Verständnis der menschlichen Würde losgelöst vom Amt und sozialen Status. Der römisch-katholische Theologe Thomas von Aquin schöpfte im Mittelalter die Würde der menschlichen Person aus der Gottesebenbildlichkeit, der natürlichen Einsichtsfähigkeit und der Entscheidungsfreiheit des Menschen. Die Aufklärung legte den Grund für ein Würdeverständnis, das von sittlicher Selbstbestimmung, vom Eigenwert jeder menschlichen Existenz und gegenseitiger Achtung geprägt ist.4 Der Philosoph Immanuel Kant sieht die Autonomie als den Grund für die Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur. Diese skizzenhaften Hinweise zur Menschenwürde zeigen die unterschiedlichen Herleitungen auch der Menschenrechte – einerseits aus der christlichen Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und andererseits aus seiner Vernunftbegabung.

Die Grundrechte stellen eine Wertordnung für unser Zusammenleben auf.

Verfassungsrechtlichen Niederschlag fanden die Menschenrechte bereits 1215 in der Magna Charta in England, die dem Adel gegenüber dem König politische Rechte verlieh. Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte besann sich das revolutionäre Bürgertum des Jahres 1848 auf die Kraft der Volkssouveränität. Das führte zur Paulskirchenverfassung von 1849, die in 60 Paragrafen einen Katalog von Grundrechten enthielt, auf den die Schöpfer späterer Verfassungen wie der Weimarer Reichsverfassung zurückgreifen konnten.5

Die Grundrechte bilden nicht nur die Rechte der Bürger ab, sondern stellen auch eine Wertordnung für unser Zusammenleben auf. Die Würde ist absolut, nicht relativierbar. Es gibt keine Unterschiede nach Herkunft, Abstammung oder Religion. Kriminelle genießen ebenso Menschenwürdeschutz wie Lebensretter. Was sich so einfach liest, ist ein komplexer und egalitärer Menschenrechtsschutz, der für manche nicht einfach zu verstehen, zu akzeptieren und zu praktizieren ist. In einer offenen Gesellschaft leben viele Individuen mit unterschiedlichen Wertvorstellungen und Interessen, mit unterschiedlichem Glauben und unterschiedlichem sozialen Umfeld. Konflikte gehören deshalb zum Zusammenleben dazu. Sie verlangen von jedem Menschen Respekt und Toleranz. Und das setzt auch einige Kenntnisse über die Lebensweisen und kulturellen Vorstellungen des jeweils anderen voraus.

Die Konfliktlösung muss immer unter Beachtung der Würde aller Menschen friedlich erfolgen, was schon beinhaltet, dass die Würde eines Einzelnen nicht grenzenlos gelten kann. Die Grenzen müssen in der jeweiligen Situation ausgelotet werden. Deshalb ist es so wichtig, die Achtung des anderen als die Kehrseite dessen zu sehen, was man selbst an Achtung erwartet. Das eigene Handeln an diesem Grundgedanken auszurichten, ist genau das Gegenteil von Ausgrenzung, Beleidigung oder Pöbeleien, mit denen Menschen jene überziehen, die etwa einer anderen Religion als sie selbst, dem Islam oder dem Judentum, angehören. Dieser Imperativ gilt für alle, die in Deutschland und damit im Geltungsbereich unseres Grundgesetzes leben, sowohl für die Einheimischen als auch für die Einwanderer.

Die Menschenwürde bedeutet nicht nur die individuelle Selbstbestimmung, nicht nur die Garantie der Personalität des Menschen. Die Garantie der Menschenwürde ist auf ebenso grundsätzliche Weise mit der Garantie der Solidarität zwischen Menschen verknüpft.6 Immer dann, wenn wir im Zusammenleben und Zusammenwirken mit anderen auf sie angewiesen sind, wenn wir erst durch sie das sind, was wir sind, wird diese Dimension der Menschenwürde sichtbar. In der Arbeitswelt, in der Familie und in der Öffentlichkeit hängt die Wahrung der eigenen Würde auch davon ab, dass andere für einen da sind, sich kümmern, für einen einstehen. Was nützt mir meine Selbstbestimmung, wenn ich in der Schule gemobbt, ausgegrenzt und gehänselt werde? Was ist meine Selbstbestimmung wert, wenn mir nach einem Unfall mit blutenden Verletzungen niemand aus dieser bedrohlichen Lage hilft? Die Realisierung der Menschenwürde hängt entscheidend von der Mitverantwortung des anderen ab.

Da die Menschenwürdegarantie für jeden Menschen unabhängig von seiner Herkunft gilt, haben wir auch eine Mitverantwortung gegenüber denjenigen, die aus einer anderen Umgebung, aus einer anderen Kultur, mit einem anderen Glauben und einer anderen Staatsangehörigkeit zu uns kommen. Ihre Menschenwürde verkümmert, wenn sie keine Möglichkeiten der Entfaltung in einem sicheren Umfeld haben. Auch wenn manche Menschen Deutschland wieder verlassen müssen, sind sie human und angemessen zu behandeln. Das eröffnet einen gesetzgeberischen Spielraum für die Aufenthaltsregelungen und die soziale Versorgung, das verlangt die Einhaltung der Gesetze von den Bürgerinnen und Bürgern, und das verbietet willkürliches und unmenschliches staatliches Vorgehen. An diesen doch recht unbestimmten Rechtsbegriffen sieht man, wie wichtig die Grundeinstellung von uns allen ist. Wie wichtig das Bemühen um gegenseitiges Verstehen ist. Auf einer Basis der grundsätzlichen Wertschätzung gedeiht der ideologisch fundierte und aufgerüstete Hass nicht oder nur sehr viel schwerer.

Diejenigen, die die deutsche Identität durch „Fremde“ gefährdet sehen und zu ihrer vermeintlichen „Selbstverteidigung“ vor Gewalt bis hin zu Mord, Bombenanschlägen und gewalttätigen Übergriffen nicht zurückschrecken, brauchen keinen „Fremden“ für ihren Hass. Sie sind denen auf den Leim gegangen, die theoretisch in jedem Fremden eine Gefährdung des „Deutschseins“ sehen und die „deutsche Rasse“ als etwas ganz Besonderes betrachten. Wohin diese Rassenideologie führen kann, hat das Wüten des NS-Regimes gezeigt.

Solch ausgrenzendes Verhalten wird durch keine Freiheitsrechte abgedeckt, ganz im Gegenteil: Fremdenfeindlich motivierte Straftaten berechtigen zum Einsatz des schärfsten Schwertes, mit dem der Rechtsstaat sich verteidigen kann – zu jahrelanger Freiheitsstrafe und damit zum tiefsten Eingriff in das Recht auf freies Leben.

Angst essen Freiheit auf

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