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EIN NEUANFANG 1949
ОглавлениеSeit im Nachkriegsdeutschland politische Parteien wieder zugelassen waren, stießen auch parteipolitische und ideologische Gegensätze aufeinander. In den Landtagen der Westzone waren parlamentarische Demokratie und parteipolitische Auseinandersetzung längst wieder präsent, als im September 1948 der Parlamentarische Rat mit der Arbeit am Grundgesetz begann. So spielten die parteipolitischen Gegensätze auch während der Ausarbeitung des Grundgesetzes eine wesentliche Rolle. Sollte der Bezug auf Gott aufgenommen werden? Wer sollte für die Verwaltung der Finanzen verantwortlich sein? Und wie sollte sich die Länderkammer zusammensetzen?
Dennoch waren sich die Vertreter der demokratischen Parteien in vielen grundlegenden Fragen schnell einig – vor allem in der Absicht, einen demokratischen Staat in einem geeinten Europa zu errichten. Unstrittig war auch die Errichtung eines starken, unmittelbar vom Volk gewählten Parlaments. Dieses Parlament sollte für einen wesentlichen Anteil der Gesetzgebung zuständig sein, die Regierung sollte von ihm abhängen, und schließlich sollte es bei der Wahl des Bundespräsidenten mitwirken.
Ebenfalls über die Parteigrenzen hinweg bestand Einigkeit in der Ablehnung von Plebisziten, was vor allem dem Missbrauch von Volksabstimmungen während der nationalsozialistischen Zeit geschuldet war. Deshalb kann es bis heute keine Volksabstimmungen und Volksbefragungen auf Bundesebene geben – mit einer Ausnahme: wenn es um die Änderung des Bundesgebietes geht. Nach der deutschen Einheit wurde von den Bürgerinnen und Bürgern über die Zusammenlegung von Berlin und Brandenburg abgestimmt, wie es in Artikel 29 Absatz 2 GG vorgeschrieben ist, und ein neues Bundesland Berlin-Brandenburg abgelehnt.
Da war die Debatte über die im Grundgesetz zu verankernden Grundrechte schon kontroverser und entzündete sich nicht nur an der Formulierung, sondern auch an der Ausgestaltung einiger Grundrechte. Darüber, Freiheitsrechte aufzunehmen und die Stellung der Bürgerinnen und Bürger zu stärken, bestand Konsens. Auch war man sich einig, ihnen innerhalb des Grundgesetzes eine besondere Bedeutung als rechtlich durchsetzbare Instrumente zur Kontrolle und Begrenzung staatlicher Macht zu geben. Darin unterschieden sie sich von der Weimarer Reichsverfassung (WRV), in der die Grundrechte nur im Rahmen der Gesetzgebung galten und damit durch den einfachen Gesetzgeber eingegrenzt und ausgehebelt werden konnten. Die Weimarer Reichsverfassung und die dort verankerten Grundrechte hatten die formal legale Machtergreifung der Nationalsozialisten nicht verhindern können.
Die Demokratie braucht überzeugte Demokraten.
Wohl kein Diktator wird sich von der Durchsetzung seiner Vorstellung eines autoritären Staats durch eine geschriebene Verfassung abbringen lassen. Er wird alles tun, die Verfassung zu ändern oder sie bewusst zu brechen. Eine unabhängige Justiz und starke Institutionen können nachhaltigen Widerstand gegen die Entwicklung von Staatsallmacht und die Unterdrückung der Bürger leisten. Aber genauso wichtig ist eine lebendige Zivilgesellschaft, die sich ihrer Rechte bewusst ist und gegen ihre Beschränkung auch auf die Straße geht. Der Willkür der Staatsgewalt, ausgeübt durch rechtsstaatlich nicht mehr gebundene Polizei und Geheimdienste, steht mit den Grundrechten ein Schutzwall gegenüber, der mit einer unabhängigen, nicht korrupten Justiz verhindern kann, dass die Bürger auf verlorenem Posten stehen. Vergessen wir deshalb nie, wie wichtig es ist, die Demokratie zu leben. Die Demokratie braucht überzeugte Demokraten.
Um die Wirksamkeit und den Stellenwert der Grundrechte im Gefüge unseres heutigen Grundgesetzes zu verstehen, ist es hilfreich, wenigstens drei Schwachstellen der Weimarer Reichsverfassung zu kennen, die die Machtübernahme der Nationalsozialisten ermöglicht und insofern maßgeblich zum Scheitern der Weimarer Republik beigetragen haben.
Ganz oben auf der Liste der Schwachstellen steht der berühmtberüchtigte Artikel 48 WRV, dessen Absatz 2 folgendermaßen lautet:
„Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgelegten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.“
Mit dieser auch Diktatur des Reichspräsidenten genannten Bestimmung war der Reichspräsident also ermächtigt, den Reichstag, das demokratisch gewählte Parlament, als ordentlichen Gesetzgeber zu umgehen und mit Not- oder Diktaturverordnungen einzelne oder mehrere Grundrechte teilweise oder vollständig außer Kraft zu setzen. Auf diese Ermächtigung hätte nur im Ausnahmezustand, also bei erheblichen Störungen oder Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zurückgegriffen werden dürfen. Tatsächlich wurde von ihr aber im Zeitraum von Oktober 1919 bis Dezember 1932 sage und schreibe 254-mal Gebrauch gemacht.
Eine zweite Schwachstelle der Weimarer Verfassung war die in Artikel 25 festgelegte Befugnis des Reichspräsidenten, den Reichstag aufzulösen. Eine dritte bestand darin, dass verfassungsändernde Gesetze zu ihrer Verabschiedung zwar einer Zweidrittelmehrheit des Reichstags bedurften, diese aber nicht die Zweidrittelmehrheit aller, sondern nur die der an der Sitzung teilnehmenden, also anwesenden Abgeordneten sein musste.
Es waren solche und ähnliche Schwächen der Weimarer Verfassung, die der Oberpropagandist der Nazis, Joseph Goebbels, im Auge hatte, als er bereits im April 1928 in dem von ihm herausgegebenen NSDAP-Kampfblatt „Der Angriff“ in aller Offenheit ankündigte:
„Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. (…) Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache. (…) Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafsherde einbricht, so kommen wir!“
Genau das sollte das Grundgesetz künftig verhindern. Es sollten die Lehren aus dem Versagen der Demokraten und dem Erfolg der nationalsozialistischen Populisten gezogen werden, zu deren Erfolgsrezept die Hetze gegen Andersdenkende und Andersgläubige gehörte. Der Selbstentmachtung und Selbstauflösung des Parlaments wurden Riegel vorgeschoben und die fundamentalen Säulen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung mit einer sogenannten Ewigkeitsgarantie gesichert. Das heißt, dass auch mit einer Zweidrittelmehrheit die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die Gewaltenteilung und die Rechtsstaatsgarantie nicht aufgehoben werden können.
Zum Schutz der Demokratie ging der Parlamentarische Rat noch andere Wege: So bedroht das Grundgesetz auch Vereinigungen (Art. 9 Abs. 2) und Parteien (Art. 21 Abs. 2) mit Verbot, die gegen die freiheitliche Grundordnung gerichtet sind. Das ist ein scharfes Schwert in einer Demokratie, die Parteien zur Meinungsbildung und zu den Wahlen braucht. Es hat allerdings bis heute nur zwei Parteienverbote gegeben.
„Die Grundrechte müssen das Grundgesetz regieren.“
Über das Verständnis der Grundrechte als möglichst konkrete, für alle Gewalten verbindliche Rechte, die nicht in ihrem Wesensgehalt angetastet werden dürfen, bestand schnell Konsens. „Der Staat soll nicht alles tun können, was ihm gerade bequem ist, wenn er nur einen willfährigen Gesetzgeber findet, sondern der Mensch soll Rechte haben, über die auch der Staat nicht soll verfügen können. Die Grundrechte müssen das Grundgesetz regieren“, so der Sozialdemokrat Carlo Schmid bei der Generaldebatte des Plenums des Parlamentarischen Rats am 9. September 1948. In derselben Sitzung befand der Liberale Theodor Heuss: „Was die Grundrechte betrifft, so sind sie ein Stück des Staates; aber sie sind gleichzeitig Misstrauensaktionen gegen den Missbrauch der staatlichen Macht.“ Und der Christdemokrat Adolf Süsterhenn äußerte: „Höchstwert ist für uns die Freiheit und die Würde der menschlichen Persönlichkeit.“2
Auch über den klassischen Katalog, also die individuellen Grundrechte wie beispielsweise Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Post- und Fernmeldegeheimnis sowie den Anspruch auf einen gesetzlichen Richter, war man sich angesichts der Erfahrungen im Nazi-Unrechtsregime schnell einig. Konsequent war der Vorschlag, ein Recht für Fremde auf Schutz vor Auslieferung und Ausweisung zu schaffen (damals Art. 16 Abs. 2 GG), wenn sie unter Verletzung der in der Verfassung niedergelegten Grundrechte im Ausland verfolgt werden und in den Geltungsbereich des Grundgesetzes geflohen sind. Denn zu den Erfahrungen der Verfolgten der NS-Diktatur gehörte nicht nur das Exil, sondern auch das verweigerte Exil. Es war mutig, dies zu fordern, denn immerhin lebten in Westdeutschland damals bei verheerender wirtschaftlicher Lage etwa sieben Millionen Flüchtlinge.
Dagegen rief der einfache Satz, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind (Art. 3 Abs. 2 GG), überraschend kontroverse Einlassungen hervor. Dann sei das Bürgerliche Gesetzbuch in weiten Teilen des Familienrechts verfassungswidrig, bemerkte Thomas Dehler (der erste westdeutsche Bundesjustizminister) juristisch zutreffend. Doch zog er daraus den falschen Schluss, man solle deshalb eine weniger konkrete Formulierung wählen, um die entsprechenden Abschnitte des Familienrechts nicht ändern zu müssen. Bezeichnend für Positionen wie diese war, dass die Vormundschaft des Ehemanns über seine Frau ganz überwiegend nicht als Benachteiligung der Frauen gesehen wurde.
Elisabeth Selbert (SPD) ist es zu verdanken, dass es doch zu dieser klaren Grundrechtsfassung der Gleichberechtigung gekommen ist.3 Sie brachte das Thema in die breite Öffentlichkeit. Eine von ihr mitinitiierte Öffentlichkeitskampagne von Frauenorganisationen und Medien ließ den Widerstand gegen die Gleichberechtigung im Parlamentarischen Rat in kürzester Zeit zusammenbrechen. Einstimmig nahm der Hauptausschuss die Formulierung von Elisabeth Selbert an. War da mal Widerstand gewesen? Auch schon damals hat funktioniert, was heute mittels sozialer Medien, diverser digitaler Plattformen und gezielter Medienkampagnen viel ausgeprägter möglich ist: Einfluss auf die Meinungsbildung demokratisch legitimierter politischer Repräsentanten zu nehmen. Demokratische Meinungsbildung kann eben sowohl mittels fairer sachlicher Argumente befördert als auch mittels Fake News und Desinfomationskampagnen manipuliert werden.
Bei der Verabschiedung des Grundgesetzentwurfs am 8. Mai 1949 wurde denn auch von früheren Kritikern festgestellt, dass die Gleichberechtigung der Frau im Grundsatz eigentlich kein Streitpunkt gewesen sei. Allenfalls sei es um die Suche nach einer angemessenen und juristisch unangreifbaren Formulierung gegangen. Man hatte sich auf das Ziel verständigt, den Gleichheitsgrundsatz so zu fassen, dass er auch Auswirkungen auf das bürgerliche Recht und insbesondere das Familienrecht und Arbeitsrecht haben würde.
Das Familienrecht war konservativ geprägt, die Frau durfte ohne Erlaubnis des Mannes nicht arbeiten, sie musste den Namen des Mannes übernehmen und konnte ohne dessen Zustimmung kein eigenes Konto eröffnen. Erst im Laufe der 60er-Jahre wurden diese die Frau entmündigenden Gesetze abgeschafft und damit die gesellschaftliche Gleichstellung der Frauen ein Stück vorangebracht. Das lässt eindeutige Rückschlüsse auf das Verständnis vieler Politiker von Gleichberechtigung zu – nur keine positiven. Denn über ein Jahrzehnt lang hatten sie sich anscheinend nicht an den verfassungswidrigen familienrechtlichen Zuständen gestört, die ihnen ja schon mit Verabschiedung des Gleichberechtigungsartikels 1949 bewusst waren. Ohne die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als treibende Kraft hätte es vielleicht noch länger gedauert. Die Karlsruher Richter bereiteten der Emanzipation der Frau den Weg und begleiteten den Wandel der Familie und Ehe weg von dem alten idealisierten Vater-Mutter-Kind-Familienbild zur partnerschaftlichen Beziehung und der Angleichung der Homo-Ehe.