Читать книгу Angst essen Freiheit auf - Sabine Leutheusser-Schnarrenberger - Страница 6

Оглавление

Prolog

Welchen Stellenwert haben die Grundrechte heute – 70 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes 1949? Das Jubiläum des Grundgesetzes 2019 ist ein guter Anlass, sich mit seinen wesentlichen Inhalten, den Grundrechten, zu beschäftigen. Politisch und juristisch ist das Grundgesetz schon häufig bewertet worden. Seine Entstehungsgeschichte wurde dargestellt, seine Bedeutung für die Begründung der Demokratie der Bundesrepublik Deutschland war Gegenstand historischer und verfassungspolitischer Abhandlungen. Warum sich also noch einmal damit befassen?

Dieses Buch ist keine weitere Eloge auf die Verfassung. Es gibt keine juristischen Kommentare ab, die der Nichtjurist nur schwer oder gar nicht verstehen kann. Und es befasst sich auch nicht mit allen Grundrechten. Was ist es dann?

Es ist ein flammendes Plädoyer für die Freiheitsrechte. Sie werden im Grundgesetz als unveräußerliche Rechte in den Artikeln 1 bis 19 garantiert. Jeder Bürger ist Träger dieser Freiheitsrechte. Nicht der Staat gewährt sie, sondern wir haben sie.

Es ist eine Liebeserklärung an die Freiheit. Ein Bekenntnis zu dem Wert, der so selbstverständlich von uns allen in Anspruch genommen und doch so wenig wertgeschätzt wird.

Es ist die Verteidigungsschrift einer glühenden Verfechterin der Freiheit. Und eine Verteidigung ist dringend nötig, denn Feinde der Freiheit gibt es genug. Ein Staat, der eine einseitige Sicherheitspolitik zulasten der Freiheit betreibt und auch vor verfassungswidrigen Eingriffen nicht zurückschreckt. Marktdominante globale Unternehmen, die Unmengen an personenbezogenen Daten speichern, analysieren, vernetzen und verwenden. Demokratiefeindliche Kräfte wie extreme Parteien und Bewegungen, Auslandsgeheimdienste und kriminelle Hacker, die mithilfe der sozialen Medien freie, unabhängige Wahlen durch gezielte Desinformation und Manipulation gefährden. Und schließlich begeben die Bürger sich ihrer Freiheitsrechte selbst, indem sie bereitwillig auf ihre informationelle Selbstbestimmung verzichten und vom Staat immer mehr Sicherheit einfordern, weil sie Angst vor Terror, vor Kriminalität, vor Geflüchteten, vor anderen Religionen und anderen Kulturen haben. Sie delegieren die Verantwortung an den Staat und geben dafür ihre Freiheitsrechte scheibchenweise auf.

ANGST ESSEN FREIHEIT AUF

Wer Angst vor Übergriffen, vor Verletzungen, vor Ausspähungen und vor Überwachung hat, der verhält sich nicht frei. Der wagt sich womöglich nicht an bestimmte Orte, verzichtet darauf, an Großveranstaltungen teilzunehmen, traut sich keine eigene Meinung mehr zu und verändert vielleicht sein Kommunikationsverhalten. Er verändert womöglich auch seine Einstellung zu anderen Menschen, sieht in ihnen eine Gefahr, sei es wegen der für ihn fremden Kultur, der sie angehören, sei es wegen ihres Glaubens, der ihm unheimlich ist. Diese Ängste darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ja, wir alle, auch und gerade die Politiker, müssen sie ernst nehmen.

Vom Schüren der Angst bis zur Gleichgültigkeit, von bewusstem Verzicht bis zu rücksichtsloser Inanspruchnahme reichen die Verhaltensweisen, die die Freiheitsrechte gefährden. In Teilen der Zivilbevölkerung werden Toleranz und Respekt gegenüber den Mitmenschen, die in einer offenen Gesellschaft unverzichtbar sind, nicht mehr gelebt. Vielmehr dominieren Vorurteile und Hass. Angst ist der Treibsatz gegen die Grundrechte des Einzelnen, sie ist das schleichende Gift in unseren Köpfen und Herzen, das die Offenheit und Zuneigung zum Miteinander zersetzt, indem sie die Freiheitsrechte als Eliteninstrument diffamiert.

Angst bedroht die Grundlagen unserer offenen Gesellschaft, von der wir alle so sehr profitieren. Dieser Entwicklung möchte ich entgegentreten und in Anlehnung an Rainer Werner Fassbinders Film „Angst essen Seele auf“ zeigen, dass wir die einmalige Errungenschaft, wirklich freie Bürger und Bürgerinnen zu sein, einbüßen, wenn wir uns nicht bewusst machen, was auf dem Spiel steht.

„ES GEHT UM DICH!“

Diese Botschaft darf nicht den Gegnern der freiheitlich-demokratischen Grundwerte überlassen werden, die damit ein Versprechen formulieren, dessen Einhaltung sie gar nicht wollen. Denn es geht ihnen nicht um die Rechte jedes Einzelnen, sondern um die Rechte eines bestimmten, durch „Rasse“ und Abstammung gebildeten Kollektivs, wie die Politik der Populisten von Trump bis Erdogan zeigt. Die Tatsache, dass deren Parolen dennoch verfangen, zeigt, wie groß das Bedürfnis vieler Menschen ist, sich des Eigenen nach dem Prinzip des „Wir gegen Die“ zu versichern.

Ich möchte 70 Jahre nach dem Inkrafttreten unseres Grundgesetzes leidenschaftlich für das Wahrnehmen der Freiheitsrechte werben und das Bewusstsein dafür schärfen, dass jeder seinen Beitrag für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft leisten muss. Freiheitsrechte zu leben, heißt nicht, dem Egoismus, Hedonismus und dem Recht des Stärkeren das Wort zu reden. Ich will deutlich machen, dass weniger Rechte für die Fremden nicht mehr Sicherheit für die anderen bringen. Ich möchte der Orientierungslosigkeit, der Enttäuschung, den Ängsten und dem Frust vieler Menschen entgegenwirken. Mir geht es darum, zu zeigen, dass eine glaubhafte, starke und identitätsstiftende Orientierung an den Grundrechten sicheren Rückhalt gewähren kann. Die Freiheitsrechte zu leben, heißt aber auch, um die Verantwortung zu wissen, die für jeden Menschen daraus erwächst – für sich selbst und für andere. Den Leserinnen und Lesern dieses Buches möchte ich Mut zu einem selbstbestimmten Leben machen. Die Grundrechte werden einfach, verständlich und konkret dargestellt, ihre immense Bedeutung für unser Leben anhand von Beispielen erläutert.

Es gilt, die Zustimmung und das Engagement für diese Freiheitsrechte zurückzuerobern. Das war auch die Erwartung der Mütter und Väter des Grundgesetzes, die damit die Grundlagen für den Neuanfang des demokratischen Lebens in Deutschland schaffen wollten. Nehmen wir ihren Auftrag heute so ernst wie vor 70 Jahren. Lassen wir uns nicht von Angst treiben. Angst zerstört Lebensfreude. Angst verstellt den Blick für Chancen. Angst macht uns zu Getriebenen. Angst essen Freiheit auf.

Angst essen Freiheit auf

Подняться наверх