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Dajana

Heike Wulf

Scheiße, ist das tief!

Wie bin ich nur auf die bescheuerte Idee gekommen hier runter zu springen, um dann zermatscht auf dem Bahnhofsvorplatz zu landen; zwischen der ganzen Taubenscheiße.

Dajana nimmt noch einen Schluck des billigen Rotweins.

Die Aussicht von hier ist schön. Überall die erleuchteten Fenster und all die Sterne.

Letztens, an einem Sonntag, hatte sie das Planetarium besucht. Das Thema des Vortrags war: „Großer Bär und gefiederte Schlange“. Es war echt cool gewesen mit diesen ganzen Sternbildern.

Welche erkennt sie heute noch wieder? Sie legt sich hin, stopft ihre Tasche unter den Kopf und schaut in den Himmel. Sie findet den kleinen Wagen und den großen. Das weiß sie noch, der ist im Bären.

Es ist Sommer, es ist mild. Nur hier oben geht ein kühler Wind. Eine Brise, die sie spüren lässt, dass sie lebt und, dass ein Teil von ihr weiter leben will. Trotz allem.

Der andere Teil aber verlangt: „Spring! Nun spring endlich, dein Leben hat keinen Wert. Niemand will dich. Du bist ein Nichts. Eine Hure, die ihren Körper verkauft und Schwänze lutscht.“

Sie denkt an ihre Fahrt zurück in die vermeintliche Heimat Rumänien. Der verächtliche Blick des Vaters, als sie ins Zimmer trat. Seine Antwort auf ihr Flehen, bleiben zu dürfen, weil sie krank sei.

„Hau ab! Geh mir aus den Augen. Du bist eine Schande.“

Widerstand gegen den Vater hatte es früher nie gegeben. Aber diese Welt gab es nicht mehr, und sie schrie ihn an: „Du warst es doch, der mich nach Deutschland geschickt hat. Du hast mich an deinen Bruder verschachert. Für euch hab ich das verdammte Geld verdient.“

Statt einer Antwort bekam Dajana die Faust zu spüren. Zuerst ins Gesicht, dann in den Magen. Danach hatte er das Zimmer verlassen. Ihre Mutter stand mit auf den Boden gerichtetem Blick in der Ecke.

„Mama“, hatte sie gesagt. Aber ihre Mutter schaute weiter auf den Boden. Ganz so, als existiere sie nicht.

Und da wusste sie: Hier bekam sie keine Hilfe.

Niemand würde sie in den Arm nehmen und trösten und ihr sagen, dass alles gut werden würde.

Ihr Vater war mit ihrem Bruder zurückgekommen. Ihrem kleinen Bruder Doran, um den sie sich immer gekümmert und den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Sie wollte ihn umarmen, aber ihr Vater stieß sie weg.

„Bring sie dahin, wo sie hingehört!“

Doran zögerte nicht einen Moment und zerrte sie zum Wagen. Schubste sie hinein, setzte sich selbst und startete den Motor.

„Bitte, Doran. Bitte, hilf mir! Ich will nicht zurück. Ich kann das nicht mehr.“

Aber er hatte sie angesehen, als wäre sie ein verwestes Stück Fleisch und kein Wort war über seine Lippen gekommen.

Da schwieg auch sie.

Sie wusste nicht, wer von ihnen ihr am meisten wehgetan hatte. Auf halber Strecke nach Deutschland übernahm ihr Onkel sie.

Genau wie damals.

Wenn sie daran zurückdachte!

Wie glücklich sie zuerst gewesen war, wie sehr sie sich darauf gefreut hatte nach Deutschland zu kommen. Sie war 14 Jahre alt gewesen, wollte sich chic anzuziehen und in die Disko zu gehen. Vielleicht einen netten deutschen Mann kennenlernen, heiraten, die Familie nachholen. Ach, was hatte sie sich damals alles ausgemalt.

Angekommen in Deutschland sperrte ihr Onkel sie in ein Zimmer und ließ die Männer rein. Einen nach dem anderen. Einen nach dem anderen. Als sie nicht aufhörte zu schreien, flösste er ihr Drogen ein, die sie benommen machten und wehrlos. Sie bekam etwas zu essen ins Zimmer gestellt, wusch sich an dem kleinen Waschbecken, und wenn sie zur Toilette musste, ging ihr Onkel mit.

Immer, wenn ihm danach war, vergewaltigte auch er sie.

In die Disko kam sie nie.

So vergingen Monate und Jahre.

Irgendwann hatte sie sich mit allem abgefunden. Später schickte der Onkel sie auf den Straßenstrich. Einmal war sie abgehauen, untergetaucht bei einer befreundeten Nutte.

Aber ihr Onkel fand sie schnell, schlug sie zusammen und drohte ihr, sie umzubringen, wenn sie das noch mal versuchen würde. Damals hatte sie noch Angst.

Heute nicht mehr. Sie steht auf und geht wieder zur Dachkante des Hochhauses. Sieht hinab. Aber nein. Nicht so! Nicht so …!

Sie nimmt noch einen Schluck aus der Weinflasche, öffnet die schwere Metalltür und geht wieder hinunter.

Dann wird sie von der Großstadt verschluckt. Viele Menschen sind noch am Bahnhof. Rennen in alle möglichen Richtungen. Haben Ziele.

Sie geht in die Nordstadt. In eine Kneipe. Jeder kennt sie hier.

„Hi. Lang nicht gesehen. Warst wohl zu beschäftigt?“ Dreckiges Männerlachen macht die Runde.

Mit einem Bier in der Hand geht sie vor die Tür und setzt sich auf die Mauer vor dem Fenster. Jemand setzt sich zu ihr. „Na, Süße. Heut schon was vor?“

„Verpiss dich!“

Später kommt er noch mal wieder.

„Haste Scheiße in Ohr. Hau ab.“

Sie geht rein und kauft ein zweites Bier. Als sie raus kommt, ist er weg.

Wie würde es weitergehen?

Es gab kein weiter.

Krank war sie nichts wert. Mit Präser wollte doch keiner. Obwohl: Man sah sie ja nicht, diese Scheiße in ihrem Blut.

Nach etlichen Fieberanfällen, ständigem Durchfall und Hautausschlägen hatte ihr Onkel sie endlich zu einer Ärztin gebracht.

„Aids im akuten Stadium. Aber, das muss kein Todesurteil sein“, hatte sie gesagt. Kein Todesurteil. Was sonst? Sie hatte es doch bei Alicia mitgekriegt. Die Schmerzen, die Angst. Am Ende der ausgemergelte Körper, die nicht nachlassende Übelkeit.

Was soll sie machen, wenn sie ihren Körper nicht mehr anbieten kann? Wahrscheinlich würde ihr Onkel sie umbringen und verscharren, wenn er davon erführe. Sie würde ihm nichts sagen. Murmelte immer was von Allergie und Magen-Darm, wenn er fragte.

Sie wollte es selbst beenden.

Aber wie? Wie soll sie es anstellen? Vor einen Zug?

Nein. Das schaffte sie nicht. Mit einem Messer? Sie konnte kein Blut sehen.

Tabletten! Tabletten hörten sich gut an. Keine Schmerzen, kein Blut. Vielleicht gibt es noch einen guten Kick vorher. Sie kichert unsinnig. Der Typ von vorhin kommt wieder. Setzt sich erneut neben sie. Lächelt sie an. Sie lächelt zurück.

„Was du meinst über, dich mit Tablette umbringen?“

„Bloß nicht! Ein Kumpel von mir hat es versucht, und der ist gefunden worden und jetzt inner Klapse. Auf immer und ewig.“

„Was du meinst? Wie am besten?“

„Schwierig.“

Dajana nickt.

„Hochhaus“, schlägt er vor.

Sie wirft ihm einen verächtlichen Blick zu. „Und dann du liegst matschig zwischen Taubenschiss? Nee!“

„Stimmt!“, sagt er und fügt sichtlich stolz hinzu: „Vergiften! Was hältst du vom Vergiften?“

„Sehr gut! Man muss nur wissen, was wirkt. Ich frage Leute! Vergiften! Gute Idee! Darauf wir trinken. Ich holen Bier.“

Sie geht hinein, bestellt zwei Bier. Läuft schnell zur Toilette, löst ihren dichten schwarzen Zopf, schaut sich in die tiefbraunen Augen, zwinkert sich zu!

Dann zieht sie ihren Lippenstift nach und geht mit zwei Bier in der Hand wieder raus.

Sie hält ihm eins hin.

„Warum willst du das wissen? Willste dich umbringen?“ fragt er jetzt.

„Du nicht fragen.“

„OK, na ja, dann Prost. Auf das Vergiften.“

Nach dem fünften Bier kommt Schnaps. Danach ziehen beide durch die Nordstadtkneipen. Fast wie Freunde. Oder Verliebte. Sie lachen, unterhalten sich. Halten Händchen.

Als sie die letzte Kneipe nach Stunden verlassen, ist es schon länger hell. Die ersten gehen zur Arbeit, zur Schule oder zum Einkaufen.

Es ist ein schöner Morgen. Dajana hat für einen Moment vergessen, wer sie ist und was sie macht. Was war und was morgen sein wird.

Er lacht sie an und legt den Arm um sie. Sie lehnt sich an ihn, schließt die Augen und genießt den Augenblick.

„Sollen wir zu mir?“

Unsicher sieht sie zu ihm hoch.

„Zier dich nicht! Ich weiß, du bist ’ne Nutte, aber vielleicht machst du es auch mal so?“

Sie starrt ihn an. Kann nicht glauben, was sie gerade gehört hat. Reißt sich aus seinen Armen und rennt weg. Rennt und rennt, bis sie außer Atem ist und nicht mehr kann. Und schließlich heult sie.

Sie entdeckt einen Kiosk. Klingelt.

LKWs brausen hinter ihr her.

„Was darf’s sein?“

„Korn.“

Neben ihr stehen zwei Mädchen. Chic angezogen, gestylt und von einer Wolke Parfüm umgeben.

Sie mustern Dajana von oben bis unten. Stecken ihre Köpfe zusammen und kichern.

Dann sagt die eine: „Was ziehst du heute Abend in der Disko an?

„Ich hab gedacht, das grüne Teil, das ich mir gestern gekauft habe.“

Dajana bezahlt und dreht sich um. Die beiden Mädchen stehen im Weg. Sie stößt sie zur Seite.

„Hey, was soll das?“, keift die Blonde.

„Scheiß, Blondie, halts Maul“, schreit Dajana und schubst sie gegen die Scheibe.

„Scheiß, Schlampe“, brüllt diese jetzt, geht auf Dajana zu und stößt sie mit beiden Händen.

Dajana strauchelt.

Sieht aus den Augenwinkeln einen LKW näher kommen.

Und lässt sich endlich fallen.


Bloody Marys - das Leben birgt ein tödliches Risiko

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