Читать книгу Die Wälder von NanGaia - Sabine Roth - Страница 4

Falsches Spiel

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Bill Hunter sah Nantais reglose Gestalt am Boden liegen. Doch erst, als er neben dem Freund niederkniete, entdeckte er die zahlreichen Wunden auf dessen Oberkörper. Sie sprachen eine deutliche Sprache.

Auch Nantai hatte sich dem Sühneritual unterzogen...

Bill runzelte die Stirn.

Warum verlangten sie das Ritual auch von ihm? Ich hatte doch bereits für ihn gesühnt… Und wie hatten sie Nantai zu diesem unsäglichen Schwur erpresst? Freiwillig hat er sich ihnen bestimmt nicht ausgeliefert... Aber Nantai schlief einen tiefen Schlaf und konnte nicht antworten. Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob sich Bill und wandte sich den Schamanen zu, die wie zwei Statuen in der Mitte der Hütte hockten und ihn mit unbewegten Mienen anblickten. Warum hatten sie ihn gerufen? Hatte er seinen Teil der Abmachung nicht bereits erfüllt? Hatten sie nicht sogar mehr erreicht, als sie jemals hatten hoffen können? Nantai war ihnen vollkommen ausgeliefert - was wollten sie mehr? „Setz dich, Bill Hunter. Wir haben mit dir zu reden!“ befahl der Ältere, und Bill gehorchte. Lange Zeit waren das verzweifelte Summen einer verirrten Hummel auf der Suche nach einem Weg ins Freie, und die gedämpften Stimmen der Dorfbewohner draußen die einzigen Geräusche in der Hütte. Wild entschlossen, das Schweigen nicht als Erster zu beenden, hielt Bill den bohrenden Blicken der Schamanen stand, und rührte sich nicht. Sie waren es, die ihn gerufen hatten. Sie sollten den ersten Schritt tun. Schließlich ergriff der ältere der beiden Männer das Wort. „Leider wollte dein junger Freund dein vermeintliches Opfer nicht annehmen“, verkündete er mit unüberhörbarem Triumph in der Stimme. „Und weil er glaubte, er könne nur dadurch dein Leben retten, schwor er uns auch noch vollkommene Unterwerfung!“ „Ich weiß, dass mein junger Freund zu überraschenden Handlungen neigt“ Bill runzelte die Stirn. „… dennoch verstehe ich nicht, was du mir sagen willst.“ „Der Waldbewohner handelte keineswegs überraschend… zumindest nicht für uns“ stellte der Schamane richtig. „Vielmehr handelte er so, wie wir es uns erhofften.“ Ein zufriedener Ausdruck erschien auf dem Gesicht des normalerweise so finsteren Mannes. „Nicht zuletzt dank deiner Hilfe wird der Schatten nun endlich bekommen, was ihm zusteht, Bill Hunter! Zum ersten Mal hast du gehandelt, wie es einem Schattendiener entspricht.“ Bill begriff lediglich, dass Nantai den verhängnisvollen Schwur allein seinetwegen geleistet hatte. „Ich verstehe nicht, warum er sich euch auf diese Weise ausliefern musste“ erklärte er verwirrt. „Ich hatte sein Vertrauen doch bereits erlangt und hätte ihn mit Sicherheit überzeugt, dass er euch als Lehrmeister annimmt. Mehr wolltet ihr doch nicht errei…“ „Du weißt nichts von der Gabe dieses Waldbewohners, Bill Hunter!“ unterbrach ihn der Schamane, und seine Augen glühten wie von einem inneren Feuer erhellt. „Ihre Macht ist viel zu groß, um sie einem gewöhnlichen Sterblichen wie ihm zu überlassen! Eine solche Macht gehört in erfahrene und mächtige Hände, sie gehört in unsere Hände. Doch selbst wir können nur dann über sie verfügen, wenn ihr Träger dies zulässt. Und deshalb war sein Schwur so wichtig. Nur wenn er sich unserem Willen vollkommen beugt, wird auch seine Gabe dies tun - und nur dann wird er lange genug am Leben bleiben, um seine Bestimmung zu erfüllen. Ohne dein Zutun, Bill Hunter, hätten wir andere Wege finden müssen, den Gabenträger zu unterwerfen. Ohne dein Zutun wäre dieses Vorhaben um vieles schwerer gewesen. Doch nachdem du sein Vertrauen gewonnen hattest, und er dich als Freund sah, zögerte er nicht, sich uns auszuliefern, um dein Leben zu retten.“ Sie hatten ihn nur benutzt! Bill fühlte heiße Wut in sich aufsteigen. „Das wollte ich nicht!“ stieß er zornentbrannt hervor. „Ich bezahlte für seinen Frevel nur, weil ich die Schuld an seinem Tod nicht tragen wollte, schließlich war ich es, der euch rief, nur deshalb wurde er Zeuge des Rituals. Ich wollte nie..." „Glaubtest du tatsächlich, wir würden ihn töten?“ fiel ihm der Schamane kühl ins Wort, „...ihn, den Gabenträger, nach dem Generationen von Schattendienern zuvor vergeblich suchten?“ „Als ich anbot, an seiner Stelle zu sühnen, erwähntet ihr mit keinem Wort, dass ihr ihn trotz seines Frevels am Leben lasst“ erklärte Bill vorwurfsvoll. „Weil du diesen Fluch sonst nicht auf dich genommen hättest, Bill Hunter! Denn wir erhofften uns, was tatsächlich geschah: dass er angesichts deiner Qualen glaubte, du lägest im Sterben, und uns Gehorsam schwor, als wir sagten, du würdest leben, wenn er sich in unsere Hände begibt...“ Der Anflug eines Lächelns umspielte für Augenblicke die Lippen des dunklen Mannes. „Wir verschwiegen ihm lediglich, dass du auch dann am Leben bleibst, wenn er es nicht tut… Er wusste ja nicht, dass Schattendiener einander nicht töten... wusste nicht, wem er seine Freundschaft schenkte...“ Erneut zeigte sich ein Lächeln im Gesicht des Schamanen. Allerdings kein freundliches. „Ein weiterer Beweis, wie töricht menschliche Gefühle sind, und wie sehr sie den Verstand lähmen. Hättest du nämlich deinen Verstand benutzt, Bill Hunter, dann hättest du erkannt, dass wir den Gabenträger trotz seines Frevels nicht töten werden, weil er uns nur lebend von Nutzen ist. Und hätte sich der Waldbewohner nicht von seiner Sympathie für dich leiten lassen, hätte er mit Sicherheit erkannt, dass du sein Opfer gar nicht wert bist.“ Die Stimme des Mannes wurde eisig. „Du solltest ihn über deine wahren Beweggründe aufklären, ehe es dafür zu spät ist.“ Nur mühsam wahrte Bill die Beherrschung. „Als ich euch bat, ihn zu lehren, glaubte ich, ihr würdet ihm die Entscheidung überlassen, wozu er seine Fähigkeiten nutzt“ zischte er. „Ihr habt mich von Beginn an über eure wahren Absichten getäuscht!“ „Nicht von Beginn an“ widersprach der Schamane gelassen. „Bis zum Sühneritual entsprach alles unseren Vereinbarungen: Du brachtest den Gabenträger in die Wälder, und du bemühtest dich um sein Vertrauen, damit er auch uns vertraut und freiwillig mit uns geht." Ein grausamer Unterton mischte sich in die Stimme des Schattendieners „Allerdings hatten wir zu keiner Zeit vor, ihn um seiner selbst willen den Umgang mit seiner Gabe zu lehren. Unser Bestreben war von Beginn an, dass er sie in den Dienst des Schatten stellt. Aber die Gier unseres Herrn, und sein Hunger nach Leben werden mit jedem Tag größer. Aus diesem Grund nahmen wir den Frevel des Waldbewohners zum Anlass, unsere Pläne zu ändern. Wir ließen dich an seiner Statt büßen, um seinen Schwur zu erpressen. Nun können wir den Hunger unseres Herrn rascher stillen, als wir jemals zu hoffen wagten!“ „Ihr hättet mich in eure Pläne einweihen müssen!“ Bills Stimme zitterte vor Empörung. Wie konnten sie… „Es gibt nur einen, dem wir Rechenschaft schulden, Bill Hunter!!“ Die Stimme des Schamanen wurde schneidend. „Und leider vergisst du allzu rasch, dass auch du diesem Herrn verpflichtet bist.“ Mit zusammengepressten Lippen starrte Bill Hunter ihn an. Und schwieg. „Deine Gabe ist nicht für dich bestimmt, Bill“ hatte die Großmutter immer wieder gemahnt. „Sie gehört dem Schatten.“ „Wenn du dich dem Schatten verweigerst, ziehst du seinen Zorn auf dich“ hatte der Lehrmeister gewarnt. Beide hatten dem Schattenwesen gedient, wenn auch auf eine andere Weise als die dunklen Schamanen. Doch beide hatten vergeblich versucht, auch ihn auf diesen Weg zu führen. Er wollte sein Leben in Megalaia verbringen. Weit entfernt von den Wäldern - und vom Schatten. „Nennt mir einen einzigen guten Grund, warum ich diesem Schattenwesen dienen sollte“ hatte er sich gewehrt, „einem fast vergessenen, und zugleich so schrecklichen Geistwesen, dass allein sein Name genügt, um Grauen unter den Waldbewohnern auszulösen.“ Damit hatte er sie in große Verlegenheit gebracht. Weder Großmutter noch Lehrmeister gehörten zu den wenigen, die Zugang zum Schatten besaßen. Ihre Hinwendung beruhte allein auf der instinktiven Gewissheit, dass seine Existenz von großer Bedeutung war. Es gab nichts, womit sie Bill hätten überzeugen können. Traurig und enttäuscht hatten sie am Ende hingenommen, dass er nach Megalaia zurückkehrte, in das Leben, das er leben wollte. Zu der Frau, die er liebte. Selbst nach dem Scheitern dieser Liebe war er dort geblieben, zu sehr Stadtmensch geworden, um sein Leben in den Wäldern zu verbringen, oder es gar in den Dienst des verhassten Schatten zu stellen. Bis die Begegnung mit Nantai nicht nur das Leben des jungen Waldbewohners auf den Kopf gestellt hatte, sondern auch sein eigenes. Bereits nach dem ersten Verhör hatte er gewusst, dass der junge Mann der Gabenträger war, nach dem die Schattendiener seit langem suchten... Er hätte Nantai zu ihnen bringen müssen… und hatte ihn stattdessen gehen lassen. Aus Gründen, die er bis heute nicht begriff. Vielleicht, weil die Liebe zwischen Nantai und Doro ihn an die eigene erinnert hatte? Damit das Glück der beiden nicht zerstören wurde, wie seines damals? Vielleicht hatten ihn auch nur seine abgrundtiefe Abneigung gegen den Schatten geleitet...und die Furcht vor dem Sühneritual, das ihm bei einer Begegnung mit den Schattendienern drohte… Aber die Macht des Schatten war größer als er wusste. Obwohl vom Schwinden bedroht, und viele hundert Meilen entfernt, hatte das Geistwesen das Erwachen der Gabe ebenso gespürt wie den Widerstand seines unbotmäßigen Dieners. Noch in derselben Nacht hatte Bill zum ersten Mal geträumt. Von Finsternis, die ihn erstickte. Von grausamen Stimmen, die nach Nantais Gabe riefen, und von unsichtbaren Händen. die ihn packten. Ihm die Lebenskraft entzogen. Er hatte sich schreien hören vor Angst und vor Grauen, während das Leben aus ihm wich. Entsetzlich langsam, und dennoch mit grausiger Endgültigkeit. War mitten in der Nacht aufgewacht, schweißgebadet, und am ganzen Leibe zitternd, und hatte keine Minute mehr geschlafen. Und der Traum war wiedergekehrt. Jede Nacht. War mit jeder Nacht drängender geworden. Bis er ihn nicht mehr ertragen, und sich dem Willen des Schatten gebeugt hatte. Bis er entschieden hatte, Nantai in die Wälder zu bringen. Zu den dunklen Dienern eines dunklen Herrn. Danach hatte er nicht mehr geträumt. So viele Jahre lang hatte er sich dem Schatten erfolgreich entzogen...am Ende vergeblich. Er senkte den Kopf. Fühlte bitteren Geschmack im Mund. Denn er hatte Nantai nicht nur in die Wälder gebracht, sondern obendrein dafür gesorgt, dass der junge Waldbewohner sich den Schattendienern ausgeliefert hatte... Ich könnte wahrlich stolz auf mich sein! Ich habe meine Pflicht endlich erfüllt... und sogar mehr als nur das! Aber seine Miene zeigte keinen Stolz. Sie zeigte Scham. „Das Schicksal des Waldbewohners scheint dir nicht gleichgültig zu sein, Bill Hunter!“ Überrascht vom Mitgefühl in der Stimme des jungen Schamanen hob Bill den Blick. „Vielleicht mag es dir Trost sein, dass dieser Schwur auch für ihn selbst von Vorteil ist“ fügte der Schamane hinzu, „weil wir seinen Willen nun nicht mehr gewaltsam brechen müssen. Du brauchst dir keine Vorwürfe…“ „… und du, mein junger Freund“ fiel der ältere Schamane dem Gefährten ungehalten ins Wort, „solltest ebenso wenig wie Bill Hunter vergessen, dass das Schicksal dieses Waldbewohners für uns ohne jeden Belang ist. Für uns zählt allein der Nutzen, den er für den Schatten besitzt.“ Für einen Augenblick vergaß Bill, wer ihm gegenüber saß. „Ich kann nicht fassen, was du sagst!“ Empört sprang er auf. „Willst du Nantai etwa das Recht auf sein Leben absprechen? Ist er für dich nur ein Werkzeug, das du wegwirfst, wenn du es nicht mehr brauchst? Siehst du nicht, dass er ein besseres Schicksal verdient als jenes, welches ihr ihm zuweist? Wer bist du, dass dir ein Gefühl wie Mitleid so fremd geworden ist?“ Aber sein Ausbruch hatte lediglich zur Folge, dass der Schamane ihn ansah, als sei er ein kläffender Straßenköter. Und fast augenblicklich wich Bills Zorn der ernüchternden Feststellung, dass er sich in den Augen des Schattendieners auch benahm wie ein solcher. Dieser Mann lebte in einer Welt, in der Gefühle keine Bedeutung mehr hatten. Für ihn zählte allein, was seinem Herrn diente, selbst wenn es die Zerstörung eines Menschenlebens bedeutete. Schwer atmend setzte er sich wieder. Es hatte keinen Sinn, wenn er die beiden gegen sich aufbrachte. Auf diese Weise würde er nichts über ihre Pläne erfahren - und damit jede Möglichkeit verlieren, auf Nantais Schicksal Einfluss zu nehmen. „Verzeiht meinen Zorn!“ bat er. Und konnte dennoch nicht verhindern, dass seine Stimme weit weniger demütig klang, als es den Worten entsprach. Doch zu seiner Überraschung gaben sie sich mit der eher halbherzigen Entschuldigung zufrieden. „Wir sehen mit Genugtuung, dass dein Respekt groß genug ist, um deinen Zorn auf uns zu überwinden.“ Der Jüngere war sichtlich bemüht, die Situation zu entschärfen. „Aber selbst dein Zorn sollte dich nicht vergessen lassen, dass auch uns keine Wahl bleibt. Der Schatten braucht die Kräfte dieses Waldbewohners. Alles andere darf für uns nicht zählen. Auch die Folgen für den Gabenträger nicht - und das weißt du.“ Bill begriff mit Schaudern, dass es für Nantai nur wenig Hoffnung gab. Selbst das offensichtliche Bedauern in der Stimme des jungen Schamanen würde daran nichts ändern. Aus ihrer Sicht betrachtet, taten die dunklen Männer nur, was sie tun mussten. Nicht mehr, und nicht weniger. Er seufzte resigniert. Niemand würde sie aufhalten - und am allerwenigsten er. Für sie war er von Beginn an nur Mittel zum Zweck gewesen. Niemand, den sie ernst nahmen… Trotzdem gab er nicht auf. Noch nicht. „Werdet ihr Nantai mit euch nehmen, sobald er wieder erwacht?“ Dieses Mal antwortete der Ältere. „Wir müssen einige Vorbereitungen treffen, ehe wir ihn zum Schatten bringen - und solange wird er hier bleiben. Sage ihm jedoch, dass er die Siedlung in dieser Zeit auf keinen Fall verlassen darf, und sei es noch so kurz. Wir werden sofort nach unserer Wiederkehr mit ihm aufbrechen!“ Bill setzte zur nächsten Frage an. „Und wann…“ Der Schamane unterbrach ihn barsch. „Wir kennen den Zeitpunkt unserer Rückkehr nicht. Er muss sich jederzeit bereithalten.“ „Was ist mit mir? Darf ich das Dorf verlassen?“ „Unsere Anweisungen gelten nur für ihn. Mit dir haben wir keine weiteren Pläne mehr, Bill Hunter. Deine Aufgabe ist erfüllt.“ Der Schamane erhob sich. Das Gespräch war beendet. „Was geschieht, wenn Nantai dem Schatten begegnet?“ Eher Bitte als Frage, war dies ein letzter Versuch Bills, ihnen noch etwas mehr zu entlocken. Sie waren ungewohnt offen gewesen, hatten all seine Fragen beantwortet... vielleicht würden sie es wider Erwarten noch einmal tun. Aber jetzt schwiegen sie. Ohne zu reagieren, als hätten sie ihn gar nicht gehört, wandten sie sich um, und verließen grußlos die Hütte. Mit düsterer Miene starrte er ihnen hinterher - bis ein lang anhaltendes Stöhnen seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Nantais Weg zurück aus der Dunkelheit begann. Achak und Pohawe hatten vor der Hütte gewartet. Ungeduldig, und voller Bangen. Darauf, dass jemand ihr Heim verließ - Bill Hunter, einer der Schamanen - vielleicht sogar Nantai? Oder, dass man sie nach drinnen rief, zu ihrem Sohn. Nur, dass die schreckliche Ungewissheit endlich endete. Und während sie warteten, sprachen sie erneut über den Mann, den Nantai seinen Freund nannte. Fragten sich erneut, warum die Schamanen Bill Hunter zu sich gerufen hatten, und warum sein Verhältnis zu den dunklen Männern um so vieles vertrauter schien, als es sein durfte. Was verband Bill Hunter mit den beiden? Hatte er am Ende mehr mit dem Schicksal ihres Sohnes zu tun als sie ahnten? Doch als die Schamanen die Hütte schließlich verließen - allein - verlor Bill Hunter jede Bedeutung. Wo war Nantai? Augenblicke später schob Pohawe den Vorhang zur Seite und spähte angstvoll ins Innere. Sie sah Bill Hunter auf dem Boden kauern. Er war über eine reglose Gestalt gebeugt. „Nantai!!“ Mit einem Aufschrei stürzte sie zu ihrem Sohn und sank neben ihm auf die Knie. „Keine Sorge, es geht ihm gut. Die Schamanen gaben ihm lediglich ein Mittel, das ihn tief schlafen ließ“ versuchte Bill Hunter, sie zu beruhigen. „Aber er wird schon bald wieder bei uns sein.“ Ging es Nantai wirklich gut? Besorgt musterte sie den Schlafenden, sein so friedlich wirkendes Gesicht, den von dunklen Striemen übersäten Oberkörper. Doch zu Bills Erstaunen ging sie mit keinem Wort auf diese Wunden ein, fragte nicht nach deren Ursprung. Und auch Achak schwieg, als er seinen Sohn sorgenvoll betrachtete. Bill erhob sich, um ihnen Platz zu machen. „Weißt du, warum Nantai noch hier ist, Bill Hunter?“ Pohawe sah flehend zu ihm hoch. „Haben die Schamanen ihre Pläne mit ihm geändert? Darf er bleiben?“ Ihr Misstrauen gegenüber dem Freund des Sohnes war nicht geringer geworden. Aber im Augenblick war er der einzige, der ihre drängenden Fragen beantworten konnte. Der Polizist schüttelte bedauernd den Kopf. „Nein, er wird nicht bleiben, Pohawe. Sie werden wiederkehren und seinen Schwur einfordern.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Und wann wird das geschehen?“ „Das sagten sie nicht.“ Sie wandte den Kopf zur Seite und verbarg das Gesicht in den Händen, kämpfte um ihre Fassung. Für einen winzigen Moment nur hatte sie wieder Hoffnung gehabt. „Warum tun sie ihm das nur an?“ flüsterte sie mit erstickter Stimme. „Warum stehlen sie sein Leben. Bill Hunter?“ Sie hob den Kopf und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, in denen sich ihr ganzes Leid wiederspiegelte. Aber auch die stumme Frage nach seiner Schuld. „Ich glaube nicht, dass sie ihn töten werden“ erwiderte er, unangenehm berührt. „Dein Sohn nutzt ihnen nur, solange er am Leben ist.“ Sekunden verrannen, ohne dass ein Wort fiel. „Du verstehst nicht, Bill Hunter“ erwiderte Pohawe endlich. So leise, dass er sie kaum verstand. „Diese Schamanen haben kein Herz, das Schicksal meines Sohnes bedeutet ihnen nichts. Selbst wenn sie ihn nicht töten, werden sie sein Leben zerstören. Vielleicht ist, was ihm bevorsteht, sogar noch schlimmer als der Tod.“ Niemand wusste besser als Bill, wie Recht sie hatte - und deshalb fand er keine Worte, die ihr hätten Trost sein können. Betreten blickte er zu Boden und hoffte, dass sie seine Hilflosigkeit nicht bemerkte. Im selben Augenblick begann sich Nantai zu regen. Kehrte langsam und mit leisem Stöhnen wieder ins Leben zurück. Und Pohawe verdrängte die quälenden Sorgen. Noch war Nantai hier, noch war Hoffnung. Noch konnte sie etwas für ihn tun. Er brauchte sie jetzt. Vielleicht sogar mehr als jemals zuvor. Liebevoll strich sie über sein Gesicht. Immer wieder. Wandte den Blick nicht mehr von ihm, während sie darauf wartete, dass er das Bewusstsein wieder erlangte. Nantai spürte dumpfen Schmerz in seinem Oberkörper pulsieren. Und die sanfte Berührung von Händen auf seinem Gesicht... träumte er? War Doro bei ihm? Er öffnete die Augen. Aber es war nicht Doro, die ihn mit Tränen in den Augen ansah, sondern Pohawe. Neben ihr hockte Achak und betrachtete ihn nicht weniger besorgt. Vorsichtig richtete Nantai sich auf. „Wo sind die Schamanen?“ „Sie gewähren dir eine kleine Erholungspause, bevor sie dich abholen“ hörte er eine wohl bekannte Stimme sagen. Dann trat Bill Hunter aus dem Dunkel hinter den Eltern hervor. Lebendiger denn je, und mit dem wohl vertrauten Grinsen. Aber mit einem Ausdruck von Trauer in den Augen, der Nantai zutiefst verstörte. „Hast du mit ihnen gesprochen, Bill? Sagten sie etwas über ihre Pläne mit mir?“ fragte er verwirrt, und ohne zu bemerken, dass auch er zum vertraulichen „Du“ überging. Bill wich aus. „Darüber reden wir später. Ich werde dich jetzt nämlich deinen Eltern überlassen. Sie haben ältere Rechte auf dich und werden froh sein, dich ein wenig für sich alleine zu haben.“ Mit diesen Worten verließ er die Hütte. So eilig, als fürchte er, jemand werde ihn daran hindern. Achak blickte ihm mit gerunzelter Stirn hinterher. „Verhält sich dein Freund häufiger so seltsam, Nantai? Mir scheint fast, als flüchte er vor dir.“ „Bill ist tatsächlich oft schwer zu durchschauen, Vater.“ Nantai lächelte. „Aber auf keinen Fall ist er jemand, der rasch die Flucht ergreift - und am allerwenigsten vor mir.“ Auch Pohawe hätte mit Nantai jetzt nur allzu gern über seinen seltsamen Freund geredet. Über ihr wachsendes Misstrauen gegen Bill Hunter. Darüber, dass sie sich mit Achak mittlerweile einig war, dass er Wichtiges verschwieg. Aber Nantais Verletzungen zeugten viel zu deutlich von den Strapazen, die er erlitten hatte. Sie durfte ihn nicht damit belasten. Nicht jetzt. Dafür würden sich bessere Gelegenheiten finden. Sie schloss ihn in die Arme, sehr vorsichtig, wegen der Verletzungen. „Ich bin so froh, dass du hier bist...“ Strich ihm sanft über Gesicht und Haare, wie vorhin, als er geschlafen hatte. „Gestern glaubte ich, ich würde dich für sehr lange Zeit nicht mehr wieder sehen.“ Verlegen lächelnd ließ er diese Liebkosungen über sich ergehen. Doch so ungewohnt sie auch waren. Sie taten ihm wohl.

Die Wälder von NanGaia

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