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Der Zauber (Nantais Entscheidung)
ОглавлениеBald schien es Nantai, als sei er nie fort gewesen. Seine Sorge, nach der langen Abwesenheit ein Fremder geworden zu sein, verging so rasch wie die Neugier der Stammesgenossen, die bald genug von der Stadt gehört hatten und wieder in ihren Alltag zurückkehrten.
Zu Nantais Verblüffung hatte jedoch niemand nach der Gabe gefragt, die ihn damals in die Fremde getrieben hatte. Niemand - bis auf den Bruder, der ihn am Morgen nach Bill Hunters Weggang erneut an sein gegebenes Wort erinnerte. „Du hast versprochen, mir von deiner Gabe zu erzählen, Nantai! Und du hast es immer noch nicht getan!“
In seiner Not griff er zu einer Lüge. „Das liegt daran, dass ich ihre Art immer noch nicht kenne. Die Geistwesen sandten mich nämlich nur deshalb nach Megalaia, um zu prüfen, ob ich meiner Gabe überhaupt würdig bin.“
„Warum hast du das nicht gleich gesagt?“ fragte der Bruder sichtlich enttäuscht.
„Weil ich das erst weiß, seitdem die Geistwesen mir gestern Nacht eine Traumbotschaft sandten.“
Mit großen Augen starrte der Junge ihn an. „Du hast geträumt?“
„Ja.“
Zu seiner Erleichterung glaubte ihm der Bruder sofort. „Vater, Mutter!“ laut rufend rannte er zur elterlichen Hütte. „Nantai hat...“
Den Rest konnte Nantai nicht mehr verstehen... aber nur wenige Tage später wusste das ganze Dorf, dass sich seine Gabe noch immer vor ihm verbarg.
Dessen ungeachtet begegneten ihm die Dorfbewohner seit der Heimkehr mit demselben Respekt, den sie auch den Führern der Stämme entgegenbrachten. Allein sein Aufenthalt in der Stadt hatte genügt, ihm diese Achtung zu verschaffen. Schließlich hatte er viele Jahre in Megalaia gelebt, ohne sich zu verlieren und darüber hinaus bewiesen, dass ein Waldbewohner erfolgreich studieren konnte!
Sie sahen ihn mit anderen Augen als zuvor. Empfanden ihn als stärker, selbstbewusster, mächtiger. Und sahen ihn damit vollkommen anders, als er selbst sich fühlte.
All die Jahre in Megalaia hatte er so oft um seine Selbstachtung kämpfen müssen, war so oft unglücklich gewesen, dass er das Empfinden für die eigene Stärke nahezu eingebüßt hatte. Er fühlte sich weder stark, noch selbstbewusst oder gar mächtig, sondern schwach und zerrissen.
Zu vieles lastete auf seiner Seele.
Vor allem die Trennung von Doro, unter der er noch immer ungemein litt. Aber auch der Bruch mit Bill Hunter nagte an ihm. Wie sehr, begriff er, als eines Tages ein Besucher die Nachricht brachte, der Polizist habe das Dorf seiner Ahnen inzwischen verlassen und sei nach Megalaia zurückgekehrt.
Diese Neuigkeit traf ihn tief.
Bill war also ohne ein Wort der Erklärung und ohne den Versuch einer Rechtfertigung abgereist, wohl wissend, dass er sich nur seinetwegen den Schamanen ausgeliefert hatte...
Dann war der Polizist also tatsächlich so kalt und gefühllos, wie er bei der ersten Begegnung gewirkt hatte? Dann waren all die Beweise seiner Zuneigung und Freundschaft tatsächlich nichts als Schauspielerei gewesen?
Tief in seinem Innern hatte Nantai daran gezweifelt und auf Bills Rückkehr gehofft. Darauf, dass der Freund wiederkam und ihn um Versöhnung bat.
Nun jedoch erlosch der letzte Zweifel an Bills Verrat in ihm. Und damit auch der letzte Funken Hoffnung, sein Schicksal noch einmal zu wenden. Nun gab es niemanden mehr in den Wäldern, der ihm gegen die dunklen Schamanen beistand, niemanden mehr, der die beiden so gut kannte wie Bill.
Seine Gabe würde ihm keine Hilfe sein. Nach dem Zerwürfnis mit Bill war sie rasch schwächer geworden, und seit einigen Tagen spürte er sie gar nicht mehr...
Ein bitteres Lächeln stahl sich auf Nantais Lippen. Bills Plan war gescheitert - zumindest ein kleiner Trost. Nun würden die Schamanen, wenn sie wieder kehrten, seine Gabe selbst wecken müssen.
Aber die Rückkehr der dunklen Männer ließ lange auf sich warten.
Der Sommer in den Wäldern neigte sich dem Ende zu. Mit jedem Tag verlor das Laub der Bäume mehr das Grün und wurde bunter - bis sich der Wald in jene Sinfonie aus Farben verwandelt hatte, deren Leuchten selbst trübe Herbsttage ertragen ließ.
Und Nantai, der in den ersten Wochen noch so oft in banger Erwartung zum Waldrand gestarrt hatte, wurde mit jedem Tag gelassener. Als immer mehr Tage ereignislos verstrichen, begann er sogar gegen jede Vernunft zu hoffen, die dunklen Männer hätten ihre Pläne geändert...Vielleicht brauchten sie ihn ja nicht mehr...und verzichteten auf die Erfüllung seines Schwurs...
Doch wann immer die Dorfbewohner zum Jagen oder Früchte sammeln in den Wald zogen, wann immer ihn die Sehnsucht nach einem Streifzug unter den Bäumen schier überwältigte, spürte er die Gegenwart der Schamanen so bedrohlich nahe, dass er nicht wagte, ihr Verbot zu missachten.
Tief in seinem Herzen wusste er doch, dass sie wiederkommen würden.
Tief in seinem Herzen sehnte er diesen Tag manchmal sogar herbei.
Denn das Warten zermürbte ihn. Ließ ihn die schwärende Wunde zunehmend spüren, die er in sich trug. Doro.
Er träumte viel zu häufig von ihr...Hörte ihre Stimme, sobald er die Augen schloss. Fühlte ihre Berührungen... so intensiv, dass er sie beim Erwachen neben sich wähnte und jedes Mal länger brauchte, um zu begreifen, dass er nur geträumt hatte.
Meist versuchte er dann, sich zu helfen, indem er an die weniger schönen Momente mit ihr dachte. An die Momente des Nicht-Verstehens. Daran, wie sie ihn wegen seines Festhaltens an der Geisterwelt angegriffen hatte. An ihre Furcht vor den Kräften, die er besaß. Auch den ersten Streit rief er sich ins Gedächtnis, nach dem Besuch des magischen Ortes im Park, als sich der Graben zwischen ihnen zum ersten Mal aufgetan, und er zum ersten Mal geglaubt hatte, er habe sie verloren. An die verhängnisvolle Nacht, in der er sie mit Pete gesehen, und die große Vertrautheit der beiden gespürt hatte.
War Pete der Grund, warum Doro sich so überaus rasch von ihm getrennt hatte? Hatte sie mehr für ihn empfunden als sie sich eingestand?
Und warum weigerte er selbst sich, trotz allem, immer noch, das Ende dieser Liebe hinzunehmen?
Warum konnte er, trotz allem, sein Herz nicht von Doro befreien?
Pohawe war die einzige, die begriff, dass ihr Sohn nicht nur wegen der drohenden Rückkehr der Schamanen und des Verrats von Bill Hunter litt, sondern dass es ein anderer Kummer war, der ihn mit jedem Tag schweigsamer und einsamer werden ließ. Und obwohl er kein Wort darüber verlor, ließ ihre Intuition sie wieder einmal die richtigen Schlüsse ziehen.
Lange Zeit hoffte sie noch, er werde seinen Kummer alleine bewältigen. Sie beobachtete ihn nur, wohl wissend, wie ungern er sich jemandem anvertraute. Aber das Gegenteil des Erhofften geschah. Anstatt sich daraus zu befreien, sah sie Nantai mehr und mehr in seinem Leid versinken.
Schließlich entschied sie, dass er Hilfe brauchte. Sie würde mit Achak reden. Obwohl kein ausgewiesener Experte in Sachen Liebe, wusste er vielleicht einen Zauber, der Nantai helfen konnte. Ihr Sohn verlor zu viel Kraft im Kampf gegen seine Gefühle.
„Bitte bleib noch. Ich muss mit dir reden!“
Achak blickte erstaunt auf. Es war schon spät, und er wollte eben schlafen gehen, als Pohawe ihn rief - in einem Ton, der verriet, dass es Wichtiges zu besprechen gab.
„Was ist geschehen?“ fragte er besorgt.
„Es geht um Nantai“ erwiderte sie mit gedämpfter Stimme. „Lass uns zum See gehen. Ich möchte nicht, dass man uns zuhört.“
„So schlimm ist es?“ wollte er beunruhigt wissen.
„Das wirst du gleich erfahren. Komm mit.“ Sie nahm seine Hand und zog ihn hinunter zum Ufer, zu dem umgestürzten Baumstamm, der als Sitzbank diente. Dort setzte sie sich.
Achak ließ sich neben ihr nieder. „Was ist mit Nantai?“
Sie seufzte. „Ich mache mir große Sorgen um ihn.“
Der Schamane runzelte nachdenklich die Stirn. „Mir ist aufgefallen, dass er sich in den letzten Wochen häufig zurückzieht. Aber das wunderte mich nicht. Die baldige Rückkehr der Schamanen wird ihm auf der Seele liegen.“
Pohawe schüttelte den Kopf. „Ich glaube, dass etwas ganz anderes an ihm zehrt und ihm die Kräfte raubt, Achak.“ Sie seufzte kummervoll. „...und dies, nachdem er seine Kräfte mehr als alles andere brauchen wird, wenn er mit den dunklen Männern geht.“
Achak starrte sie verständnislos an. „Was sollte das sein?“
Sie versuchte, ihm auf die Sprünge zu helfen. „Was könnte einen jungen Mann denn belasten, der sich in der Blüte seiner Jahre befindet?“
Es dauerte einige Zeit, bis Achak begriff, worauf sie hinaus wollte.
„Du meinst, er sei verliebt?“ fragte er völlig verblüfft. „...Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals von einer Frau sprach!“
„Manchmal sagt man etwas, indem man nichts sagt!“ erwiderte Pohawe mit wichtiger Miene. „Oder glaubst du etwa, dass er so viele Jahre in dieser Stadt gelebt hat, ohne einem weiblichen Wesen nahe zu kommen? Obwohl man über die Männer und Frauen Megalaias sagt, sie seien anders als wir, sehr viel ungebundener oft, mitunter leicht zu erobern, und zur körperlichen Vereinigung bereit, ohne ihre Seele dabei zu teilen?“
Achak nickte. Welcher Waldbewohner wusste das nicht?
„Ja, mein Lieber“, fuhr sie voller Überzeugung fort, „Und nachdem Nantais Wirkung auf Frauen unbestritten und er in einem Alter ist, in dem seine Leidenschaft längst erwacht sein muss, glaube ich, dass er sich in Megalaia verliebt hat. Dass er nie ein Wort darüber verlor, kann nur bedeuten, dass diese Frau seine Liebe entweder nicht erwidert - oder ihn auf andere Weise zutiefst verletzt hat!“
Wenn sich Pohawe einer Sache so sicher war wie jetzt, pflegte sie Recht zu haben. Ein Rest von Zweifel blieb dennoch in Achak. „Hast du Nantai denn darauf angesprochen?“ erkundigte er sich skeptisch.
„Nein, das habe ich nicht getan“ erklärte sie. „Du weißt so gut wie ich, wie ungern er über seine Gefühle spricht.“ Sie blickte ihn vielsagend an. „Und am allerwenigsten wird er mit mir darüber reden, mit seiner Mutter – ... einer Frau.“
Wieder dauerte es lange, bis Achak begriff. „Willst du damit etwa andeuten, dass ich mit ihm reden soll?“ fragte er schließlich verdutzt.
„Wenn sich Nantai in dieser Sache jemandem anvertraut, dann dir“ behauptete sie. „Und deshalb solltest du möglichst bald mit ihm reden. Er muss seine Seele von diesem Schmerz befreien, ehe die Schamanen zurückkehren. Sonst wird er niemals gegen sie bestehen.“
Achak war verunsichert. Er kannte die schier untrügliche Intuition seiner Frau und wusste zudem aus eigener Erfahrung, wie sehr Gefühle einen Menschen lähmen können - damals, als es schien, er habe Pohawe verloren, waren auch seine Kräfte geschwunden. Damals hatte er Wochen lang vergeblich versucht, Verbindung zu den Geistwesen aufzunehmen und bereits gefürchtet, er habe diese Fähigkeit für immer eingebüßt. Erst nach der Zustimmung von Pohawes Eltern zu der Heirat war sie wiedergekehrt.
Wenn Pohawe Recht hatte - wovon er ausgehen musste - dann brauchte sein Sohn tatsächlich Hilfe.
Ob er hingegen der richtige Ansprechpartner für Nantai war? Als Schamane kannte er sich in der Welt der Geistwesen aus wie kaum ein anderer. Die Welt menschlicher Gefühle gehörte jedoch nicht zu seinen Stärken. Dies war die Stärke seiner Frau...
„Und was soll ich deiner Meinung nach tun, wenn du Recht hast?“ wollte er von Pohawe wissen. „Allein darüber zu reden wird Nantai nicht helfen.“
Sie lächelte. „Ich bin sicher, dass du einen Zauber weißt, der bewirkt, dass seine Gefühle für diese Frau erlöschen.“
Achaks Miene zeigte ihr, dass er einen solchen Zauber tatsächlich kannte - zugleich aber auch, wie wenig er von diesem Vorschlag hielt.
„Ich könnte dies bewirken, Pohawe“ erwiderte er stirnrunzelnd. „Aber hältst du es wirklich für richtig, Liebe mit einem Zauber zu bekämpfen? Erinnerst du dich denn nicht mehr an den Beginn unserer eigenen Liebe?“
Ihre Augen begannen sofort zu leuchten. „Ich werde diese Zeit niemals vergessen“ verkündete sie mit bebender Stimme.
„Und wie hättest du reagiert, wenn deine Eltern damals versucht hätten, unsere Liebe durch einen Zauber zu vernichten?“
Pohawe schüttelte entschieden den Kopf. „Das war etwas ganz anderes, mein Lieber. Schließlich empfanden wir dasselbe füreinander und kämpften gemeinsam für unsere Liebe - während Nantais Liebe ganz offensichtlich nicht erwidert wird.“ Sie sah Achak immer noch zweifeln. „Würde ich glauben, dass diese Frau seine Gefühle erwidert“ fuhr sie deshalb eindringlich fort. „Und wüsste ich, dass er nur leidet, weil er von ihr getrennt wurde - dann würde ich alles tun, damit er mit ihr sein Glück findet. Allerdings hätte Nantai uns in diesem Fall längst von ihr erzählt. Dass er es nicht tat, kann nur bedeuten, dass seine Liebe unglücklich verlief. Und dies bedeutet wiederum, dass wir ihm helfen müssen, rasch darüber hinweg zu kommen. Er wird den Schamanen nicht lange standhalten, wenn er seine Kräfte im Kampf gegen diesen Kummer sinnlos vergeudet.“
Ihre Argumente waren nicht von der Hand zu weisen. Achak gab seinen Widerstand auf. „Also gut, ich spreche mit Nantai, in der Hoffnung, dass er offen mit mir redet. Tut er dies, und es verhält sich, wie du glaubst, werde ich ihm anbieten, ihn durch einen Zauber von seinem Leid zu befreien.“ Mit einem Mal entschlossen, sprang er auf. „...Ich rede sofort mit ihm. Wir sollten tatsächlich keine Zeit verlieren.“
Aber bei ihrer Rückkehr war die Feuerstelle vor der Hütte verlassen und mit Steinen bedeckt. Nantai hatte sich bereits schlafen gelegt.
„Ich sehe nach, ob er noch wach ist.“
Pohawe schob den Vorhang am Eingang zur Seite und ließ den Blick über die drei Gestalten am Boden schweifen.
Ihre beiden jüngeren Söhne lagen auf dem Rücken und schliefen fest. Nantai hielt die Augen ebenfalls geschlossen. Doch als Pohawe neben ihm niederhockte, öffnete er die Lider und sah die Mutter fragend an.
„Dein Vater möchte mit dir reden“ flüsterte sie, „er erwartet dich draußen.“
Nantai fragte nicht nach dem Grund. Wenn Achak ihn zu solch später Stunde um eine Unterredung bat, musste es wichtig sein. Also nickte er stumm, schlug die Decke zurück und folgte der Mutter lautlos nach draußen.
Der Vater begrüßte ihn mit einem Lächeln, hinter dem die Anspannung dennoch deutlich zu spüren war.
„Was ist geschehen?“ fragte Nantai besorgt.
„Es ist nichts geschehen“ wiegelte Achak ab. „Ich möchte nur mit dir reden... An einem Ort, an dem wir ungestört sind.“
Nantai konnte sich nur an wenige Gelegenheiten erinnern, bei denen Achak das Gespräch mit ihm gesucht hatte. Fast immer war es dabei um sehr ernste Dinge gegangen, so wie damals, vor vielen Jahren, nachdem er sich zwei Tage lang im Wald versteckt hatte, um dem Internat in Megalaia zu entgehen.
Allerdings hatte er den Anlass dieser Unterredungen bis heute stets gekannt.
Diesmal jedoch zerbrach er sich vergeblich den Kopf, während er Achak folgte, der rasch voran ging, und selbst am Waldrand nicht stehen blieb. Nantai konnte ihn eben noch am Arm festhalten. „Warte bitte, Vater! Du weißt doch, dass ich das Dorf nicht verlassen darf.“
„Keine Sorge!“ Achak schmunzelte flüchtig. „Ich will dich nicht zum Ungehorsam verführen. Nur ein paar Schritte, dann sind wir am Ziel.“
Es war ungewöhnlich still unter den Bäumen heute. Kein Windhauch strich durch die dürren Blätter, kein Vogelruf warnte vor den ungebetenen Besuchern, kein Käuzchen sandte seine Klage in die Dunkelheit - die Tiere der Nacht schienen zu schlafen. Lediglich das Herbstlaub raschelte leise, als Nantai dem Vater zögernd in die Finsternis folgte. Nur wenige Schritte jedoch, als Achak wie versprochen stehenblieb und sich am Fuße einer riesigen Eiche niederließ. Noch einmal raschelte das Herbstlaub, als Nantai sich zu ihm setzte. Danach herrschte lange Zeit Stille - bis Achak schließlich das Wort ergriff.
„Erinnerst du dich noch an diesen Baum? Hier sprach ich vor vielen Jahren zum ersten Mal von der Geisterwelt zu dir.“
Nantai nickte. „Es war ein kühler Herbstabend, so wie heute. Und damals fürchtete ich mich entsetzlich, weil ich überall Geistwesen zu sehen glaubte.“
Beide schmunzelten. Aber allzu rasch wurde Achaks Miene wieder ernst. „Seitdem ist vieles geschehen, mein Sohn.“
„Du hast mich sicher nicht gerufen, um mit mir über vergangene Zeiten zu reden.“ In Nantais Stimme schwang Ungeduld mit. Er war nicht mit dem Vater gegangen, um sich in Erinnerungen zu verlieren.
„Deine Mutter und ich machen uns große Sorgen um dich“ begann Achak - und sah Nantai wie erwartet reagieren - seine Miene verdüsterte sich sofort.
„Höre mich bitte an, ehe du erklärst, dass du alt genug bist, deine Probleme alleine zu lösen“ fuhr Achak fort, ehe sein Sohn Gelegenheit zur Widerrede fand. „Pohawe und ich wissen sehr gut, dass du von uns keine Hilfe wünschst. Dass ich trotzdem mit dir rede, sollte dir das Ausmaß unserer Sorge zeigen, und ich bitte dich, diese Sorge ernst zu nehmen.“
Diese Worte erstickten Nantais Widerspruch im Keim. „Und was macht euch solche Sorgen?“ murmelte er verdrossen.
„Du wirst du all deine Kräfte benötigen, um deine Reise mit den dunklen Schamanen ohne Schaden zu überstehen“ erwiderte der Vater. „...Du kennst das Schicksal jener, die sie in der Vergangenheit mit sich nahmen, und die diese Kraft nicht besaßen...“ traurig hielt er inne. „Ich hoffe sehr, dass du verstehst, wenn ich alles in meiner Macht Stehende tue, um zu verhindern, dass dich dasselbe Schicksal ereilt!“
Nantai wartete voller Ungeduld. Worauf wollte der Vater hinaus?
„Ich möchte dich von der Last befreien, die du trägst, Nantai - von dem Kummer, der deinen Lebensmut schwinden lässt und dir die Kraft nimmt, die du für dein Überleben brauchst“ verkündete Achak im selben Moment.
Nantai verschlug es die Sprache. Woher wusste der Vater von seiner tiefen Trauer um Doro? Hatte er nicht alles versucht, um sie vor den anderen zu verbergen?
„Ich verstehe nicht, welchen Kummer du meinst, Vater...“ unternahm er den hoffnungslosen Versuch, das Gespräch zu beenden.
Er wollte nicht über Doro reden. Selbst mit dem Vater nicht. Das war allein seine Sache.
Aber Achak ließ sich nicht beirren. „Deine Mutter ist sicher, dass du einer Frau nachtrauerst, die du sehr liebst, die deine Liebe jedoch nicht erwiderte. Und falls Pohawe Recht hat, könnte ich dir helfen.“
Nantai seufzte unhörbar. Wie hatte er jemals glauben können, sein Kummer werde der Mutter entgehen?
„Ihr könnt mir nicht helfen“ erwiderte er mit belegter Stimme. „Diese Sache betrifft nur mich. Ich muss sie alleine durchstehen.“
„Unter normalen Umständen würden deine Mutter und ich deinen Willen sicherlich respektieren, mein Sohn. Allerdings wäre unter normalen Umständen dein Leben auch nicht bedroht. Aber dein Kummer kostet dich zu viel Kraft - Kraft, die du im Kampf um deine Seele dringend brauchst. Nur deshalb bitte ich dich, unsere Hilfe anzunehmen, ehe es zu spät ist! Wir lieben dich, Nantai! Wir wollen deinem Untergang nicht tatenlos zusehen!!“
Achaks Worte zeigten Wirkung. Nantai unterdrückte den Impuls aufzuspringen, und sich dem Gespräch zu entziehen. Stattdessen starrte er grimmig vor sich hin und rang mit sich. Sollte er sich dem Vater tatsächlich offenbaren, obwohl sich etwas in ihm so sehr dagegen sträubte?
Doch am Ende siegte die Achtung vor den Eltern.
„Mutter hat Recht. Ich trauere um eine Frau, die ich über alles liebe...“ Sein Herz zog sich schmerzvoll zusammen, als er über die verlorene Liebe zu sprechen begann. „Ich teilte die schönste Zeit meines Lebens mit Doro, bis sich meine Ausweisung als Prüfstein erwies, den ihre Liebe nicht überwinden konnte. Sie weigerte sich, mir in die Wälder zu folgen, und sei es nur für eine gewisse Zeit, selbst um den Preis, mich dadurch zu verlieren...“ Er verstummte, überwältigt von der Trauer, die er jetzt zum ersten Mal zuließ.
Achak wartete geduldig, bis sich sein Sohn wieder gefangen hatte.
„Inzwischen weiß ich, dass ich zu viel von ihr verlangte“ fuhr Nantai nach minutenlangem Schweigen fort. „Denn als wir einander trafen, studierte und lebte ich in ihrer Heimatstadt Megalaia - also glaubte sie unsere gemeinsame Zukunft auch dort. Wie sollte sie ahnen, dass ich nicht bei ihr bleiben kann? Wie sollte sie wissen, dass ich Megalaia eines Tages verlassen muss?“
„Du sagest dieser Frau nicht, dass du in die Wälder zurückkehren wirst, wenn deine Gabe erwacht?“ fragte Achak kopfschüttelnd.
„Nein.“ Nantai seufzte tief. „Ich wollte unserer Liebe die Zeit zum Wachsen geben, ehe ich mit ihr darüber spreche. Ich redete mir ein, uns bliebe diese Zeit noch, selbst als ich es längst besser wusste. Doch am Ende gab uns das Schicksal diese Zeit nicht mehr.“
„Trotzdem hast du dich mit der Trennung nicht abgefunden“ stellte sein Vater fest.
„Ich dachte, das würde mir nach der Heimkehr leichter fallen“ gestand Nantai. „Aber ich täuschte mich. Das Gegenteil ist eingetreten. Mein Schmerz scheint mit jedem Tag größer zu werden.“
Achak konnte Nantais Kummer besser nachempfinden, als dieser ahnte. Auch wenn seine eigene Liebe ein gutes Ende genommen hatte, war die Erinnerung an die Zeit noch ungemein lebendig, in der er nicht mehr gehofft, und geglaubt hatte, an seinem Kummer zerbrechen zu müssen.
Auf der anderen Seite traute er den Gefühlen seines Sohnes nicht.
Nantai hatte sich dem anderen Geschlecht viel zu lange verschlossen gezeigt. Viel zu lange hatte seine Leidenschaft allein der Entdeckung seiner Gabe gegolten, und nicht der Eroberung einer Frau. Möglicherweise hatte ihn - in der Fremde zumal - die erste intime Beziehung zu einer Frau aus dem Gleichgewicht gebracht. Vielleicht war er nur ihren körperlichen Reizen erlegen und verwechselte Leidenschaft mit Liebe. Solche Dinge kamen vor.
...Dann wäre sein Kummer allerdings recht einfach zu heilen.
Dafür brauchte man keinen mächtigen Zauber.
Deshalb fragte der Vater - sehr behutsam - nach. Wer war Doro? Unter welchen Umständen hatte Nantai sie getroffen? Was machte ihn so sicher, diese Frau zu lieben? Was unterschied sie von so vielen anderen?
Plötzlich fiel Nantai das Reden leicht, und er erzählte Achak von der nächtlichen Begegnung mit Doro nach dem Überfall im Park, von den Wochen des Bangens danach, und wie sie schließlich zueinander gefunden hatten. Verschwieg dabei weder den ungewöhnlichen Verlauf ihrer Liebe, noch die Seelenverbindung, die Doro fast das Leben gekostet hätte. Und ebenso wenig die dramatischen Umstände ihrer Trennung - und die undurchsichtige Rolle, die Bill Hunter dabei gespielt hatte.
Achak hörte aufmerksam zu, und unterbrach ihn nicht. Fragen waren nicht nötig. Er hatte rasch erkannt, wie sehr sein Sohn diese Frau liebte, dass er ihr nahe gekommen war, wie nur wenige Menschen einander nahe kommen... und wie ungeheuer schwer sein Sohn am Scheitern dieser Liebe trug. „Siehst du keine Möglichkeit, Doro zurück zu gewinnen?“ fragte er, als Nantai am Ende verstummte.
Nantai schüttelte traurig den Kopf. „Gäbe es nur die geringste Hoffnung, wäre mein Kummer um vieles geringer. Aber diese Hoffnung gibt es nicht. Doro wusste sehr genau, was sie tat, als sie ihre Entscheidung traf. Früher als ich hatte sie erkannt, dass es für uns keine Zukunft gibt. Dass es falsch war zu glauben, unsere Liebe könne von Dauer sein.“
Auch darin hatte Pohawe Recht behalten. Und damit gab es nur noch einen Weg, Nantai zu helfen. Auch wenn Achak bis eben gehofft hatte, ihn nicht gehen zu müssen.
„Ich kenne eine Möglichkeit, wie du dich von deiner Trauer befreien kannst, Nantai“ sagte der Schamane ungewohnt sanft, „einen Zauber, der dir deine Kraft wiedergibt, indem er den Kummer von dir nimmt.“
„Ein Zauber könnte mir helfen?“ Nantais Miene spiegelte seine Verblüffung wider. „Auf welche Weise?“
„Wenn du Doros Bild in dein Herz rufst, werde ich dir mit den Worten der Ewigen Sprache alle Empfindungen nehmen, die mit diesem Bild verbunden sind. Danach wird Doro für dich nur noch jemand sein, mit dem dich eine flüchtige Bekanntschaft verbindet. Du wirst dich an sie erinnern, nicht aber an die Gefühle, die du für sie empfandest. Selbst eine Begegnung mit ihr würde daran nichts ändern. Nicht einmal, wenn Doro von eurer Liebe sprechen sollte, würdest du dich erinnern. Es wird sein, als hättest du sie nie geliebt...“ erklärte der Vater ruhig.
Nantai starrte ihn an. Das klang faszinierend einfach.
Und dennoch erschreckend. Stimmte er diesem Vorschlag zu, würde er einen wichtigen Teil seines Lebens ungeschehen machen - vielleicht sogar den wichtigsten.
„Du solltest dir diese Entscheidung gut überlegen“ fuhr Achak fort. „Dieser Zauber wird deine Liebe unwiederbringlich aus deinem Leben löschen und damit tief in deine Seele eingreifen. Andererseits sehe ich keinen anderen Weg, wie du dich von deiner Last befreist und die Kräfte wieder findest, die dein Leben retten können.“
Seine Worte waren kaum verklungen, als im Geäst über ihnen zum ersten Mal der Unheil verkündende Ruf eines Käuzchens ertönte. Ein Ruf, der gemäß dem Glauben vieler Waldbewohner den Tod ankündigte.
Nantai fröstelte.
War dieser Ruf eine Warnung davor, was geschah, wenn er den Zauber des Vaters ablehnte? Musste er seine Gefühle für Doro tatsächlich vergessen - und damit auch die Erfüllung, die er in dieser Liebe gefunden hatte, das endlos scheinende Glück in den Tagen des Zusammenseins, von denen er trotz Verzweiflung und Trauer nicht einen einzigen bereute?
Durfte er nur weiterleben, wenn er all dies vergaß?
„Was soll ich tun, Vater?“ stöhnte er verzweifelt.
„Diese Entscheidung liegt nur bei dir, Nantai.“ Achak konnte sein Mitgefühl nicht verbergen. „In dieser Sache will und darf ich dir keinen Rat geben.“
Müde presste Nantai die Stirn an den tröstlich festen Stamm der Eiche. „Dann lass mich jetzt allein“ murmelte er, „ich brauche Zeit, um nachzudenken.“
Pohawe hatte am Feuer gewartet. Immer wieder war sie aufgestanden, hatte Holz nachgelegt und dabei vergeblich nach Mann und Sohn Ausschau gehalten. Nun sah sie Achak zurückkehren. Alleine.
„Nantai wollte, dass ich ihn alleine lasse“ kam er ihrer Frage zuvor. „Er wird jetzt seine Entscheidung treffen.“
„Dann hast du ihm den Zauber also vorgeschlagen?“
„Ja, das habe ich“ bestätigte er. „Allerdings scheint er diese Frau sehr zu lieben. Es wird ihm nicht leicht fallen, seine Gefühle für sie für immer zu zerstören.“
„Wie konnte sie ihm das antun?!“ Pohawes Zorn war unüberhörbar. „Sie trägt die Schuld, dass er sich so sehr quält und keine Kraft findet, sich gegen sein Schicksal zu stellen.“
Achak nahm sie in den Arm. „Hörte ich Eifersucht in deiner Stimme? Kannst du etwa nicht ertragen, dass Nantai seine Liebe einer anderen als dir schenkt?“ fragte er schmunzelnd.
Pohawe wollte ihn eben empört wegstoßen, als sie das Schmunzeln bemerkte. „Du kennst mich besser als mir lieb ist“ gab sie widerstrebend zu. „Obwohl ich eine andere Frau durchaus ertragen könnte - sofern sie ihn glücklich macht.“
Das wusste er. Pohawe liebte ihren Sohn viel zu sehr, um ihm das Glück zu missgönnen, wenn er es fand.
„Was hat Nantai gesagt?“ hakte Pohawe nach. „Liebt er sie wirklich so sehr?“
„Ja, das tut er“ erwiderte Achak bedrückt. „Doro ist die Liebe seines Lebens.“
Doro.
Zum ersten Mal hörte Pohawe den Namen der Frau, die das Herz ihres Sohnes erobert hatte. Und zum ersten Mal bedauerte sie, diese Frau niemals kennen zu lernen. „Erzähl mir, was du über sie erfahren hast“ bat sie „...und zwar alles!“
Aufmerksam lauschte sie, als Achak ihr die Unterredung mit Nantai schilderte - und schwieg danach erschüttert.
Ihr Sohn hatte seine Seele mit einer Städterin geteilt, und noch dazu nach solch kurzer Zeit! War er vollkommen von Sinnen gewesen? Hatte er nicht bedacht, dass er dadurch eine Verbindung schuf, die kaum wieder zu lösen war?
Oder war Doro tatsächlich diejenige, die seine Seele hatte berühren sollen - diejenige, die das Schicksal für ihn bestimmt hatte? ...Doch dann würde Nantai auf seine Erinnerungen niemals verzichten wollen, so schmerzlich sie auch sein mochten.
Und noch etwas bewegte Pohawe.
Warum hatte ihr Sohn ausgerechnet den Mann als Freund betrachtet, der ihn aus der Stadt gewiesen, dadurch die Trennung von Doro ausgelöst, und - damit nicht genug - auch die dunklen Schamanen zu ihm geführt hatte?
Jemand, der Bill Hunter wohl meinte, mochte diesen Zusammenhang für rein zufällig halten.
Nicht jedoch Pohawe, die ihr Misstrauen gegen den Polizisten nun endlich bestätigt fand.
Bill Hunter war niemals Nantais Freund gewesen, und er hatte ihren Sohn keineswegs in die Wälder gebracht, um ihn vor seiner Gabe zu schützen...das wahre Motiv des Polizisten war ein anderes gewesen. Er hatte all dies nur getan, um Nantai an seine Verbündeten - die dunklen Schamanen - und damit dem Verderben auszuliefern!
Viel zu spät hatte auch Nantai dies erkannt und den Polizisten deshalb zur Rede gestellt...
„Erwähnte Nantai, dass auch er längst an Bill Hunters Freundschaft zweifelt?“ fragte sie Achak vollkommen unvermittelt.
Der sah sie verblüfft an. „Nein - wir sprachen nicht über sein Verhältnis zu Bill Hunter. Nantai erwähnte lediglich, unter welch ungewöhnlichen Umständen ihre Begegnung stattfand... Woher weißt du, dass er an Bill Hunters Freundschaft zweifelt?“
Pohawe beschrieb die Unterredung, die sie kurz nach Bill Hunters Weggang mit dem Sohn geführt hatte. „Damals nannte er mir den Grund für seine Zweifel nicht“ schloss sie aufgewühlt. „Aber nun bin ich sicher, dass wir seinem angeblichen Freund nicht grundlos misstrauten. Bill Hunter steht mit den Schamanen im Bunde und hat Nantai an sie verraten!!“
„Dein Vorwurf wiegt ungeheuer schwer, Pohawe!“ Achak kratzte sich bedächtig am Kinn. Er schien noch nicht überzeugt, „Wir sollten ihn besser für uns behalten, solange wir keine Beweise dafür haben... obwohl ich zugeben muss, dass einiges auf einen Verrat Bill Hunters hindeutet.“
„Du glaubst mir also nicht?“ empörte sich Pohawe.
„Ich weiß im Augenblick nicht, was ich glauben soll, Liebste“ versuchte Achak ihren Zorn zu beschwichtigen. „Ehe wir ein Urteil über Bill Hunter fällen, sollten wir zumindest seine Erklärung für diese Geschehnisse hören. Doch nachdem er die Wälder bereits verlassen hat, ist dies nicht mehr möglich.“ Der Schamane zuckte die Schultern. „Und nicht zuletzt gibt es wichtigere Dinge, auf die wir unser Augenmerk richten sollten.“
Wider Willen musste sie Achak Recht geben...Im Augenblick zählte allein das Schicksal ihres Sohnes. Wie würde er entscheiden?
Sie warteten auf Nantai, bis das Feuer schließlich niedergebrannt war, und Kälte und Müdigkeit sie in ihre Hütte trieben. Das Lager ihres Sohnes hingegen blieb ungenutzt, wie Pohawe früh am nächsten Morgen feststellte.
Auf ihr besorgtes Drängen hin begab sich Achak auf die Suche nach Nantai. Doch als er ihn weder bei der Eiche noch in deren Umgebung fand, und auch seine Rufe ungehört verhallten, begann er, die Sorge seiner Frau zu teilen.
Wohin war Nantai gegangen? Aus welchem Grund hatte er das Verbot der Schamanen missachtet und sich so weit entfernt, dass er die Rufe nicht hörte?
Aber Nantai hörte ihn sehr wohl, befand sich sogar ganz in der Nähe, am Zufluchtsort seiner Kindheit zwischen den Felsen, an den er sich nach dem Weggang des Vaters zurückgezogen hatte. Seitdem hatte er einfach nur da gesessen, den Rücken ans harte Gestein gelehnt, und ohne die Kälte der Nacht wahrzunehmen um seine Entscheidung gerungen. Viele Stunden lang. Bis er endlich mit sich im Reinen gewesen war.
Danach hatte er aufstehen und ins Dorf gehen wollen. Der Morgen graute bereits...die Eltern würden sich um ihn sorgen.
Stattdessen saß er immer noch hier - und beobachtete, wie die ersten Sonnenstrahlen das schwindende Laub der Bäume durchdrangen und deren dürren Blätter für kurze Zeit zu goldfarbenem neuem Leben erweckten - wie ein hungriger Vogel am Boden nach Insekten pickte - und folgte dem Lauf einer Maus, die sich auf der Suche nach Nahrung durchs dichte Herbstlaub wühlte.
Die Rufe verstummten...
Nantai erhob sich mit einem leisen Seufzen. Es war Zeit.
Wenig später trat er aus dem Halbdunkel der Bäume auf den Vater zu, blass von der durchwachten Nacht, und das Gesicht von Müdigkeit gezeichnet. Und strahlte zugleich eine Entschlossenheit aus, die nichts von den Gewissensqualen der vergangenen Stunden erkennen ließ.
Achak begriff sofort. „Du hast dich also entschieden!“
Nantai nickte. Bat stumm um Vergebung für das, was er dem Vater zu sagen hatte. „Es tut mir leid. Aber ich möchte deinen Zauber nicht. Ich will mit meinen Erinnerungen weiterleben, auch wenn der Schmerz mich all meine Kraft und damit vielleicht das Leben kostet.“ Achaks Miene zeigte keine Regung. „Zugleich möchte ich dir sagen, wie dankbar ich dir für dieses Angebot bin“ fuhr Nantai fort. „Denn du nahmst mir das Gefühl, ein Getriebener zu sein... Bis gestern glaubte ich mich hilflos, und meinem Schicksal ausgeliefert zu sein. Die Trauer um Doro lähmte mich - bis du mir die Möglichkeit gabst, eine Wahl zu treffen. Nur dadurch begriff ich, wie viel mir diese Liebe tatsächlich bedeutet - so viel, dass ich mit der Erinnerung an sie einen Teil meines Selbst zerstören würde. Und nur dadurch begriff ich, wie viel mir diese Liebe trotz ihres Scheiterns noch immer gibt.“
Nantai verstummte und atmete erleichtert auf. Das Geständnis lag hinter ihm!
Er hatte diesen Moment gefürchtet, und machte sich nun auf Vorhaltungen gefasst, auf verzweifelte Versuche Achaks, ihn umzustimmen.
Aber der Vater reagierte nicht wie erwartet. „Nachdem ich selbst eine solche Liebe erlebte, war ich fast sicher, dass du so entscheiden wirst“ erwiderte er bedrückt. „Hätte man mich damals nämlich vor dieselbe Wahl gestellt, hätte ich ebenso wenig auf meine Gefühle verzichtet.“ Er seufzte. „Deine Mutter wird mir allerdings kaum verzeihen, dass ich dich nicht überzeugen konnte.“
Aber auch Pohawe reagierte nicht wie erwartet.
Als Nantai ihr seine Entscheidung mitteilte, nahm sie ihn einfach nur in die Arme. Ohne ihm einen Vorwurf zu machen. Und ohne zu klagen. „Ich würde diese Frau so gerne kennen lernen“ murmelte sie leise. „Sie muss etwas ganz Besonderes sein, wenn du nicht einmal jetzt von ihr lassen willst.“
Dann löste sich rasch von ihm, musterte sein blasses Gesicht, und erkannte die Spuren der nächtlichen Qualen darin. Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Vielleicht hilft dir diese Entscheidung am Ende sogar mehr als es der Zauber deines Vaters vermocht hätte.“
Nantai erwiderte ihr Lächeln. „Sie hat mir bereits geholfen, Mutter. Ich fühle mich sehr viel besser, als es den Anschein haben mag.“
„Das beruhigt mich ein wenig.“ Pohawe strich ihm über die Wange. „Du siehst nämlich müde und erschöpft aus. Du solltest dich schlafen legen.“
„Ich bin nicht müde!“ Nantai hockte sich ans Feuer und schob trockenes Reisig in die Glut. „Aber hungrig bin ich. Hast du etwas zu essen für mich?“
Diese Bitte hatte den gewünschten Erfolg. Pohawe verschwand hinter der Hütte, wo er sie leise rumoren hörte. Kurze Zeit später kehrte sie mit einem großen Klumpen Teig in der Hand wieder, den sie aufteilten und um Stöcke gewickelt über der Glut rösteten.
Der köstliche Duft des frisch gebackenen Brotes lockte auch Nantais Brüder aus der Hütte. „Hmmm… lecker!“ Mit einem herzhaften Gähnen ließen sie sich am Feuer nieder.
Nantai schmunzelte. Die beiden waren einfach zufrieden zu stellen, sie nahmen das Leben, wie es kam. Ein gutes Mahl, viel Bewegung, Abenteuer, ...Freunde. Mehr brauchten sie nicht, um glücklich zu sein.
Aber auch er genoss diesen Morgen wie selten einen zuvor. Das aromatische Brot mit der knusprigwarmen Kruste. Die witzigen Bemerkungen der Brüder, während sie, ungeachtet der frühen Stunde erstaunlich munter, das Gebäck lustvoll hinunterschlangen. Die Nähe der Eltern, denen er sich so eng verbunden fühlte wie seit langem nicht mehr.
Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr ihn die Entscheidung der letzten Nacht tatsächlich befreit hatte. Zum ersten Mal seit langem fühlte er sich dem Schicksal nicht mehr hilflos ausgeliefert.
Aber sein Hochgefühl endete viel zu rasch.
Eri hatte eben das letzte Stück Brot verzehrt, als vom Rand der Siedlung aufgeregte Rufe erklangen, die wenig später angstvollem Schweigen wichen.
Wie gebannt starrten die Dorfbewohner den beiden Männern hinterher, die sich zielstrebig auf die Hütte von Nantais Eltern zu bewegten. Schattenhaften Geistern gleich, schritten die Schamanen durchs Dorf, begleitet von der düsteren Aura der Macht, der sie dienten.
Nantai spürte ihre Nähe, noch ehe er sie sah.
Und erstarrte zu Stein.
Er hatte gewusst, dass sie wiederkehren würden.
Trotzdem traf ihn ihre Ankunft jetzt vollkommen unvorbereitet.
Sie kamen zu früh.
Er war noch nicht stark genug, um gegen sie zu bestehen. Er hatte doch eben erst sein Gleichgewicht wiedergefunden.
Aber das zählte nicht. Sie waren hier, um seinen Schwur einzufordern - und er musste ihn erfüllen. Gleich, wie er sich fühlte.
Mit regloser Miene blickte er den dunklen Männern entgegen und erhob sich schließlich widerwillig, als auch die Eltern sich erhoben, um den ungebetenen Gästen Respekt zu erweisen, während seine Brüder - ungewohnt furchtsam - ins Innere der Hütte flüchteten.
Dicht vor ihm hielten die Schamamen inne und fixierten ihn mit ihren dunklen Augen. Forderten stumm seine Unterwerfung.
Und er gehorchte. Neigte stumm den Kopf.
Der Ältere befahl ihm barsch, sein Gepäck zu holen. „Wir brechen sofort auf!“ fügte er der Anweisung unmissverständlich hinzu.
Als Nantai im Innern der Hütte verschwand, nahm Pohawe ihren ganzen Mut zusammen. „Wie lange wird er weg sein?“ fragte sie mit zitternder Stimme.
„Du sorgst dich um deinen Sohn?“ Die Stimme des Älteren war hart und ohne jede Wärme. „Nun...er kann gehen, wenn wir seine Dienste nicht mehr brauchen.“
Sie öffnete den Mund, um zu fragen, wann das sein würde. Doch im selben Moment trat Nantai aus der Hütte, blass, mit seinem Bündel in der Hand, und wirkte so verloren, dass ihr die Worte in der Kehle stecken blieben.
Sie musste ihn erneut ziehen lassen... und wusste nicht, ob sie ihn jemals wieder sah. Tränen in den Augen, nahm sie den Sohn in ihre Arme, als könne sie ihn auf diese Weise vor Unheil bewahren. Drückte ihn an sich, immer wieder, und versuchte, trotz allem, nicht zu weinen. Er brauchte Zuversicht - also musste sie stark sein.
Auch Achak kämpfte um Beherrschung, als er Nantai zum Abschied an sich zog. „Mögen die Geistwesen dir helfen, diese Prüfung zu bestehen!“
Dann war es vorüber.
Nantai wandte sich nicht um, als er mit den beiden Männern das Dorf verließ. Warf keinen Blick zurück. Und war wenige Augenblicke später ihren Blicken entschwunden.
Erst jetzt ließ Pohawe ihren Gefühlen freien Lauf. Weinend warf sie sich Achak in die Arme. „Warum Nantai?“ schluchzte sie. „Was hat er getan, um ein solches Schicksal zu verdienen? Warum…“ Der Rest ihrer Worte erstickte in Tränen.
Achak hielt sie fest.
Streichelte ihr zärtlich über den Rücken - und schwieg. Ratlos, traurig und zornig zugleich, weil er trotz seiner Fähigkeiten nicht die Macht besaß, ihren Kummer zu lindern und das Schicksal des Sohnes zu wenden.
Zu groß war die Macht der dunklen Schamanen.
Und zu groß die Macht dessen, dem sie dienten.
Schließlich hörte Pohawe auf zu weinen und verfiel in dumpfes Schweigen. Doch alles Leben schien in ihr erloschen, während sie sich an die tägliche Arbeit machte, mit maskenhafter Miene und Bewegungen, die denen einer Maschine glichen.
Als sei ihre Seele nicht mehr bei ihr, sondern weit entfernt, bei ihrem Sohn.
Aber nicht nur Pohawe litt.
Auch an Achak zehrten der Kummer und die eigene Hilflosigkeit.
Sobald Pohawe sich ein wenig erholt hatte, würde er in die Wälder gehen, und dort den Rat der Geistwesen suchen.
Auch wenn deren Botschaften in den letzten Wochen immer verwirrender geworden waren.
Auch wenn jede Begegnung mit ihnen ihn mehr Kraft kostete.
Zunächst hatte er an sich selbst gezweifelt und geglaubt, er verliere die Fähigkeit, mit ihnen zu reden. Bis er irgendwann begriffen hatte, dass nicht er sich verändert hatte, sondern die Bewohner der anderen Welt.
Irgendetwas versetzte die Geistwesen in Aufruhr. Er spürte ihren Zorn mit jedem Mal deutlicher - und ihre Furcht, die mit Nantais Heimkehr einen neuen Höhepunkt erreicht hatte.
Zweimal hatte er seitdem den Rat der Geistwesen gesucht... und ihre Antworten nicht mehr verstanden - ein wildes Durcheinander von Bildern, die keinen Sinn ergaben, Bilder, in denen er nur eines deutlich erkannt hatte:
Ein nachtschwarzes Gebilde von gewaltiger Größe.
Der Schatten?
War er der Anlass ihrer Furcht? ...Warum sollten sie ihn fürchten? Er war allein - sie hingegen viele! Sie mussten um vieles mächtiger sein als er!
Oder war die Macht des Schatten am Ende größer als die ihre?
Und wenn sogar die Geistwesen Grund zur Furcht sahen … wie sollte dann erst ein einzelner Mensch wie Nantai …?
Achak wagte nicht, diesen Gedanken weiterzuspinnen, als er zu Pohawe ging, die am Seeufer Wäsche wusch. Sie brauchte seine Nähe jetzt. Und er die ihre, so dringend wie selten zuvor.
Irgendwann war die Wäsche gewaschen und irgendwann das Essen gekocht, die Überreste versorgt, das Geschirr gereinigt.
Irgendwann fand auch dieser trostlose Tag sein Ende.
Als die Nacht ihre Decke aus Finsternis über das Dorf breitete, war das Feuer vor Achaks Hütte fast niedergebrannt, weil sich niemand die Mühe gemacht hatte, es mit neuer Nahrung zu versorgen.
Warum auch? Es gab keinen Grund, an diesem Abend noch draußen zu sitzen oder gar die Nähe anderer zu suchen...
Achak bedeckte die ersterbende Glut mit Steinen und trat in die Hütte, wo sich auch die beiden Jüngeren gegen ihre Gewohnheiten schon schlafen gelegt hatten.
Ein Stück entfernt von den beiden hatte sich Pohawe in ihre Decke gewickelt. Sie reagierte nicht, als er sie leise ansprach - der Schlaf hatte sie wohl von ihrem Kummer erlöst, zumindest für ein paar Stunden.
Er legte sich an ihre Seite, ganz dicht, um ihre Nähe zu spüren. Und schlief dennoch lange Zeit nicht ein.
Irgendwann hörte er Pohawe leise weinen.
Er tastete nach ihr. Streichelte sie sanft und tröstend, bis ihr Schluchzen endlich verstummte und gleichmäßigen Atemzügen wich.
Sehr viel später fiel auch er in einen unruhigen Schlaf.
Er träumte von Nantai.
Und von einem gewaltigen Schatten, der seinen Sohn verschlang.