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Die Macht der Gabe

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Bill Hunter war zielstrebig zum See geeilt. Nun hielt er am Uferrand inne und ließ den Blick über die spiegelglatte Oberfläche schweifen.

Das Gewässer war nicht sehr groß - man konnte das andere Ufer gut erkennen - und dennoch groß genug, um einen schlechten Schwimmer in Schwierigkeiten zu bringen, wenn er es zu durchqueren versuchte. Auch eine Umrundung zu Fuß würde einige Zeit in Anspruch nehmen. Eine Stunde mindestens, schätzte Bill. Aber so weit würde er nicht gehen.

Er folgte dem dicht bewachsenen Uferweg, bis er das Gesuchte fand - ein kleines, Sonne beschienenes Fleckchen Wiese nahe am Waldrand, durch dichtes Gebüsch vor Blicken geschützt. Ein Platz, der jene wohltuende Art von Energie verströmte, die er jetzt brauchte.

Trotzdem fand er keine Ruhe.

Viel zu sehr hing er im Netz seiner verworrenen Gedanken und Gefühle fest - wie eine Fliege, die sich je mehr im Spinnennetz verstrickt, je mehr sie sich daraus zu befreien versucht.

Pohawe hat Recht. Die beiden werden Nantai zugrunde richten. Selbst wenn er zurückkehren darf, woran ich zweifle, wird sein Leben zerstört sein... Und ich trage die Schuld daran. Es hätte genügt, Nantai in die Wälder zu bringen - mehr hatte der Schatten nicht von ihm verlangt. Doch damit nicht genug, hatte er die Schamanen nach Threetrees gerufen - ausgerechnet sie! - und dadurch erst die Kette verhängnisvoller Ereignisse in Gang gesetzt: das Sühneritual - den Frevel - die eigene Buße an Nantais Statt - Nantais Schwur... Sein Anteil am Geschehenen war tatsächlich gewaltig, und es tröstete ihn nur wenig, dass das Schicksal des jungen Waldbewohners auch ohne sein Zutun wohl ähnlich verlaufen wäre. Irgendwann hätte Nantais Gabe ihn zur Rückkehr in die Wälder gezwungen. Und auch ohne sein Zutun hätten die Schattendiener den Gabenträger dort irgendwann aufgespürt und in ihre Gewalt gebracht. Sie kannten genügend Mittel und Wege, einen Menschen ihrem Willen zu unterwerfen... Nantai wäre ihnen niemals entkommen… Versuche ich etwa, mich herauszureden? Mit einem Mal überfiel ihn grenzenlose Müdigkeit, und er sank in sich zusammen, wie ein Ballon, aus dessen Hülle die Luft entweicht. Hockte mit hängenden Schultern am Ufer und starrte stumpf auf die dunkle Oberfläche des Sees. Ihm graute davor, Nantai gegenüberzutreten. Davor, in die Augen des jungen Mannes zu blicken und zu wissen, dass dessen Leben zu Ende war, bevor er es hatte leben können. Hör auf, dich selbst zu bedauern! Er ist derjenige, der Mitleid verdient. Bill seufzte tief - und verließ seinen Platz am Seeufer. Es hatte keinen Sinn, diesen Moment länger hinauszuschieben. Ohne jede Eile ging er zur Siedlung zurück. Lief langsam, als drücke ihn eine schwere Last, zwischen den Hütten hindurch zu der von Nantais Familie. Vor dem Eingang blieb er stehen... Zögerte plötzlich. Von drinnen klangen Stimmen an sein Ohr. Er hörte die warme Stimme Nantais, wenig später die ein wenig härtere Achaks, und am Ende die helle Pohawes. Sie unterhielten sich angeregt, fast heiter. Er fühlte sich wie ein Störenfried. Wäre am liebsten wieder umgekehrt. Verdammt noch mal! Bring es endlich hinter dich. Das Gespräch in der Hütte erstarb sofort, als er den Vorhang zur Seite schob. Er sah ihre erwartungsvollen Blicke auf sich gerichtet, las die Fragen darin… und wie sehr sie auf Antworten hofften. Er würde sie enttäuschen. Würde weder Achak noch Pohawe Rede und Antwort stehen. Nicht einmal Nantai durfte die ganze Wahrheit erfahren - nur den Teil, der nicht auf Bills Verbindung zu den Schamanen hinwies. Er verharrte im Eingang. „Ich möchte mit dir reden, Nantai - aber alleine.“ „Ich stehe voll und ganz zu deiner Verfügung!“ Nantai hatte so sehr auf diese Gelegenheit gewartet. Deshalb erhob er sich jetzt sofort, und folgte dem Freund nach draußen. Aber Bill hatte nicht auf ihn gewartet, sondern befand sich bereits auf den Weg zum See. „Komm mit!“ rief er Nantai über die Schulter hinweg zu. „Dort können wir uns ungestört unterhalten!“ Nantai wunderte sich über die ungewohnte Hast des Freundes, und noch mehr, als Bill auch am Seeufer nicht anhielt, sondern dessen Verlauf nach Westen folgte. Wohin gingen sie? Und warum lief der Freund noch immer, als sei er von Furien gehetzt? Aber er fragte nicht. Folgte Bill kopfschüttelnd - und stellte überrascht fest, dass er das hohe Tempo des Freundes mühelos mithielt. Bills Zustand nach dem Ritual war deutlich schlechter gewesen. Hatte er nicht sogar den folgenden Tag fast nur im Bett verbracht? ... Während er selbst die Verletzungen des Rituals fast nicht mehr spürte, sich zur eigenen Verblüffung sogar recht erholt fühlte. Auch Bill Hunter entging dieser Umstand nicht. Er blieb plötzlich stehen und musterte Nantai verblüfft. „Du bist in erstaunlich guter Verfassung, mein Freund. Die beiden Kerle scheinen mit dir um einiges gnädiger gewesen zu sein als mit mir“ scherzte er. „Meine gute Verfassung liegt wohl eher darin begründet, dass ich einige Jährchen jünger bin als du!“ gab Nantai schmunzelnd zurück. Dennoch spürte der Polizist die stille Verzweiflung hinter den unbeschwert klingenden Worten so deutlich, dass er sich auf das spielerische Wortgefecht einließ. Ein wenig Ablenkung würde Nantai gut tun. „Du hast großes Glück, dass ich gesetzter bin als du und meine Gefühle deshalb unter Kontrolle habe“ konterte er, „sonst würde ich dir auf der Stelle beweisen, dass ich es trotz des Altersunterschieds von dreizehn Jahren noch sehr gut mit dir aufnehmen kann.“ Sein Kalkül ging auf. Nantai war so verblüfft, dass er für einen Moment die Sorgen vergaß. „So alt bist du? Für einen fast Vierzigjährigen hast du dich tatsächlich gut gehalten!“ Wieder schmunzelte er. „Wenn man von den grauen Haaren absieht!“ „Vielen Dank für die erste Bemerkung“ brummte Bill. „Die zweite hättest du dir allerdings sparen können.“ Auch danach setzten sie das fröhliche Streitgespräch fort, in stillem Einvernehmen, den Ernst der Situation vorerst zu ignorieren. Bis Bill erneut stehen blieb. „Lass uns hier rasten“ sagte er und setzte sich ins Gras. „Denn wir müssen uns leider auch noch über andere, deutlich unangenehmere Dinge unterhalten.“ Warum ausgerechnet hier? Nantai sah sich um. Sie befanden sich auf einem von der Sonne beschienenen Fleckchen Wiese am Waldrand, das dichtes Gebüsch vor Blicken aus dem Dorf schützte. Auf den ersten Blick schien dieser Ort nicht anders zu sein als viele andere, an denen der Freund zuvor achtlos vorübergegangen war. Oder etwa doch? Etwas war tatsächlich anders... Selten zuvor hatte er die Kräfte der Wälder so deutlich gespürt wie hier. Und fragte sich jetzt zum ersten Mal, ob auch Bill sie wahrnahm. „Willst du dich nicht setzen, Nantai?“ „Doch.“ Er ließ sich ins Gras fallen und sah den Freund erwartungsvoll an. „Schließlich habe ich jede Menge Fragen an dich. Zum Beispiel die...“ Aber Bill schüttelte nur den Kopf, legte den Finger auf die Lippen und bedeutete ihm zu schweigen. Nantai runzelte die Stirn. Was soll das? Der Freund lächelte - und schloss die Augen. Verwirrt folgte Nantai seinem Beispiel. Und spürte die Magie dieses Ortes fast im selben Augenblick um ein Vielfaches stärker als zuvor. Bill nimmt diese Kräfte also ebenso wahr wie ich! Doch diese überraschende Erkenntnis verlor rasch wieder an Bedeutung… Noch nie hatte Nantai die lebendige Energie der Wälder so intensiv empfunden wie hier. Ihm schien fast, als taste sie nach ihm... Dann fühlte er ihre Berührung mit jedem Atemzug stärker werden, ihr wachsendes Drängen, sich ihr zu öffnen und sie in sich zuzulassen… Warum nicht? Er wollte dem Drängen eben nachgeben, als ihn ein kräftiger Stoß in die Rippen schroff aus seinen Empfindungen riss. „Aufwachen, du Träumer!“ Für einen Moment grollte er Bill fast ein wenig. Er hatte nicht geträumt. Etwas ganz anderes war geschehen. Etwas Wundervolles, Einzigartiges, das er in dieser Intensität noch nie erlebt hatte. Doch Bills Frage zwang ihn rasch wieder in die Wirklichkeit zurück. „Warum hast du dich dem Sühneritual unterzogen, Nantai?“ Mit einem Mal war seine nahezu euphorische Stimmung wie weggeblasen. Mit einem Mal wurde die Erinnerung an die jüngsten Ereignisse wieder schrecklich lebendig - und mit ihr auch die Furcht vor dem, was ihm bevorstand. Nantai verzog die Lippen zu einem gequälten Grinsen. „Mir blieb keine andere Wahl, mein Freund. Die Schamanen sagten, ich könne meinen Frevel nur auf diese Weise ungeschehen machen.“ Leider genügte ihnen nicht, dass du aus unerfindlichen Gründen an meiner Stelle sühntest… Bill musterte ihn mit einem merkwürdigen Blick. „Dass du dich den beiden mit dem Rauchschwur ausgeliefert hast, hatte allerdings einen völlig anderen Grund, nicht wahr?“ „Wovon sprichst du?“ Nur mit Mühe gelang es Nantai, seine Bestürzung zu verbergen. Bill konnte die Gründe für seinen Handel mit den beiden Männern unmöglich kennen! Niemand kannte sie! Bis auf ihn selbst - und die dunklen Schamanen. Aber dann zeigte sich, dass Bill diese Hintergründe sehr wohl kannte. „Du hättest dich niemals auf diesen entsetzlichen Handel mit ihnen einlassen dürfen, Nantai! Und noch weniger hättest du ihn mit dem Rauchschwur besiegeln dürfen!“ Nantai verschlug es fast die Sprache. „Du weißt davon?“ stieß er bestürzt hervor. „Aber diese Geschichte betrifft nur mich und die beiden! Wer hat dir davon erzählt?“ „Die beiden Kerle waren so frei“ erwiderte Bill ungerührt. „Und hatten im Übrigen Recht damit, weil diese Geschichte letztendlich auch mich betrifft. Schließlich war mein Leiden deshalb im Nachhinein völlig umsonst!“ „Glaubst du etwa, ich lasse zu, dass du an meiner Stelle stirbst?!“ wehrte sich Nantai empört. „Und dies, nachdem ich die Schuld an allem trage? Hätte ich dem Sühneritual nämlich nicht zugesehen, wären die Schamanen wie geplant meine Lehrmeister geworden. Stattdessen blieb ich - obwohl ich ahnte, dass ich besser gehen sollte - und beging damit einen Frevel, für den du aus unerfindlichen Gründen bezahlen wolltest.“ Er holte tief Luft. „Ich hätte mir niemals verziehen, wenn du meinetwegen gestorben wärst.“ Bill senkte den Blick und schwieg betreten. Dein Opfer war umsonst, Nantai, weil die beiden mich ohnehin am Leben gelassen hätten. Das haben sie selbst bestätigt. Schattendiener töten einander nicht. Mein Leiden hätte ihnen genügt... Aber das darfst du niemals erfahren. Wenn du wüsstest, wie viel mich mit deinen Peinigern verbindet, und welch großen Anteil ich an dieser Entwicklung hatte… Ich könnte damit leben, dass du mich dann hassen würdest. Aber du würdest daran verzweifeln. Und das wäre um Vieles schlimmer. Nantai deutete die grimmige Miene des Freundes nicht zu Unrecht als Zeichen von dessen Erschütterung. Aber er glaubte ihre Ursache zu kennen, und fragte deshalb nicht. Bill sollte sich nicht mehr länger Vorwürfe machen... er hat keine Schuld an meinem Schwur. Seine Entscheidung war ohnehin unumkehrbar. Niemand, nicht einmal der Freund, würde ändern können, dass er sich den dunklen Schamanen ausgeliefert hatte... Aber daran wollte er nicht denken. Nicht jetzt, und nicht hier, an diesem wundervollen Ort. Rücklings sank er ins Gras und schloss die Augen. Sandte seinen Geist erneut auf die Reise. Vielleicht würde noch einmal geschehen, was eben geschehen war. Vielleicht durfte er dieses Wunder noch einmal erleben... Und fast im selben Moment spürte er sie wieder. Stärker fast als vorhin. Aber auch sie erkannte ihn sofort. Begann erneut, nach ihm zu tasten. Sie neckte ihn, lockte ihn. Als sei sie ein lebendiges Wesen. Öffne dich für mich, Waldbewohner. Lass mich zu dir! Vorhin hatte Bill verhindert, dass er ihrem Ruf folgte. Diesmal hinderte ihn niemand, und er gab dem Locken nach. Fühlte voller Staunen, wie sie ihn mit all ihrer Macht erfüllte. Wie die Mutlosigkeit mit jedem Atemzug rascher schwand. Und mit ihr all die Verzweiflung, und die Hoffnungslosigkeit - sinnlos geworden angesichts der ungeheuren Kraft, die ihn jetzt erfüllte... Nichts und niemand würde ihm noch widerstehen können... Selbst die Schamanen nicht. Mit einem Mal war seine Lage nicht mehr aussichtslos. Er war stark geworden, viel stärker als alle anderen. Er war unbesiegbar, groß und mächtig. Wie der Baum in seinem Traum in Megalaia. Aber der Energiestrom endete nicht, sondern wurde stärker und stärker. Irgendwann verlor Nantai die Kontrolle über seinen Körper. Begann am ganzen Leib zu zittern. Und sein Herz pochte mit entsetzlicher Macht, dem Zerspringen nah, während sich zugleich ein eiserner Ring enger und enger um seine Brust legte und ihm die Luft zum Atmen nahm. Panisch versuchte er, sich zu verschließen und den tödlichen Strom aufzuhalten, der ihn zu verschlingen drohte. Zu spät. „Bill… bitte hilf… mir…!“ stöhnte er mit letzter Kraft. Auch Bill Hunter hatte die pulsierende Energie wahrgenommen und ihr Locken gespürt. Aber es hatte ihn keineswegs gedrängt, sich ihr zu öffnen. Stattdessen hatte er fasziniert zugesehen, wie Nantai sie in sich aufnahm, und wie sich ihre Intensität dabei um ein Vielfaches verstärkte. Vollkommen gebannt hatte er die Gefahr viel zu lange nicht erkannt, in der der Freund schwebte. Erst Nantais Hilferuf ließ ihn entsetzt aufspringen. Du musst ihm helfen, sonst stirbt er!! Ohne zu wissen, was er tat, und warum, packte er den Sterbenden unter den Armen, zerrte ihn zum See, und sprang hinein, den zitternden Körper fest an sich gepresst, und in der irrwitzigen Hoffnung, den Energiefluss auf diese Weise zu beenden. Und tatsächlich geschah, was er hoffte. Sobald sie im Wasser versanken, erschlaffte Nantai in seinen Armen. Wurde plötzlich so schwer, dass Bill seine ganze Kraft aufwenden musste, ihn ans Ufer zu schleppen und aus dem Wasser zu ziehen. Tropfnass und nach Atem ringend, fiel er neben dem reglosen Körper ins Gras. Schon wenig später öffnete Nantai die Augen wieder. Er setzte sich auf, blickte verwirrt um sich. „Was ist geschehen?“ „Mach das nie wieder!“ keuchte Bill atemlos. „Es bringt dich sonst um - und mich gleich mit, wenn ich dich noch einmal retten muss.“ Nantai runzelte die Stirn. „Wovon sprichst du?“ Bill musterte ihn scharf. „Das weißt du nicht?“ „Nein.“ „Du hast so etwas nie zuvor erlebt?“ „Nein….“ Nantai zögerte plötzlich. „Doch“ sagte er dann, „das war…“. Und verstummte. Er hatte tatsächlich Ähnliches erlebt - in der Nacht seines Angriffs auf Doro …und ein zweites Mal - vor wenigen Tagen, als er auf der Zugfahrt der Macht in seinem Innern eben noch entronnen war. „Wann war das?“ drängte Bill. „Als ich Doro angriff“ gestand er bedrückt. „Und auf der Fahrt hierher, als ich zu lange in meiner Trance verblieb.“ Dann schilderte er Bill Hunter, wie die Energie des Unwetters seinen Zorn ins Unermessliche gesteigert und ihn zum Angriff auf Doro getrieben hatte. Und, wie er im Zug hatte kämpfen müssen, um dieser Macht nicht erneut zu erliegen... nicht erneut zu diesem Ungeheuer zu werden. „...Beide Male fühlte ich entsetzliche Kräfte in mir, ohne ihren Ursprung zu kennen...“ Bill Hunter blickte ihn nachdenklich an und schüttelte sachte den Kopf. „Ein Grund mehr, so etwas nicht mehr zuzulassen, mein Freund! Ein Grund mehr, dass du lernst, deine Gabe zu beherrschen. Wenn meine Vermutung zutrifft, verfügst du nämlich über Kräfte, wie sie seit langem kein Sterblicher mehr besaß.“ „Kräfte, wie sie seit langem kein Sterblicher mehr besaß?!“ Nantais Miene und Stimme verrieten seine grenzenlose Überraschung. „Was weißt du über meine Gabe, Bill?“ Bill lächelte vage. „Das ist eine komplizierte Geschichte, Nantai, außerdem hege ich diesen Verdacht schon etwas länger, aber ich wollte...“ „Welchen Verdacht?!“ Nantai ließ ihn nicht zu Ende reden. „Was weißt du, Bill? Sag es mir!“ „Ich muss vorausschicken, dass ich mich in solchen Dingen nicht wirklich gut auskenne“ erwiderte sein Begleiter zögernd, „und dass es sich bei allem, was ich dir jetzt sage, lediglich um Vermutungen handelt, die du mit großer Vorsicht betrachten solltest.“ Nantai hörte ihm kaum zu. Rede endlich! „Also gut!“ Bill seufzte. „Allerdings muss ich zuerst etwas weiter ausholen…“ Er runzelte die Stirn. Überlegte. „Meine Großmutter versuchte stets, ihr gewaltiges Wissen mit mir zu teilen“ begann er schließlich. „Doch zu meinem Bedauern vergaß ich vieles davon wieder… manches jedoch nicht. So erinnere ich mich zum Beispiel noch sehr gut, wie sie mir von einer Gabe erzählte, deren Träger die Kräfte seiner Umgebung aufnehmen und lenken kann. Sie sagte, wer diese Gabe besitze, verfüge über gewaltige Macht und könne Dinge bewirken, die weit über die Möglichkeiten normaler Sterblicher hinausgingen. Allerdings…“ „Du glaubst, dass ich diese Fähigkeit besitze?“ Nantai runzelte die Stirn. „...Eine Fähigkeit, von der ich nie zuvor hörte, und die dem Anschein nach niemand kennt - selbst mein Vater und der Älteste nicht...?“ „Sie ist so selten geworden, dass fast niemand sie mehr kennt“ erläuterte Bill. „Auch meine Großmutter wusste nur von ihr, weil einer unserer Vorfahren sie einst besaß, und das Wissen um sie deshalb in unserer Familie von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Lange Zeit hoffte man nämlich, sie werde sich eines Tages wieder zeigen, sei es in unserer Familie, oder...“ „…oder bei jemandem wie mir?“ Nantais Aufregung ließ ihn nun jede Zurückhaltung vergessen. Bill brachte seine Ausführungen unbeeindruckt zu Ende. „... oder bei einer anderen. Aber dies geschah viele Generationen nicht. Es scheint, als sei diese Fähigkeit aus unserem Volk verschwunden...“ Ein trauriges Lächeln erschien auf Bills Gesicht. „Meine ganz persönliche Theorie lautet, dass wir Menschen mit dieser Gabe so viel Unheil anrichteten, dass die Geistwesen sie uns wieder nahmen.“ Nantai legte die Stirn erneut in Falten. „Wieso lässt du mich glauben, dass ich diese Fähigkeit besitze - und sagst jetzt, fast im selben Atemzug, sie existiere gar nicht mehr?“ Weil ich mir nicht sicher bin, Nantai. Aber die Schattendiener glauben, dass sie wiederkehrt. Nur deshalb sind sie seit Jahren hinter dir her. Aber das sagte Bill nicht. „Ich warnte dich vorhin nicht umsonst, dass meine Worte mit Vorsicht zu betrachten sind“ sagte er stattdessen. „Ich bin der Falsche, um die Art deiner Gabe zu bestimmen, und erwähnte diese Fähigkeit eigentlich nur, weil ich nie zuvor solch große Energie in jemandem wahrnahm wie in dir. Und nicht zuletzt würde diese Fähigkeit auch das große Interesse der dunklen Schamanen an dir erklären - durch sie würde den beiden eine ungeheure Macht zuteil.“ Er musterte Nantai besorgt. „Ungeachtet, ob es sich bei deiner Gabe um diese Fähigkeit handelt oder nicht, steht jedoch fest, dass du keinerlei Kontrolle über sie besitzt!! Du darfst nie wieder zulassen, dass sie so mächtig wird wie eben!“ „Glaubst du denn, dass ich diese Gabe überhaupt beherrschen könnte - vorausgesetzt, ich besäße sie tatsächlich?“ fragte Nantai. „Das weiß ich nicht“ erwiderte Bill. „Eine gewaltige Herausforderung wäre sie in jedem Fall. Schon meine Gabe hat mir alles abverlangt - und sie besitzt nicht annähernd dieselbe Macht.“ „Dann logen die Schamanen also nicht, als sie behaupteten, ich könne meine Gabe nur mit ihrer Hilfe beherrschen?“ Unschlüssig wiegte Bill den Kopf hin und her. „Wenn du diese Fähigkeit tatsächlich besitzt, dann sprachen sie die Wahrheit“, meinte er schließlich. „Dann hättest du ohne ihre Hilfe sehr wahrscheinlich keine Chance.“ Nantais Blick verharrte nachdenklich auf der glatten Oberfläche des Sees. Diese Fähigkeit würde so vieles erklären... Die ungeheure Macht, die sich jeder Kontrolle entzog. Den Umstand, dass noch niemand ihre Art erkannt hatte, nicht einmal der Vater. Und nicht zuletzt das große Interesse der Schamanen an ihm - so groß, dass sie ihn trotz seines Frevels nicht getötet hatten! „Wenn ich diese Fähigkeit tatsächlich besitze, war es am Ende ein ausgesprochen glücklicher Zufall, dass du mit den dunklen Schamanen ausgerechnet diejenigen batest, mich zu lehren, die als einzige dazu in der Lage sind“ stellte er mit plötzlichem Sarkasmus fest. „Und weil ich den beiden in diesem Fall ohnehin ausgeliefert wäre…“ Er grinste schwach, „…bräuchten wir künftig nicht mehr darum streiten, wer von uns beiden die Verantwortung für meinen Schwur trägt.“ Wie gut, dass du nicht weißt, dass ich die beiden nicht zufällig fragte… Bill verspürte das dringende Bedürfnis, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben. „Noch wissen wir nicht sicher, worin deine Gabe besteht“ gab er zu bedenken. „Aber vielleicht kommen wir der Antwort näher, wenn du dich an Situationen erinnerst, in denen du sie zuvor wahrnahmst“ sagte er. „Sie hat sich mit Sicherheit schon früher gezeigt, allerdings wohl so schwach, dass du es nicht bemerkt hast.“ Ein plausibler Vorschlag. Und dennoch zögerte Nantai. Etwas in ihm sträubte sich plötzlich, in die Vergangenheit einzutauchen. Aber dann siegte die Sorge, eine Chance zu vergeuden. „Es wird zumindest nicht schaden, wenn ich es versuche“ seufzte er. …“Versuch es am besten sofort, solange die Erinnerung an die Wirkung deiner Gabe noch so lebendig ist!“ Warum drängte Bill nur so sehr? Er hätte diesen Moment viel lieber noch ein wenig hinausgeschoben. Trotzdem legte er sich jetzt ins Gras und schloss die Augen. Fiel erstaunlich rasch in den Zustand, der ihm das Eintauchen in seine Erinnerungen ermöglichte - obwohl er wusste, dass sie wehtaten. Denn sie führten ihn zu Doro, und zur Nacht seines Angriffs, in der ihm die gewaltige Energie des Gewitters die Kontrolle über sein Handeln geraubt hatte. Er sah die fürchterliche Angst in Doros Augen wieder, sah Hände ihren Hals umklammern… seine Hände. Damals hatte seine Gabe zum ersten Mal ihre furchtbare Macht offenbart. Allerdings hatte sie sich nicht zum ersten Mal gezeigt, wie er erst jetzt begriff… es hatte schon zuvor Situationen gegeben, in denen sie ohne sein Wissen gewirkt hatte… ... als er mit Doro am magischen Ort im Park gewesen war, und so heftig auf die Kräfte dort reagiert hatte… und noch früher, … als er nach dem Überfall den Park zum ersten Mal wieder nachts besucht und geglaubt hatte, allein das Wasser der magischen Quelle habe ihm die lähmende Angst genommen. Jetzt wurde ihm klar, dass ganz andere Kräfte am Werk gewesen waren… Damals jedoch war seine Gabe Hilfe, und nicht Bedrohung gewesen. Warum war sie es jetzt? Auch der seltsame Traum aus Megalaia erhielt zum ersten Mal einen Sinn. Dass die Erde ihn verschlang, sollte ihm zeigen, was geschah, wenn seine Gabe die Macht über ihn gewann. Zum mächtigen Baum dagegen wurde er, wenn er sie beherrschte. Bill hatte Recht. Seine Gabe hatte sich schon früher gezeigt… Sehr langsam und zögerlich tauchte er schließlich aus den Erinnerungen wieder auf. „Was hast du gesehen?“ Bill starrte ihn so intensiv an, dass Nantai unwillkürlich versuchte, seinen Geist zu verschließen. „Keine Sorge, du musst dich nicht vor mir schützen!“ Der Freund rückte ein Stück von ihm ab. „Besser so?“ Er nickte - und ärgerte sich über sich selbst. Warum war noch immer so viel Misstrauen in ihm? Bill hatte für ihn sterben wollen! Ich bin ein Idiot! Wenn ich ihm nicht vertraue - wem soll ich dann vertrauen? „Was hast du gesehen, Nantai?“ Bill wiederholte die Frage, nun deutlich bemüht, nicht mehr zu drängen. Sodass Nantai die Bedenken beiseite wischte und zu schildern begann, wann seine Gabe zuvor gewirkt hatte. Und Bill hörte zu. Achtete auf jedes Detail. Versuchte, sich jedes Wort einzuprägen. Weil jede Kleinigkeit von Bedeutung sein, jede Kleinigkeit alles verändern konnte. „Halfen dir meine Erinnerungen weiter? Weißt du nun, ob es sich bei meiner Gabe um diese besondere Fähigkeit handelt?“ Erwartungsvoll schaute Nantai ihn an - Bill hatte sehr aufmerksam gelauscht, hatte immer wieder genickt, als sei ihm vieles klar geworden. Aber nun zuckte er bedauernd die Schultern. „Es tut mir Leid, aber im Augenblick kann ich nichts dazu sagen. Gib mir noch ein wenig Zeit zum Nachdenken.“ Nantais Enttäuschung war groß. „Und ich? Soll ich untätig hier herumsitzen, bis du mit Nachdenken fertig bist?“ „Nein, das wäre keine gute Idee.“ Bill erhob sich und streckte ihm die Hand hin. „Wir gehen wieder ins Dorf zurück, damit du auf andere Gedanken kommst. Ich vermute nämlich, dass dein seelischer Zustand das Wirken deiner Gabe beeinflusst. Und in diesem Fall wären ein wenig Ablenkung und innere Ruhe der beste Schutz für dich.“ Als sie die ersten Hütten erreichten, verabschiedete sich Bill jedoch. „Ich werde mich ein wenig in den Wald zurückziehen, weil ich dort besser nachdenken kann.“ Nantai bat ihn, am Abend zurück zu sein. „Meine Mutter hat mir ein Festessen versprochen, und ich möchte, dass du daran teilnimmst. Als meinem Freund und Retter steht dir nämlich der Ehrenplatz an meiner Seite zu.“ „Keine Sorge, ich werde rechtzeitig zurück sein!“ Trotz seines Lächelns wirkte Bill Hunter bedrückt. Ob er sich immer noch für den Rauchschwur verantwortlich fühlte? Ich muss mit ihm darüber reden. Ich will nicht, dass Bill sich schuldig fühlt. Dieser Handel war allein meine Entscheidung! Nantai starrte dem Freund hinterher, bis dieser im Schatten der Bäume verschwand. Dann machte er sich auf den Weg nach Hause, wo die Eltern ihn bereits am Feuer erwarteten. Doch er hatte sich kaum gesetzt, als der erste Besucher erschien ...kurz darauf der zweite, dann der dritte... - der Zustrom riss nicht ab, bis sich eine recht eindrucksvolle Menge vor der Hütte versammelt hatte. „Erzähl uns von Megalaia, Nantai!“ rief einer, und erntete sogleich von allen Seiten Zustimmung. „Er hat Recht!“ „Rede endlich, Nantai!“ „Wir möchten hören, wie es dir in der Fremde erging!“ „Du darfst uns nicht länger auf die Folter spannen!“ „Wir haben noch keine Geschichte von dir gehört, obwohl du schon viele Tage unter uns weilst, Nantai!“ Sie hatten so lange gewartet. Sie wollten endlich etwas hören von der weit entfernten und fremden Welt, die ihre Fantasie so ungemein beflügelte. Lächelnd fügte sich Nantai in sein Schicksal. Und begann zu erzählen. Und sie lauschten voller Staunen und voller Hingabe. Schüttelten immer wieder die Köpfe über seine Erlebnisse, ungläubig, verblüfft. Wollten nicht glauben, was er sagte. Aber noch während Nantai erzählte, wuchs sein Empfinden, die Geschichte eines anderen zu erzählen. Merkwürdig fremd erschienen ihm die eigenen Erinnerungen an Megalaia, als er sie jetzt in Worte fasste. Als seien sie gar nicht wirklich, sondern allein seinen Träumen entsprungen. Bis auf seine Erinnerungen an Doro. Zu heftig war der Schmerz, wenn er eine Begebenheit schilderte, die an sie erinnerte. Auch wenn er Doro mit keiner Silbe, mit keinem Wort, jemals erwähnte. Niemand sollte von diesem Kummer erfahren. Nicht, solange er noch so groß war. Nur einer ahnte, warum er sich hin und wieder unterbrach, und für kurze Zeit nachdenklich innehielt - Bill Hunter, der unbemerkt zurückgekehrt, die Szenerie aus dem Hintergrund beobachtete. Irgendwann - die Zeit war wie im Flug vergangen - trat Pohawe vor die Menge und erklärte, ihr Sohn habe den ganzen Tag nicht gegessen. Also habe sie gekocht, anstatt seinen Geschichten zu lauschen wie die anderen, und sei nun fertig. Bruchteile von Sekunden später war aus der aufmerksam lauschenden Runde eine fröhlich feiernde Gesellschaft geworden. Einige sprangen auf, um Pohawe zu helfen, andere brachten eigenes dazu, und nach kurzer Zeit stand vor der Hütte ein wahres Festmahl aufgebaut. Die Feier konnte beginnen. Nur einer fehlte noch... Nantais Blick glitt über die Gesichter der Versammelten, bis er den Gesuchten fand. Fröhlich winkte er Bill zu sich. „Komm! Du musst neben mir sitzen.“ Während sie aßen, begannen andere zu erzählen. Immer wieder unterbrochen von Rufen und Gelächter der Zuhörer, gaben sie die alten Geschichten der Waldvölker zum Besten. Auch Nantai rief dazwischen, wenn sich die Gelegenheit bot, und freute sich über gelungene Scherze. Lachte wie sie, unbeschwert und fröhlich. Es war, als sei er niemals fort gewesen. Als habe es die einsamen Jahre in Megalaia niemals gegeben. Er dachte nicht mehr an Doro, nicht an die dunklen Schamanen, nicht an den Schwur... so wie Bill Hunter es erhofft hatte. Sehr spät erst löste sich die Versammlung auf. Zuerst waren es die Kinder, die sich schlafen legten, dann folgten auch die Erwachsenen. Einer nach dem anderen erhob sich jetzt, verabschiedete sich gähnend, und ging. Bald darauf waren die Eingänge der Hütten mit Tüchern verhängt und die Feuerstellen mit Steinen bedeckt, die verhinderten, dass der Funkenflug einen Brand auslöste und dennoch die Glut bis zum Morgen am Glimmen hielten. Am Ende brannte nur noch das Feuer vor Achaks Hütte. Sein warmer Schein beleuchtete die Gesichter der beiden Männer, die dort saßen. Bill Hunter starrte nachdenklich in die Flammen. Er hatte nicht lange an der fröhlichen Runde teilgenommen, war gleich nach dem Essen verschwunden, und erst wieder gekommen, als die Menge sich zu zerstreuen begann. „Warum wolltest du nicht mit uns feiern?“ hatte Nantai ihn bei der Rückkehr gefragt. „Weil ich Ruhe brauchte“ hatte Bill knapp geantwortet. Seitdem saß er dort, starrte in die Flammen, und sagte kein Wort. Erst als Nantai die Geduld verlor und sich erhob, blickte Bill auf. „Gehst du schon schlafen?“ fragte er überrascht. „Nein“ erwiderte Nantai. „Ich gehe in den Wald...dort kann ich am besten nachdenken - so wie du.“ Seit der Heimkehr hatte er keine Gelegenheit für einen längeren Aufenthalt zwischen den Bäumen gefunden, sodass es ihn jetzt fast magisch in ihre lebendige Finsternis zog. „Warte nicht auf mich, ich werde länger wegbleiben... bis morgen!“ Er eilte so rasch davon, dass ihm entging, wie der Freund sich nun rasch erhob und ihm folgte. Und noch ehe er die letzten Hütten der Siedlung hinter sich ließ, hatte Bill ihn eingeholt. „Warte bitte, Nantai!“ Nantai lächelte erfreut. „Willst du mitkommen?“ „Das würde ich wirklich gerne tun.“ Warum war Bills Miene dann so ernst? „Aber leider muss ich dich in deinem Tatendrang bremsen. Die Schamanen wollen nämlich nicht, dass du das Dorf verlässt.“ Entgeistert starrte Nantai ihn an. „Soll das bedeuten, dass ich nicht in den Wald gehen darf?“ Bill zuckte mit den Schultern. „Ich würde annehmen, dass es genau dies bedeutet. Und ich rate dir gut, dich an ihre Anweisung zu halten, so sinnlos sie auch erscheinen mag.“ Er seufzte. „Es tut mir wirklich leid.“ Das konnte nicht wahr sein! Bill scherzte nur! Doch weder Blick noch Stimme des Freundes ließen einen Zweifel an seiner Ernsthaftigkeit zu. Enttäuscht ließ sich Nantai ins Gras fallen. „Kannst du mir verraten, was die beiden damit bezwecken? Fürchten sie etwa, dass ich mich hoffnungslos im Wald verlaufe, und sie mich nicht mehr wieder finden?“ fragte er bitter. Bill hockte sich zu ihm. „Ich kenne ihre Absichten so wenig wie du, Nantai. Vielleicht wollen sie auf diese Weise lediglich prüfen, ob du deinen Schwur einhältst, vielleicht wollen sie dich aus anderen Gründen hier im Dorf festhalten. Begründet haben sie ihren Befehl auf jeden Fall damit, dass sie nach der Rückkehr sofort aufbrechen wollen, und du dich deshalb jederzeit bereithalten musst. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass sie ausgerechnet heute Nacht hier aufkreuzen - aber verlassen würde ich mich an deiner Stelle besser nicht darauf.“ Nantai blickte zum Waldrand hin. „Warum quälen sie mich auf diese Weise? Genügt ihnen mein Schwur denn nicht?“ murmelte er, so traurig und niedergeschlagen, dass Bill Hunter die übliche Zurückhaltung aufgab und den Arm um Nantais Schulter legte. Doch selbst diese tröstliche Geste konnte Nantai nicht aufmuntern. Mit gesenktem Kopf starrte er trübe vor sich hin. Bill räusperte sich. „Eigentlich wollte ich noch eine Nacht verstreichen lassen, ehe ich mit dir darüber spreche. Aber wie ich sehe, würde dir ein wenig Aufmunterung jetzt gut tun.“ „Warum so geheimnisvoll?“ Nantai löste den Blick vom Boden. „Worüber wolltest du erst morgen mit mir sprechen?“ „Ich weiß einen Weg, wie du Zugang zu deiner Gabe erhalten und sie vielleicht sogar bis zu einem gewissen Grad kontrollieren kannst.“ Trotz der Dunkelheit erkannte Bill, dass Nantais Miene sich sofort aufhellte. „Was dir daran allerdings weniger gefallen wird“ fügte er hinzu, „ist, dass ich mich zu diesem Zweck noch einmal mit dir verbinden muss.“ Nantais Miene verfinsterte sich ebenso rasch wieder, wie sie sich eben noch aufgehellt hatte. Er erinnerte sich viel zu gut an diese Nähe - und hatte gehofft, sie nie wieder erfahren zu müssen. „Muss das wirklich sein? Gibt es keine andere Möglichkeit?“ „Deine Erinnerungen waren zwar recht hilfreich...“ Bill blieb gelassen „...aber sie reichten leider nicht aus, um die Art deiner Gabe zu begreifen. Das gelingt uns sehr wahrscheinlich nur, wenn du mir erlaubst, in dir zu lesen. Auf diese Weise könnte ich erkennen, wie deine Gabe wirkt - und damit auch, wie du verhindern kannst, dass sie die Macht über dich gewinnt. Vielleicht erfahren wir sogar, wie du sie lenken kannst. Dann wärst du ihr nicht mehr so hilflos ausgeliefert wie jetzt und könntest sie vielleicht sogar zu deinem Vorteil nutzen!“ Nantai antwortete nicht. Seine Erinnerung an die letzte Verbindung mit Bill war zu frisch, um ihn für diesen Vorschlag zu begeistern. Selbst wenn er auf diese Weise tatsächlich Zugang zu seiner Gabe erhielt, erschien ihm Bills Nähe alles andere als verlockend. Bill Hunter spürte das. „Ich will dich nicht drängen, Nantai“ versicherte er. „Ich weiß sehr gut, wie unangenehm mein Vorgehen für dich beim letzten Mal war. Lass dir meinen Vorschlag also in aller Ruhe durch den Kopf gehen, und sag mir, wenn du dich entschieden hast. Ich kann warten.“ Er stand auf. Blickte mit ernster Miene auf Nantai hinunter. „Bedenke aber, dass die Schamanen jeden Tag hier erschienen könnten - und dass es dann zu spät sein wird.“ Diese Worte riefen Nantai schmerzlich ins Bewusstsein, wie seine Zukunft aussah: Die dunklen Männer würden wieder kommen - morgen, übermorgen, in einigen Tagen vielleicht. Vielleicht würden sogar Wochen bis zu ihrer Rückkehr vergehen. Bis zu diesem Tag würde er morgens aufstehen, ohne zu wissen, ob er am Abend noch hier sein würde. Bis zu diesem Tag würde er frei sein - und gefangen zugleich. Weil er zuschauen würde, wenn die anderen in den Wald zogen, dazu verdammt war, im Dorf zu bleiben. Wie ein kranker alter Mann. Bis die dunklen Männer wieder kamen, würde er an jedem Morgen auf ihre Ankunft warten. Und dennoch an jedem Morgen hoffen, sie kämen nicht. Angesichts dieser Perspektive verlor Bills Vorschlag viel von seiner Bedrohlichkeit. Im Gegenteil: Mit der Hilfe des Freundes könnte er wieder zum Handelnden werden, vielleicht sogar lernen, seine Gabe zu lenken! Und Bill schien sein Zögern zu spüren. Denn er ging nicht. Stand noch immer bei Nantai, und wartete. Aber irgendetwas warnte Nantai noch immer davor, sich erneut auf die Nähe des Polizisten einzulassen. Noch zögerte er. „Frag mich morgen wieder“, murmelte er. „Ich muss eine Nacht darüber schlafen.“ Bill zuckte mit den Schultern. „Meinetwegen kannst du so oft darüber schlafen, wie du möchtest. Schließlich geht es um dein Leben, nicht um meines. Gute Nacht!“ Aber auch Nantai hielt es nicht mehr lange in der Nähe des Waldes. Das Verbot der Schamanen ließ den Anblick der Bäume für ihn jetzt zur Qual werden, und er kehrte kurz nach dem Freund in die Siedlung zurück. Bei seiner Ankunft war der Platz vor der Hütte verwaist, und das Feuer niedergebrannt, und mit Steinen bedeckt. Auch im Innern der Behausung regte sich nichts, lediglich die gleichmäßigen Atemzüge von Schlafenden waren zu hören. Lautlos, um niemanden zu wecken, schlich er hinein, und legte sich auf seinen Platz neben Bill Hunter. Und schlief trotz der Müdigkeit lange Zeit nicht ein. Weil er wieder und wieder über den Vorschlag des Freundes nachdachte. Wieder und wieder in sich hineinhorchte. Wieder und wieder Chancen gegen Bedenken abwog. Bis er schließlich eine Entscheidung traf. Dann erst fand er Ruhe. Nantai erwachte ungewohnt spät - und nur, weil die beiden Brüder draußen lautstark eine ihrer zahllosen Streitigkeiten austrugen. „Deine Portion ist viel größer als meine! Gib mir etwas ab“ beschwerte sich der Ältere. „Das stimmt nicht! Du hast mehr als ich! Sieh doch“ widersprach der Jüngere. Pohawe versuchte die beiden Streithähne zu besänftigen. „Könntet ihr bitte etwas leiser sein? Nantai und sein Freund schlafen noch!“ Mit unerwartetem Erfolg. Denn der Streit endete sofort. „Erstens sind wir nicht laut“ erklärten die Jungen in plötzlicher Einmütigkeit. „Und zweitens ist es schon spät. Nantai und sein Freund sollen endlich aufstehen!“ Nantai schmunzelte. Ganz schön frech, die beiden! Andererseits hatten sie Recht, es war tatsächlich schon spät. Er wandte sich zu dem schlafenden Freund und versetzte ihm einen kräftigen Stoß in die Rippen. „Aufstehen, du Schlafmütze!“ Bill fuhr erschrocken hoch. „Verdammt, was…“ Dann begriff er, wer ihn so unsanft geweckt hatte, und sank auf sein Lager zurück. „Gib mir noch fünf Minuten...“ „Was hältst du von einem Sprung in den See zum Wachwerden?“ schlug Nantai gut gelaunt vor. „…und danach…“ Er zögerte „…danach sollten wir zusehen, dass wir mehr über meine Gabe herausfinden.“ Bill setzte sich überrascht auf. „Du stimmst meinem Vorschlag also zu?“ „Ich möchte nicht länger herumsitzen und tatenlos auf die Rückkehr der Schamanen warten“ erwiderte Nantai. „Obwohl mir die Aussicht immer noch nicht gefällt, mich erneut so eng mit dir zu verbinden.“ Trotz des Dämmerlichts in der Hütte sah er, dass Bills Miene sich verhärtete. „Vertraust du mir etwa nicht, Nantai?“ Und plötzlich lag eine seltsame Spannung in der Luft. Plötzlich war Nantais eben noch gute Laune wie weggeblasen. Vertraue ich Bill tatsächlich nicht genug? Zum ersten Mal fragte er sich jetzt, ob er sich aus diesem Grund so sehr gegen die Verbindung mit dem Polizisten wehrte. Aber dann zuckte er die Achseln. „Ich sehe keinen Grund, dir zu misstrauen, Bill.“ Mit einem gezwungenen Lächeln versuchte er, die Spannung zu überspielen. „Trotzdem möchte ich diese Geschichte rasch hinter mich bringen.“ „Du solltest ganz sicher sein, dass du das wirklich willst, Nantai.“ Bills Blick schien ihn zu durchbohren. „Unsere Verbindung wird sich nämlich ganz anders anfühlen als beim letzten Mal.“ „Ich würde sehr gerne darauf verzichten…“ Mit einem Mal wirkte Nantai gereizt. „…aber ich weiß keine bessere Möglichkeit, wie ich mehr über meine Gabe erfahren kann - oder ist dir inzwischen eine eingefallen?“ „Nein, leider nicht.“ Bill schüttelte nachdenklich den Kopf. Wenn Nantai sich so sehr gegen die Verbindung wehrte, stand ein harter Kampf bevor... andererseits konnte er nur auf diese Weise mehr über die mächtige Gabe des Freundes erfahren - und das wollte er, mehr denn je. „Lass uns zuerst schwimmen gehen“ sagte er. „Danach können wir in Ruhe über alles reden.“ Nantai erhob sich. „Einverstanden.“ Aber die Spannung zwischen ihnen war mit Händen zu greifen. Plötzlich hellte sich Bills Miene auf. „Lust auf einen Wettlauf?“ Nantai nickte - und Bruchteile von Sekunden später entlud sich die schwelende Spannung in einem verbissenen Zweikampf zum See, den Nantai zu Bills Unmut, wenn auch nur knapp, gewann. Nach Luft ringend, standen sie Seite an Seite am Seeufer. „Den Wettlauf hast du gewonnen“ stieß Bill zwischen zwei Atemzügen hervor, „aber beim Schwimmen siege ich!“ „Das werden wir sehen!“ erwiderte Nantai nicht minder atemlos. Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als Bill sich bereits auszog, die Kleider achtlos zu Boden warf und ins Wasser hechtete. Wenig später tauchte er prustend wieder auf. „Dann zeig mir, was du kannst!“ Ein weiterer verbissener Kampf folgte, ehe sie die andere Seite des Sees erreichten, Bill Hunter diesmal knapp vor Nantai. „Das reicht, jetzt sind wir quitt!“ Stöhnend zog sich der Polizist am Uferrand hoch und ließ sich erschöpft ins Gras fallen. Nantai tat es ihm gleich. Lange Zeit lagen sie mit geschlossenen Augen und lauschten dem eigenen Atem, der sich nur langsam beruhigen wollte. Die Spannung zwischen ihnen war ebenso verpufft wie Nantais Groll. Allein seine Zweifel wollten nicht weichen. Vertraue ich Bill tatsächlich genug, um seine Nähe noch einmal zuzulassen? Will ich diese Verbindung wirklich? Er horchte in sich hinein. Fühlte sein Herz wild pochen und die Muskeln vor Anstrengung vibrieren. Fühlte die wohltuend warme Berührung der Sonne auf seiner Haut, und das Leben, das in seinen Adern pulsierte. Aber auch die gewaltige Energie, die um ihn war… und ihr Drängen, sich ihr erneut zu öffnen... Ein seltsamer Zufall hatte sie an den Ort geführt, an dem sie auch gestern gewesen waren. Wenn ich nur über einen Bruchteil dieser Energie verfügen könnte! Ich müsste niemanden mehr fürchten, selbst die dunklen Schamanen nicht… Er widerstand ihrem Ruf nur, weil die Erinnerung an ihre entsetzliche Macht noch so nahe war. Und wenn Bill mir tatsächlich helfen kann, diese Kräfte zu nutzen? Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Ich muss es wagen. Schließlich habe ich nichts zu verlieren. Er hörte, wie der Freund sich aufsetzte, und schlug die Augen auf. Bill verzog das Gesicht zu einem aufmunternden Lächeln. „Ich für meinen Teil wäre soweit. Aber wenn du Bedenken hast, sollten wir jetzt darüber reden.“ „Wir müssen nicht mehr reden!“ Plötzlich waren Nantais Zweifel wie weggeblasen. „Ich möchte diese Verbindung… jetzt sofort.“ Bill sah ihn prüfend an. „Auch wenn meine Nähe diesmal eine andere sein wird? Kälter und gnadenloser als beim letzten Mal? Auch wenn meine Gabe mich in ein Wesen ohne Gefühle verwandelt, das du hassen und bekämpfen wirst?“ Kälter und gnadenloser als beim letzten Mal? War das überhaupt möglich? „Bedeutet das etwa, dass du mich dabei umbringen könntest?“ Er hatte Bills Warnung während der Zugfahrt keineswegs vergessen. „… Ein solches Vorgehen birgt allerdings Gefahren. Es kann denjenigen, dessen Willen ich gewaltsam brechen muss, den Verstand, vielleicht sogar das Leben kosten.“ Aber der Freund schüttelte energisch den Kopf. „Nein, Nantai! Selbst unter dem Einfluss meiner Gabe werde ich nicht vergessen, wer du bist und warum ich deinen Geist erforsche. Ich werde die Verbindung beenden, ehe sie dich in Gefahr bringen kann.“ „Was ist dann der Unterschied zum letzten Mal?“ „Deine Gabe ist eine Macht, die sich tief in deinem Innern verbirgt“ erklärte Bill. „Es wird nicht leicht sein, sie hervorzulocken, zumal ich nicht derjenige bin, dessen Ruf sie folgen will. Aus diesem Grund werde ich all meine Kraft einsetzen müssen - und das wirst du deutlich spüren. Diesmal wirst du deinen Widerstand nicht beherrschen können und alles versuchen, um mich wieder aus deinem Innern zu verbannen. Aber all deine Mühe wird vergeblich sein, weil ich mich erst zurückziehen werde, wenn ich gesehen habe, was ich sehen will - es sei denn, die Kräfte verlassen mich vorher, oder dein Leben gerät in Gefahr.“ Das klang alles andere als ermutigend. Und war dennoch die einzige Möglichkeit, mehr über die Macht in seinem Innern zu erfahren. Nantai seufzte. „Ein Grund mehr, diese Geschichte rasch hinter mich zu bringen!“ „Dann lass uns beginnen.“ Bills Miene war ernst geworden. „Du weißt, was du zu tun hast.“ Das wusste Nantai - und versuchte jetzt, den Zustand zu erreichen, der Bill Hunter den Zugang zu seinem Geist erleichterte... je weniger Kraft der Freund dafür aufwenden musste, desto besser würde auch er selbst dessen Eindringen ertragen. Doch tief in seinem Innern wollte er diese Nähe nicht, und es dauerte lange, bis er den eigenen Widerstand überwand. Endlich! Nantai öffnete die Augen - und sah Bills Blick starr auf sich gerichtet. ..Wie ein Raubtier, das die Beute kurz vor dem tödlichen Angriff fixiert... Ein Schauer überlief ihn. Noch konnte er zurück... „Ich bin soweit“ sagte er. Als habe er einen Schalter umgelegt, veränderte sich im selben Moment der Blick des Freundes und drang in ihn. Kalt wie die Klinge eines Dolchs. Ohne das behutsame Tasten wie beim letzten Mal, und ohne ihm Zeit zur Gewöhnung zu lassen. Und ehe Nantai begriff, hatte der Polizist eine Verbindung geschaffen, die niemand mehr lösen konnte. Bis auf Bill Hunter... oder der Tod. Nantai erstarrte. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen, so wenig wie auf die Härte, mit der sich der Freund jetzt den Weg in sein Innerstes bahnte. Erbarmungslos, gnadenlos. So entsetzlich anders als beim letzten Mal... Auch wenn meine Nähe eine andere sein wird? Kälter und gnadenloser als beim letzten Mal? Auch wenn meine Gabe mich in ein Wesen ohne Gefühle verwandelt, das du hassen wirst? Bill hatte nicht übertrieben. Er war ein Wesen ohne Gefühle geworden …wie die dunklen Schamanen! Oder zeigte er nur sein wahres Gesicht? War er wie sie? Jemand, der keine Empfindungen kannte, und keine Freundschaft? Kein Mitleid? Keine Skrupel? War Bill Hunter jemals sein Freund gewesen? Nantai versuchte, all diese Gedanken zu verdrängen, Widerwillen und Angst zu unterdrücken, und sich nicht zu wehren - wohl wissend, dass Widerstand ihm nicht half sondern schadete. Doch je länger die Verbindung bestand, desto heftiger wurde sein Drang, sich zu verschließen und Bill Hunter wieder aus seinem Innern zu verbannen. Und je länger sie währte, desto glühender wurde sein Hass auf den Mann, der ihm nun so nahe war - und dennoch fremder als jemals zuvor. Bis am Ende geschah, was Bill bereits prophezeit hatte. Bis er die Kontrolle über seine Instinkte verlor und sich zu wehren begann, nur noch von einem Gedanken beherrscht: diese Verbindung zu beenden. Doch Bill Hunter überwand seinen Widerstand scheinbar mühelos, und mit unnachgiebiger Härte. Drang tiefer und tiefer in seinen Geist. Zwang ihn, sein Innerstes zu offenbaren. Nantai wehrte sich. „Was tust du, Bill? Hör auf damit!“ schrie er verzweifelt. Aber der Polizist hatte sein Ziel noch nicht erreicht. Und Nantais Leben war nicht in Gefahr. Noch nicht. „Bill!! Bitte!!“ Nantai bettelte, fluchte, tobte. Drohte am Ende sogar. Doch alles Betteln und Fluchen, alles Toben und Drohen war vergebens. Erst als Bill Hunter gefunden hatte, wonach er suchte, löste er die Verbindung wieder... und im selben Augenblick brach Nantai zusammen. Reglos lag er im Gras, und starrte mit weit aufgerissenen Augen in den Himmel. Ohne etwas zu sehen. Weder den stahlblauen Himmel, noch die silbernen Wolken darin, oder den Vogelschwarm, der laut kreischend über den See zog. Ohne etwas zu fühlen. Weder die Wärme der Sonne, noch die laue Brise, die sanft über seinen Körper strich, oder den tröstlich festen Boden, der ihn trug. Ohne etwas zu hören. Weder das Zwitschern der Vögel, noch das Rascheln der Blätter im Morgenwind, oder die fröhlichen Stimmen spielender Kinder, die vom Dorf herüber drangen. Alles, was er wahrnahm, war die grauenvolle Leere in sich. Die nie wieder weichen würde... Es dauerte lange, bis Nantai wieder Leben in sich spürte und seine Sinne aus der Starre erwachten. Dann erst hörte er neben sich jemanden nach Atem ringen, und wandte den Kopf ... Bill Hunter saß dort - auch er sichtlich erschöpft. „Wenn ich könnte, würde ich dich umbringen!“ In diesem Moment meinte Nantai, was er sagte. „Das kann ich dir nicht einmal verübeln.“ Bills Stimme klang müde. „Du hast Glück, dass mir im Augenblick die Kraft dafür fehlt!“ stieß Nantai mit letzter Kraft hervor und rollte sich zur Seite - weg von dem Mann, den er eben noch als Freund betrachtet hatte, und der ihm nun fast grausamer erschien als die dunklen Schamanen. Was könnten die beiden mir antun, was er nicht bereits getan hat? Bill hatte ihm alles genommen. Nicht nur Kraft und Energie. Nicht nur seine Gefühle, Wünsche und Träume. Auch die Ängste und Sorgen. Er war innerlich wie tot. „Du wirst dich bald wieder besser fühlen, Nantai“ hörte er den Freund wie aus weiter Ferne sagen… den Freund? Er antwortete nicht. Spürte dann, wie sich eine Hand tröstend auf seine Schulter legte. „Lass mich in Ruhe“ zischte er, von jähem Zorn gepackt. Zumindest dieses Gefühl gab es also noch in ihm. Bill ließ sich nicht beirren. „Nutze deine neuen Kräfte, um deinen Körper und deine verletzte Seele zu heilen, Nantai“ sagte er ruhig, „ich lass dich jetzt alleine.“ Leises Rascheln im Gras, dann war es wieder still. Der Polizist hatte seine Ankündigung wahr gemacht, und war gegangen. Nantai regte sich lange Zeit nicht. Auch nicht, als seine Schwäche allmählich zu weichen begann. Denn die Leere in ihm blieb. Bill Hunter hatte all das zerstört, was ihn ausmachte. Warum nur? Was hatte der Polizist damit erreichen wollen? Er fand keine Antwort, schloss müde die Augen, und dämmerte vor sich hin… Dann spürte er sie plötzlich wieder, hörte sie rufen. Zuerst leise noch, dann immer lauter, forderten ihn die Kräfte dieses Ortes auf, sich erneut für sie zu öffnen. Zu schwach, ihrem Locken diesmal zu widerstehen, begann er, nach ihnen zu tasten. Zunächst sehr vorsichtig noch, und zog sich zurück, sobald er ihnen nahe kam. Doch er tastete wieder... und zog sich wieder zurück...wieder und wieder. Bis er das prickelnde Spiel zu genießen begann, sie, mutiger geworden, zum ersten Mal berührte... und ihnen dadurch den Zugang in seinen Körper gewährte. Panik ergriff ihn. Sie würden ihn überrollen, wie gestern... und diesmal war er alleine, Bill war nicht mehr hier, um ihn zu retten... Aber dieses Mal brauchte er keine Hilfe. Weil ihn die Kräfte dieses Mal nicht hinweg rissen, sondern gleichmäßig und sanft durch seine Adern flossen - ein stetiger und wohltuender Strom, der ihn schon nach kurzer Zeit mit wundervollem neuem Leben erfüllte. Und diesmal gelang es ihm mühelos, die Verbindung wieder zu lösen. Minutenlang lag er im Gras, war wie berauscht. Er hatte seine Gabe gefunden und sie zum ersten Mal lenken können! ...Wegen Bill Hunter. Dennoch fühlte er jetzt keine Dankbarkeit, sondern Zorn... entsetzlichen Zorn auf den Mann, der ihn zuvor so schrecklich gedemütigt hatte. Viel zu übermächtig war die Erinnerung an das vergebliche Bitten noch, an das hilflose Flehen - und an die unerbittliche Kälte des Polizisten. Sie überwog alles andere. Ließ ihn nicht mehr klar denken. Zwar hatte Bill Hunter ihm den Zugang zu seiner Gabe ermöglicht. Aber um welchen Preis? Er war gequält worden, zutiefst erniedrigt, gezwungen, sein Innerstes vor einem nahezu Fremden zu entblößen. Dafür würde der Polizist bezahlen. Jetzt.

Die Wälder von NanGaia

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