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Der Anfang
ОглавлениеWenn ich mir überlegen soll, wann alles begann, dann komme ich ins Stocken. Das ist zwar nicht gerade ein professioneller Anfang meiner Geschichte, aber ebenso wenig, wie ich das Ende kenne, bin ich mir über den Anfang nicht wirklich im Klaren.
Man kann spekulieren und nachforschen, eine Jahreszahl kreieren, ein Ereignis aus dem Gedächtnis hervorwühlen, man kann einen Anfangspunkt setzen für sich selbst und all die Nachfragenden. Nicht, dass man davon irgendwelche Vorteile hätte oder sich selbst beruhigen würde, man schafft eine Geburtsstunde für etwas, das man oft jahrelang unbewusst und vor allen Dingen ungewollt bei sich getragen hat.
Und wenn jemand fragt, dann kann man kurz und knackig eine Zahl aus dem Ärmel schütteln. Mit dem Satz “wahrscheinlich schon fast 10 Jahre” kommen viele besser klar, als mit “keine Ahnung, es hat mich einfach so vom Hocker gehauen”.
Wenn etwas also einen Anfang hat, dann hat es gewöhnlich auch ein Ende. Das allein ist es also wert, einen Beginn zu datieren, sagen wir also mal November 2005.
November ist nicht gerade mein Lieblingsmonat, und daher passt es ganz gut.
Irgendwann im November also durchfuhr mich der erste Stich, irgendwo im Kopf hinter meinem rechten Ohr. Er war stark und schmerzhaft und ließ mich sekundenlang zusammenschrecken. Er kam unangemeldet und traf mich bis ins Mark, er pflanzte sich unverhohlen in Richtung Hals und Schulter weiter, um sich dann in einem erholsamen Nichts aufzulösen.
Ich schenkte ihm zwangsweise Beachtung, aber genauso sekundenschnell, wie er gekommen war, vergaß ich ihn wieder. Ich war unter Anspannung, denn ich hatte mit einer anspruchsvollen Radioaktivstudie für meinen Chef begonnen, und da ich diese Studien nur sehr selten in meinem 20 jährigen Berufsleben gefahren habe, gehörte ihr meine ganze Aufmerksamkeit. Keine Routinearbeit also, und so war mein Hirn gefragt. Ich liebte diese Herausforderungen und besonderen Aufgaben, und so war ich ganz in meinem Element.
Den privaten Ausgleich fand ich im Erscheinen meines ersten Buches, ich war auf Lesungen und Märkten unterwegs und freute mich über die Erfüllung meines Traums, endlich ein Buch geschrieben zu haben. Das Buch empfing Anerkennung und damit ich auch, es war eine wirklich gute Zeit.
Inmitten dieser guten Zeit, erwischten mich immer häufiger diese Stiche, und bald gelang es mir nicht mehr, sie nach ihrem blitzartigen Erscheinen einfach zu vergessen. Immer häufiger blieb der Schmerz und erinnerte mich daran, dass da wohl etwas nicht stimmte in meinem stimmigen Leben.
Irgendwann dann wurde es wirklich unerträglich, und ich begab mich zu einem Hals-Nasen- und Ohrenarzt, um meinen Verdacht auf Mittelohrentzündung oder Ähnliches bestätigen zu lassen.
Dieser entzückende HNO schaute mir ins Ohr und in den Hals, um mir dann mitzuteilen, dass ich rein gar nichts hätte und mich, zusammen mit einem mittelmäßig bestandenen Hörtest, nach Hause zu schicken.
Die Schmerzen wurden mit den Tagen unerträglicher und ich war ohne jede Chance, etwas dagegen zu tun. Schmerztabletten aus dem heimischen Schrank halfen einfach nicht. So begab ich mich gequält zu meinem Hausarzt und erzählte ihm die Geschichte.
Mein Hausarzt sprach von Trigeminus-Neuralgie oder einer eventuellen Gürtelrose und gab mir Schmerzmittel in Elefantendosis mit. Beim nächsten Termin und vielen wirkungslosen Tabletten und Tropfen schien er hilflos und bat mich, ich solle mal zum Neurologen gehen.
Aha. Ich hielt also eine Überweisung zum Neurologen in den Händen.
In meinem bisherigen 40jährigen Leben war ich noch nie bei einem dieser Nervenärzte. Glaubte mein geschätzter Hausarzt etwa, ich bilde mir diese Stiche nur ein? Ich brauchte keinen Neuro-logen, ich brauchte etwas gegen diese Schmerzen.
Und eben diese erinnerten mich nach meinem ersten Überweisungsschock vehement daran, dass ich mir dringend Hilfe suchen müsse, ganz gleichgültig, wie der Arzt wohl heißen mag, der mir eventuell Erleichterung verschaffen könnte.
Also nahm ich mir mutig die Gelben Seiten hervor, um die Neurologen der Umgebung nach einem dringenden Termin zu fragen. Ganz gleich, wen ich auch anrief, dieses Quartal hatte ich einfach keine Chance. Entweder die Neurologentermine waren für dieses Jahr schon voll und man könne mir einen im Januar oder Februar anbieten, oder mir wurde, nachdem man die Frage nach der Krankenkasse gestellt hatte, gesagt, man würde keine neuen Patienten mehr annehmen.
Eine Adresse hatte ich noch und so begab ich mich an einem verzweifelten Morgen in die Praxis dieses Neurologen. Das Haus lag mitten in der Fußgängerzone und das Treppenhaus war dunkel und muffig. Mir war das nicht wichtig und so stellte ich mich mit einer älteren Türkin einfach vor die geschlossene Praxistüre und wartete.
Nach einer Weile kam die Arzthelferin und schloss die Praxis auf.
Die Türkin konnte sich ins Wartezimmer setzen, und ich war an der Reihe.
Ich bat um einen Termin beim Doktor und schilderte ihr kurz meine Probleme, dann kam der gewohnte Satz: “Es tut mir leid, wir können keine Patienten mehr annehmen!”. Zeitgleich mit diesem Satz öffneten sich bei mir alle Pforten, und ich stand dort als erwachsene Frau heulend vor der Rezeption und stammelte “Bitte, bitte, ich halte es nicht mehr aus!!”.
Die Arzthelferin packte wohl das geballte Mitleid, denn sofort sagte sie “Nun gut, beruhigen Sie sich doch, die Ärztin ist gleich da, setzen Sie sich mal ins Wartezimmer” und reichte mir einige Taschentücher über den Tresen.
Reichlich schniefend und mit geröteten Augen beruhigte ich mich langsam und setzte mich auf einen der alten Holzstühle. Das Wartezimmer war genauso muffig und alt, wie der Rest des Hauses. Die Wände zierte eine völlig verfärbte und ver-staubte alte Textiltapete, eine von der Sorte, die Anfang der 80er der letzte Schrei waren und nun anderwärtig stille Schreie des Entsetzen auslösen konnten. Alles war dunkel und muffig und passte hervorragend zu meiner inneren und äußeren Verfassung. Wie im Nebel wartete ich auf die Dinge, die nun kommen würden und horchte auf die Gespräche an Rezeption und Wartezimmer.
Nebenbei erfuhr ich so, dass der Doktor selbst nicht da wäre und die Vertretungsärztin gleich käme. Mir war alles egal, und so wartete ich sehnsüchtig auf Einlass.
Irgendwann wurde ich aufgerufen und ins Behandlungszimmer 2 geschickt. Einen Moment solle ich warten, die Ärztin käme dann.
Vor mir tat sich ein weiterer dunkler Raum mit einem riesigen dunklen Holzschreibtisch auf. Ich setzte mich auf den für Patienten vorgesehenen Stuhl und schaute mich ängstlich nach eventuellen Untersuchungsgeräten um. Ich konnte jedoch nichts dergleichen entdecken, und so beruhigte sich mein Puls langsam, aber deutlich.
Irgendwann öffnete sich die Tür und eine leicht gehetzt wirkende Frau in Daunenjacke wickelte sich langsam aus meterlangen Schals, um anschließend das gesamte Equipment in einem ebenfalls dunkelbraunen Holzschrank verschwinden zu lassen.
Sie kam auf mich zu und gab mir die Hand mit der ärztlichen Standardfrage: “Was treibt sie denn zu mir?”. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir beide noch nicht, dass uns alles Weitere über eine längere Zeit verbinden würde.
Ich erzählte unter weiteren Schmerzen kurz meine Beschwerden. Die von meinem Hausarzt angepeilte Trigeminus-Neuralgie kam für sie durchaus in Frage, und so schrieb sie mich nicht nur krank, sondern gab mir einige Tabletten mit, die ich ausnahmsweise noch nicht kannte. In drei Tagen sollte ich nochmals kommen, und dann würden wir weiter sehen.
Irgendwie grundlos eindeutig erleichtert fuhr ich nach Hause und ergab mich den neuen Tabletten und meinem Schicksal.
Beim zweiten Termin wurden ihre Blicke schon etwas besorgter und ihre vorherige Vermutung wurde über den Haufen geworfen. Zu meinen Schmerzen hatte sich ein brennender, juckender und kribbelnder unsichtbarer Ausschlag gesellt, der mich bald wahnsinnig machte, und das Ganze zog vermehrt in Richtung Hals und Schulter.
Ich erzählte ihr von den nicht existierenden Viechern, die ständig über diese Bereiche krabbelten und dieses Gefühl, dieses unbeschreiblich fiese Gefühl.
Meine Ärztin machte sich sichtbar Sorgen und vermutete eventuell eine Gürtelrose am Kopf. Schnell solle ich mein Blut auf Herpes zoster untersuchen lassen riet sie mir und gab mir etwas gegen neuralgische Schmerzen mit. Dieses Mittel sollte ich vorsichtig höher dosieren, Schritt für Schritt und Tag für Tag bis zu der genannten Tageshöchstdosis.
Eigentlich handelte es sich bei diesem Mittel um ein Anti- Epileptika, aber selbst dies konnte mich nicht mehr schocken. Wenn es half, waren mir alle Namen und Bezeichnungen recht. Mit den Blutwerten solle ich dann schnellstmöglich wieder bei ihr vorsprechen.
Nach drei Tagen warten und ohne wesentliche Besserung, saß ich wieder bei ihr an diesem dunklen Holzschreibtisch, diesmal wesentlich verzweifelter und sichtbar mutlos. Gürtelrose war ausgeschlossen worden, mein Blut zeigte keinerlei Hinweise und auch die restlichen Werte waren okay. Was um Himmels Willen quälte mich seit Wochen bloß so sehr, dass ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte.“ Ich mache mir Sorgen um Sie. Ich möchte, dass Sie zum MRT gehen, danach sehen wir weiter.”
Mittlerweile hatten sich die Schmerzen bis in den rechten Oberarm gezogen, und der Arm war wie mit Hemdsärmeln abgeschnürt und wurde langsam taubkribbelig.
Die Medikamente waren nun hoch dosiert und halfen mir etwas über den Tag.
Zum MRT also, sie hätte eventuell Verdacht auf einen Bandscheibenvorfall und daher sollte sich die Halswirbelsäule mal angesehen werden.
Tunnelblick
Die vehemente Art meiner Neurologin bescherte mir einen unglaublich zeitnahen MRT-Termin in einer radiologischen Gemeinschaftspraxis.
Ich sollte gleich am übernächsten Tag mit den Befunden zu ihr kommen.
Erst einmal erkundigte ich mich bis zum gesagten Termin über die Untersuchung im Internet. Ich fühlte mich dadurch einfach etwas sicherer, dachte ich zumindest. In Wirklichkeit wurde ich noch aufgeregter und begab mich zur Praxis.
Neben mir saß ein älterer Herr, der eine 2 l Mensur voller gelblicher Flüssigkeit in sich hinein füllen sollte, diese Trinkmenge aber einfach nicht zu schaffen schien. Erlöst hörte ich, dass es sich hierbei um eine Blasenuntersuchung handelte, also nicht meine nächste Aufgabe sein würde.
Irgendwann wurde mein Name aufgerufen und ich trabte hinter einer Sprechstundenhilfe her, um dann in einen Raum zu gelangen, der in meinen Vorstellungen das Equipment der NASA beinhaltete.
Unzählige Computer und Laufwerke, eine Art Raketenröhre, in die ich mich gleich begeben sollte. Zunächst einmal musste ich jedoch meinen Schmuck und meinen BH ablegen, dann wurde ich in den Röhrenraum gebeten und auf eine Art fahrbare Liege bugsiert. Irgendwann dann lag ich passend in einer Vorrichtung für den Kopf und mir wurde eine Art Gitterbügel vor das Gesicht montiert. Die Sprechstundenhilfe erklärte mir, dass die Untersuchung jetzt ungefähr 20 Minuten dauere und ich mich möglichst nicht bewegen dürfe. Sie drückte mir einen Alarmknopf in die Hand, falls ich Panik bekäme.
Ungeheuer beruhigend!
Ich wurde in die Raketenröhre gefahren. Unmittelbar über diesem Bügel war die Röhrenwand. Es war eng, aber nicht beunruhigend. Irgendwann ging es los. Nicht, dass man etwas spüren würde dabei, man hört nur, dass etwas geschieht. Diese Geräusche passten durchaus zu meiner NASA -Theorie und ließen mich an STAR WARS denken. Man hat keinerlei Zeitgefühl in dieser Röhre und so dachte ich “geschafft!”, als es deutlich leiser um mich wurde und die Liege mit mir langsam wieder aus ihrer Versenkung fuhr. Falsch gedacht, und so folgte der erste Versuch, mir das Kontrastmittel zu verabreichen. Meine Venen wollten nicht so, wie die Helferin wollte. Es lief etwas von dem Leuchtmittel daneben und man schaffte so eine bleibende Erinnerung in Form einer dunkelblauen Färbung meiner rechten Armbeuge.
Der zweite Versuch landete schmerzhaft, aber erfolgreich in der Hand, und so fuhr ich wieder ein in die laute Raketenröhre, um die zweite Hälfte meines Aufenthalts zu genießen.
Die Untersuchung wurde abgeschlossen, ich aus der Röhre und von der Verkabelung befreit. Ich durfte mich wieder anziehen und sollte wieder im Wartebereich Platz nehmen, ein Arzt würde mich gleich zu sich rufen.
Das hatte ich also geschafft, mal sehen, was der Arzt nun sagt, dachte ich unbedarft.