Читать книгу Als der Fluss zu Staub zerfiel - Sabine Walther - Страница 3
1. Warnung und Leugnung
ОглавлениеMascha hatte heftig auf den Impfstoff reagiert, sich mehrmals erbrochen und wurde daher schon am Freitagvormittag nach Hause geschickt. Die Internatsleitung hatte ihre Mutter, Frau Dr. phil. Saletta Schönbrunn, telefonisch in Kenntnis gesetzt, alles sei normal verlaufen, die heftige Reaktion im Grunde nur ein Zeichen dafür, dass der Impfstoff wirke, also letztendlich positiv zu bewerten.
Saletta Schönbrunn unterdrückte ihren Impuls, die Schulleiterin am Telefon erneut auf ihre Einwände hinzuweisen; alle Eltern hatten sich gemeinsam für die Impfung entschieden, sie musste nicht gegen Wände rennen, wollte nicht, dass ihr Kind ausgegrenzt würde, dass die anderen ihm etwas hinterherriefen, dass es nicht mehr eingeladen wurde, weil die Eltern fürchteten, es sei vielleicht infiziert. Ihr Kind sollte die sinnlosen Kämpfe, die ihre eigenen Eltern ihr ständig aufgezwungen hatten, nicht durchstehen müssen. Es war nicht schuld am Übel der Welt und es sollte so normal wie möglich aufwachsen dürfen.
Der internatseigene Schulbus hielt direkt vor dem hellen freundlichen Einfamilienhaus und für Saletta war es befremdend, ihre Tochter als einzigen Fahrgast darin zu sehen. Noch bevor das Mädchen ausstieg, erkannte seine Mutter, dass es ihm wirklich schlecht gehen musste, denn es brauchte einige Momente, um Tasche, Jacke und Sportbeutel zu sortieren und lief dann zunächst zum hinteren Ausstieg, obwohl der Fahrer, der nervös auf seine Uhr blickte, die vordere Tür bereits geöffnet hatte. Es war völlig durcheinander, wirkte blass und erschöpft.
Besorgt nahm Saletta ihre Tochter in die Arme, rief dem Fahrer noch ein Dankeschön hinterher und führte ihre Tochter ins Haus. Nur nicht aufregen, dachte sie, ein Teller Hühnersuppe und ein wenig Ruhe werden es schon richten!
„Mama, weißt du, was ich mir unbedingt wünsche?“ Saletta schreckte hoch, sie war auf dem Schlafsofa neben Mascha für einen Moment eingenickt. Fühlte deren Stirn, während das Kind schon weiterplapperte. „Da gibt es so Karten, weißt du, die sammelt man und dann hat man eine höhere Stufe oder ein zweites Leben oder so und …“
Saletta hörte nur mit halbem Ohr zu, Maschas Wünsche waren so ungezählt wie unerschöpflich. Immer gab es etwas, das irgendein Kind hatte, sie aber nicht, und das zur dringenden Herzensangelegenheit erklärt wurde.
„Mama, ich sterbe, wenn ich diese Karten nicht bekomme, …“
Aber warum zitterst du denn nur, arme Saletta?
„Mascha! So etwas sagt man nicht. Spar dein Taschengeld, dann kannst du sie dir selbst kaufen!“
Manchmal hasste Saletta die Lebensart, in die ihre Tochter hineinwuchs, hasste vor allem diese Nachbildungen von religiösen oder spirituellen Weltbildern in Comicform, die Sinnentstellung von allem, was eine fragende Lebenshaltung ausmachte. Andererseits: Sollte sie ihr von klein auf alles verbieten, was ihr erstrebenswert schien? Sollte sie ihr – so wie ihre eigenen Eltern es getan hatten – den ständigen Schmerz bereiten, alles, was sich in ihrem kleinen Herzen an Wünschen ansammelte, als Schund abzutun?
Sie handelte gegen ihre Überzeugungen, aber wie heißt es so schön? Kinder sozialisieren einen. Oder gehen in den Gefechten der Erwachsenen unter. Und schließlich war sie noch nicht einmal gläubig. Sie war Wissenschaftlerin, unbestechlich und rational, der Logik des Faktischen verhaftet.
Mascha war der einzige Schwachpunkt in ihrem Leben. Nie konnte sie das Mädchen anschauen, ohne sentimental zu werden. Ihr helles Haar schien Licht abzugeben, ihre blauen, vom Vater geerbten Augen strahlten vorbehaltlos und ohne Argwohn in die Welt, sie war von Grund auf ein gutherziger Mensch, Abbild jenes Mannes, den Saletta nach wie vor von ganzem Herzen liebte. Von dem sie sich aus genau diesem Grund getrennt hatte, denn nichts empfand sie als schlimmer als das allmähliche Umschlagen ihrer Liebe in ein alltägliches Genörgel.
Ihre eigene Kindheit war von dem einzigen Wunsch erfüllt gewesen, normal sein zu können, sein zu dürfen wie alle anderen auch. Und dann traf sie endlich Sascha und erlebte dieses Wunder. Verliebt waren sie, taten, was alle taten, gingen auf die Kirmes, ins Restaurant, führten nächtelang Gespräche, liebten sich an allen möglichen und unmöglichen Orten. Heirateten. Dann wurde Mascha geboren. Saletta hatte zu ihrem eigenen Erstaunen das umwerfende Gefühl, eine Pflicht erfüllt zu haben, die ihr von der Natur auferlegt worden war. Sie hatte „Mutter Natur“ etwas zurückgegeben, etwas Wunderbares, das nur von ihr und Sascha stammte.
Sie schämte sich fast für dieses Empfinden, es entsprach ihr nicht und doch fühlte sie: Sie war endlich normal, nicht mehr die einsame Hochbegabte. Sie gehörte dazu, konnte sich mit anderen Müttern über die bessere Windelsorte oder die Zubereitung von Babybrei austauschen, konnte an Erziehungskursen teilnehmen, über schlaflose Nächte klagen, die sie nicht am Schreibtisch, sondern am Bett ihres kranken Kindes verbrachte. Sie durfte den Alltag einer glücklichen Familie leben.
Nach einem Jahr der Schwelgerei fiel ihr beim Aufräumen eines ihrer früheren Lieblingsbücher in die Hand. Auf dem Umschlag war das Gesicht der Autorin in schwarzgrüner Schattierung abgebildet. Früher hatte sie das Foto betrachtet und gemeint, sie würde in einen Spiegel schauen. Zwischen ihr und dieser Philosophin bestand eine frappierende Ähnlichkeit und sie war mit den innersten Gedanken dieser Frau vertraut. In jedem ihrer Artikel und in jeder ihrer Arbeiten tauchte zumindest ein Hinweis auf ihre Bücher auf, ihr Denken spiegelte sich in dem der anderen Frau. Jetzt schaute sie das Buch an und die Fremde blickte zurück, vielsagend, enttäuscht, ein klein wenig entsetzt über Salettas Unfähigkeit, über ihren Rückzug ins Private.
Doch Saletta beneidete die andere nicht um ihren Ruhm und um ihre Unabhängigkeit. Seit Mascha auf der Welt war, taten ihr alle Menschen leid, die keine Kinder hatten. Sie dachte an Ernst und Brigitte, Saschas Bruder und Schwägerin, die sich erst vor Kurzem ein Haus gekauft hatten. Mit großer Begeisterung hatten sie es beschrieben, „jeder seine Etage, sein Bad, sein Arbeitszimmer“. Sie sah die beiden in ihrem herrlichen Haus sitzen, jeder an seinem Schreibtisch, und sie fühlte, wie leer dieses Haus war. Wie still. Wie quälend einsam. Wie wenig „Wir“ es beherbergte.
Sie und Sascha hatten auch ein Haus kaufen wollen, daher hatte er begonnen, mehr und immer mehr zu arbeiten. Sie hielt ihm den Rücken frei, organisierte den Alltag, war für Mascha da. Damit begann die zweite Stufe der Normalität. Sie hatte Aufgaben, Pflichten, einen Alltag. Übernahm kleine Sekretariatsarbeiten für Sascha, der mit allem so belastet war. Massierte ihm den Nacken, wenn er müde und verspannt aus dem Büro zurückkam.
Ach ihr herrlichen Frauen, die ihr euch immer wieder neu verschenkt, als wüsstet ihr nicht!
Alles verlief normal. Auch sein Seitensprung. Und ihre Verwandlung. Aus einer Undine war eine dieser betrogenen Ehefrauen geworden, denen man Geld für schöne Kleider gibt. Sie liebte Sascha und verstand, warum er das getan hatte. Aber sie ging durchs Haus und dachte: Hier hat er mit ihr telefoniert. Hier hat er ihr eine SMS geschickt. Begann seine Sachen zu durchsuchen. Richtete ihr Leben danach aus, wann er wo zu tun hätte, was er von diesem oder jenen hielte.
Bis sie endlich begriff. Sie wollte nicht zugrunde gehen in einem Horror aus Misstrauen und Gewohnheit. Sie wollte den Menschen, der ihr im Leben am wichtigsten war, nicht foltern durch ein erzwungenes Zusammenleben. Sie wollte diesem dunklen Schlick aus Emotionen und Vorhaltungen entkommen. Sie bat Sascha um die Scheidung, er lehnte ab, war bestürzt, versprach, nie wieder einen solchen Fehltritt zu begehen. Verstand nicht, dass sie ihm längst verziehen hatte. Und eben darum gehen musste.
Nach der Scheidung hatte sie die Arbeit am Institut aufgenommen und Mascha war ins Internat gekommen. Am Wochenende lebte sie bei ihrer Mutter, in den Ferien bei ihrem Vater, wenn beide wichtige Termine hatten, sprach man sich ab. Alles war sachlich und ohne Streit geregelt worden. Trotzdem plagte Saletta das schlechte Gewissen – sie hatte ihrer Tochter ein normales Leben versagt. Hatte sie ausgeschlossen aus ihrem Alltag, niemals würde sie erfahren, wie es war, eine intakte Familie zu haben. Schon deshalb konnte sie ihr nur selten einen Wunsch abschlagen. Ja, sie sollte wenigstens an den Wochenenden so sorglos leben können wie andere Kinder.
„Mama, bitte“, nun liefen Mascha wirklich Tränen an den Wangen herab. Sofort wurde Saletta weich. Vielleicht würde eine kleine Belohnung sie ja stärken, und schließlich, was war schon dabei, ein paar Spielkarten – ihr Zimmer war vollgestopft mit allem möglichen Kram, den die Kinder heutzutage unbedingt brauchten. Was machten da ein paar Karten mehr oder weniger?
„Wo gibt es denn diese lebenswichtigen Karten?“, fragte sie spöttisch. Mascha spürte, dass sie ein weiteres Mal gewonnen hatte, und richtete sich strahlend im Bett auf. Ihre Erschöpfung schien augenblicklich von ihr gewichen, nur ihre Hände bewegten sich nervös auf der Bettdecke, als suchten sie etwas.
„Du bist die liebste Mami von der ganzen Welt!“, rief sie begeistert aus. Können wir sie kaufen, jetzt gleich?“
Nein.
Saletta hörte nicht hin, sah in Maschas strahlendes Gesicht und gab ein weiteres Mal nach. „Na gut, zieh dich an, ich telefoniere eben noch mit Papa und dann gehen wir los. Ich muss sowieso noch einkaufen, hab ja erst morgen mit dir gerechnet!“
Mit einem Freudenschrei warf Mascha die Decke beiseite und wäre beinahe vom Bett gefallen, hätte ihre Mutter sie nicht im letzten Moment abgestützt.
Ein böses Omen, vermeldete die Stimme.
"Halt dich raus", antwortete Saletta wütend.
"Verseuche mein Kind nicht mit deinem Gift!"
Wer hat hier wen vergiftet?
Ach was, entgegnete sie. Es war nur eine Impfung. Ein einfacher Vorgang, medizinisch sinnvoll. Verschone mich mit deinen Verschwörungstheorien!
Aber Saletta wusste: Es war sinnlos zu argumentieren, die Stimme gab niemals auf, hatte immer die besseren Argumente und auf alles eine Antwort. Soweit sie zurückdenken konnte, war sie immer bei ihr gewesen. Mischte sich in jeden Bereich ihres Lebens ein, stachelte sie an, gab ihr wohlmeinende nützliche Ratschläge oder bedachte sie mit spöttischen Kommentaren.
Nicht einmal Sascha hatte sie von ihr erzählt. Hatte zeit ihres Lebens Angst, dass man sie für verrückt halten würde. Niemand außer ihr konnte sie hören. Niemand außer ihr führte einen solchen Dialog mit einer Stimme im Kopf. Und das als Wissenschaftlerin – wie peinlich!
Sascha klang gereizt, als Saletta ihm am Telefon mitteilte, dass Mascha einen Tag früher heimgekommen war und er sich daher am nächsten Tag um sie kümmern müsse – sie hatte ihre Termine bereits verschoben.
„Ich habe morgen ein wichtiges Meeting, da kann ich nicht einfach absagen, weil ich auf mein Kind aufpassen muss. Die lachen mich doch aus!“ „Und ich? Ist meine Arbeit wieder weniger wichtig als deine?“
Augenblicklich befanden sie sich im selben Streitgespräch, das sich seit ihrer Trennung trotz aller Vernunft und guter Absichten ewig wiederholte. Nach einer Viertelstunde heftiger Diskussionen gab Saletta entnervt auf. „Gut, dann rufe ich eben den Babysitter an!“ Wütend knallte sie das Mobilteil auf die Ladestation.
„Mascha!“ Salettas schlechte Laune steigerte sich noch, da ihre Tochter nicht antwortete. Doch dann drang durch die Wut ein anderes Gefühl hindurch, jenes, das alle Mütter kennen, deren Kinder sich auffällig still verhalten. Rasch lief sie die Treppe zum Kinderzimmer hinauf. Mascha saß auf ihrem Schreibtischstuhl und blickte mit glasigen Augen in die Luft, wobei sie sich mit einem unsichtbaren Wesen unterhielt.
„Ja, mir gefällt sie auch gut“, sagte sie gerade, als ihre Mutter das Zimmer betrat.
Das Wesen antwortete wohl etwas und Mascha schaute in Salettas Richtung. Es war, als brauchte sie eine Zeit, um von irgendwoher zurückzukehren, als müsse sie sich erst erinnern, wer die Frau war. Dann aber lief sie zu ihr, umarmte sie und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.
„Danke, Mama, sie ist wirklich schön!“
Saletta war verwirrt, wusste nicht, wovon sie sprach.
„Was ist schön, Mascha?“
„Die neue Tapete. Wie hast du das gemacht, Mama, dass sie so schön funkelt und glitzert?“
Saletta blickte sich um. Sie hatte nichts verändert, an den Wänden befand sich noch immer die pinkfarbene Designertapete, die Mascha zusammen mit ihrem Vater ausgesucht hatte. Mit den Datumsangaben neben den kleinen Zeichnungen, die Mascha darauf gekritzelt hatte, um sie zu verschönern. Das Kind folgte ihrem Blick.
„Welches Bild gefällt dir am besten?“, fragte sie.
„Ich weiß nicht, sie sind alle schön.“
„Das Auto“, nahm sie ihrer Mutter die Entscheidung ab. „Das funkelt jetzt so hübsch.“
Saletta fühlte mit der Hand die Stirn ihrer Tochter, prüfte ihre Wangen, Fieber hatte sie nicht. Dennoch hielt sie es für besser, jetzt nicht nach draußen zu gehen.
„Weißt du was, Mascha, wir kaufen die Karten morgen. Oder du gehst mit Anja zusammen, sie kommt morgen, um auf dich aufzupassen.“
„Ich will aber mit dir gehen, Mama!“
Gib nicht nach, dieses eine Mal nicht!
Mascha drehte sich um und begann ihren Pulli zu suchen. Dann versuchte sie ungelenk, ihn sich über den Kopf zu ziehen, verhedderte sich aber darin. „Ich bin ein Gespenst, huhu“, rief sie. Mutter und Tochter lachten. Ein letztes Mal gemeinsam.
Kaum war Mascha fertig, stürzte sie zur Treppe. „Wer zuletzt unten ist, ist ein faules Ei!“, rief sie und rannte die Treppe hinab. Als Saletta endlich unten ankam, hatte das Mädchen schon die rosa Gummistiefel an und zog die Mutter, die schnell in ihre Sommersandalen rutschte und eine Jacke vom Haken nahm, ungeduldig aus dem Haus.