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4. Auserwählte wider Willen

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Der Anrufbeantworter blinkte und zeigte 15 versäumte Anrufe an, aber Saletta war alles egal. Ihre Wunden schmerzten, der Verband klebte daran fest. Ihre Hände waren geschwollen, sie konnte kaum das Messer halten, um sich ein Brot zu schmieren. Sie hatte ohnehin keinen Hunger. Wozu kämpfen. Alle Menschen, die ihr je etwas bedeutet hatten, waren tot. Bis auf Sascha – den sie aus ihrem Leben vertrieben hatte. Ihre gemeinsamen Freunde, die zu ihm hielten, weil sie Salettas heftige Reaktion nicht verstanden. Und natürlich Jenny, von der sie aber ewig nichts gehört hatte.

Ganz unten im Regal fand sie das alte, verstaubte Fotoalbum. Unter Schmerzen zog sie es hervor, blätterte darin. Jenny und sie bei ihrer Einschulung. Mit Jenny und ihrer Mutter im Serengeti-Park. Jenny bekommt eine Zahnspange ...

Ihr sechzehnter Geburtstag: Total verheult und mit einer dick angeschwollenen Wange sitzt sie neben Jenny auf dem Sofa, die tröstend den Arm um sie legt. Jenny, die nur ein Jahr älter ist als sie, und deren Mutter – ohne diese beiden hätte sie ihre Kindheit nicht überstanden. Ihre eigenen Eltern waren ihr immer nur unheimlich, monströs, kalt und gewissenhaft vorgekommen. Und forderten Unheimliches, Monströses von ihr. Sie hielten ihre Tochter für hochbegabt und hatten sie daher bereits im Alter von fünf Jahren einschulen lassen. Sie meinten einfach, ein Kind, das bereits lesen, schreiben und rechnen könne, solle seine Zeit nicht mit Spielen vertrödeln.

Saletta fügte sich dem Willen ihrer Eltern, fürchtete sich aber gleichzeitig vor der Schule. Sie hatte bereits viel von Jenny über die Kinder aus den anderen Straßen gehört und wusste, dass sie in vielem ganz anderer Meinung waren als ihre Eltern. Sie hassten die Schule, sahen nicht ein, warum sie den ganzen Blödsinn dort lernen sollten, und versuchten sich mit allen Mitteln zu widersetzen. Und wenn ihnen das nicht gelang, wenn sie trotzdem fünf Stunden lang in einem stickigen Raum stillsitzen mussten, dann ließen sie ihren Ärger halt an den Schwächeren aus. Und an denen, die sichtbar Gefallen an der Schule fanden. Saletta hatte beiden Gruppen angehört und daher einiges auszustehen.

Jenny war nicht so gewesen, von Anfang an verband sie eine tiefe Seelenverwandtschaft, obwohl auch sie in einer der „anderen“ Straßen aufgewachsen war. Und Jenny beschützte sie. Sie war die Tochter von Salettas Tagesmutter und hatte das andere Mädchen als kleine Schwester adoptiert. Jenny war ebenfalls früher eingeschult worden, da auch sie eine besondere Vorliebe fürs Schreiben und Lesen hatte. Und ein Schulbesuch war im Gegensatz zum KiTa-Besuch kostenlos.

Obwohl Jenny mindestens so klug war wie Saletta, sprach niemand darüber, denn ihre Eltern waren keine Akademiker, sondern einfache Menschen, die niemals aus ihrer Stadt hinausgekommen waren, als „bildungsfern“ galten und Fremdsprachen nur aus dem Fernsehen kannten.

Jenny war froh, in Saletta eine Verbündete gefunden zu haben, mit der sie über Bücher und ihren Traum, eine berühmte Dichterin zu werden, sprechen konnte. Und Saletta war froh, mit Jenny über all die Dinge sprechen zu können, für die es ihren Eltern an Verständnis fehlte. Bei Jenny und deren Mutter durfte sie wenigstens stundenweise ein halbwegs normales Leben führen, wozu Fernsehen, Pommes, Barbiepuppen und Comic-Hefte unbedingt gehörten.

Ihre eigenen Eltern hätten ihr niemals erlaubt, Comics mit nach Hause zu bringen. So, wie sie ihr niemals ein Geschenk machten, über das sie sich wirklich gefreut hätte. Warum hatte sie ausgerechnet an ihrem 16. Geburtstag erneut diese dumme heimliche Hoffnung gehegt, dass er keine Katastrophe würde. Dass ihre Eltern ihr ein einziges Mal einen Wunsch erfüllten, der nach Normalität roch, eine Spielekonsole vielleicht ... Sie hatte ein normaler Teenager sein wollen, der normale Geschenke bekam, eine Geburtstagstorte und eine Party.

Stattdessen hatten ihre Eltern sie regelmäßig mit „guter“ Literatur überhäuft, mit Nachschlagewerken und aus ihrer Sicht nützlichen Dingen. Vermutlich war sie das einzige Kind in ganz Bremen, das schon mit drei Jahren einen goldenen Füller geschenkt bekam, in den sein Name eingraviert worden war.

Auch an ihrem sechzehnten Geburtstag hatte sie also nichts Besseres zu erwarten, aber sie war noch naiv genug, um zu hoffen. Wie in jedem Jahr standen am Geburtstagsmorgen dann ihre Eltern gemeinsam vor ihrem Bett, um sie zu wecken. Immerhin nahmen sie sich an diesem Tag eine Stunde Zeit für ein gemeinsames Frühstück, bevor jeder an seinem Schreibtisch oder in einem der Hörsäle der Universität verschwand.

Während Salettas Vorfreude von Jahr zu Jahr abnahm, schien die ihrer Eltern sich im gleichen Maße zu steigern. An diesem Morgen hatten sie ihre „Es ist jetzt endlich Zeit für eine großartige Entdeckung“-Gesichter aufgesetzt und grinsten mit breiten Honigkuchenpferdmündern auf Saletta herab. Sie waren entsetzlich aufgeregt und in diesem Moment wurde Saletta klar, dass sie wieder ein äußerst nützliches und vernünftiges Geschenk bekommen würde und schlimmer noch, dass ein neuer Zeitabschnitt begann. Endgültig erwachsen wurde sie heute, und es begann eine Zeit, vor der sie sich gefürchtet hatte, seit ihre Eltern zum ersten Mal diese eigenartigen Andeutungen gemacht hatten.

Auf ihrem mit Kerzen und Moosröschen geschmückten Geburtstagstisch prangte in der Mitte ein großes viereckiges Etwas, das unschwer als Buch zu erkennen war. Saletta ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken und tat so, als wäre sie gespannt, was sich wohl in dem Geschenkpapier verbergen würde. Dann öffnete sie vorsichtig die bunten Schleifen, die irgendeine Verkäuferin netterweise darumgebunden hatte – ihre Mutter besaß keinerlei feinmotorische Fähigkeiten – und beauftragte ihre Gesichtsmuskeln, sich auf ein freudiges Erstaunen einzustellen.

Hervor kam das umfassende Standardwerk eines Professor Dr. Hilmar von Heydebrecht mit dem bombastischen Titel „Tod ohne Sterben. Die Bedeutung der Pest für die Todesauffassung der Neuzeit in all ihren Aspekten. Unter besonderer Berücksichtigung der Struktur gegenwärtiger Analogiebildungen in der Medizin und einer Abhandlung zu Boccaccios Dekameron“. Mit 300 Abbildungen und ausführlichen Erläuterungen im Anhang, immerhin. Es dauerte eine Weile, bis Saletta dem Titel überhaupt einen Sinn abringen konnte; aber ihr Vater überbrückte das peinliche Schweigen, indem er zu einer feierlichen Erklärung anhob.

„Saletta Anna“, begann er und sie zuckte zusammen, wie immer, wenn sie mit ihrem vollständigen Tauf-Namen angesprochen wurde, „dies ist ein besonderer Tag, an dem deine Eltern dir ein besonderes Geschenk machen wollen. Du bist die Frucht unserer Liebe, unser einziges Kind.“

Ein lautes Schluchzen der Mutter unterbrach ihn, denn die dachte an ihre Fehlgeburt, mit der Salettas bis dahin erwartete Schwester sich verabschiedet hatte. Zeit ihres Lebens hatten Salettas Eltern darüber diskutiert, ob ein Fötus oder Embryo schon ein Mensch sei oder nicht. Ob sie also schon eine Schwester gehabt hatte oder nicht. Ihr Vater, der Historiker, war der Ansicht, dass man erst in dem Moment, in dem ein Kind wirklich das Licht der Welt erblickt, von seinem realen Vorhandensein ausgehen kann. Ihre Mutter, die Psychoanalytikerin, war hingegen der Meinung, dass man die persönliche Bedeutung der Erwartung nicht leugnen durfte.

„Also gut, unser einziges geborenes Kind“, erbarmte sich ihr Vater. „Du wirst und sollst einmal unsere Ernte einbringen. Und dieses Buch soll den Grundstein dazu legen.“ Es folgten langwierige Ausführungen, während derer sie sich nach dem Geburtstagskuchen umsah, den ihre Mutter vor lauter Aufregung über das großartige Geschenk allerdings vergessen hatte.

Sie unterbrach ihren Vater kurz, mit der Bitte, sich setzen und etwas essen zu dürfen. Der zeigte sich einigermaßen überrascht, dass sie in einem so bedeutsamen Moment überhaupt ans Essen denken konnte, schrieb das aber wohl ihrer Verwirrung über die außerordentliche Bedeutung dieses Tages zu.

Während Saletta lustlos an ihrem Vollkornbrot herummümmelte und sich überlegte, was für ein Geschenk sie ihren Mitschülern in diesem Jahr präsentieren konnte und woher sie das Geld dafür bekommen sollte, machten ihre Eltern sie mit den Eckpunkten ihrer gemeinsamen Theorie vertraut, die sie in langen Jahren erarbeitet hatten und an der sie noch stets weiter herumfeilten.

Es ging im Groben wohl darum, dass sie ihr Fachwissen in einen Topf geworfen und eine Theorie zur Konstruktion von Wirklichkeit entworfen hatten. Ganz nach dem Motto „das Private ist das Politische“ hatten sie darüber zu forschen begonnen, wann ein Menschenleben begann und wann es endete. Wie wirkte sich unsere Erwartung auf unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit aus? Wann begann und wann endete das, was wir als Menschenleben bezeichnen?

Seit Kurzem wurden sie dafür von irgendeiner katholischen Stiftung unterstützt – obwohl sie, wie sie zu ihrem eigenen Erstaunen feststellen mussten, bis dato nur wissenschaftlich unhaltbare Thesen und Resultate erbracht hatten. Aber Saletta hatte nie wirklich hingehört, wenn sie ihr davon zu erzählen versuchten.

„Verstehst du, Saletta Anna, wir könnten es aufhalten, wir müssen es aufhalten. Letztendlich ist es nur in unserem Kopf! Es ist eine Konstruktion des Todes, den wir nicht sehen, nicht hören, nicht fühlen, von dem man uns aber glauben macht, er wäre real. Bis wir anfangen, ihn für wahrer zu halten als alles, was sich unseren Sinnen direkt erschließt. Und nein, das ist keine Verschwörung. Das ist ein historisches Zusammentreffen von Umständen und unsauberen Verfahren. Unser Denken führt unsere Sinne an der Nase herum. Und Boccaccio ist nicht der Einzige, der uns darauf aufmerksam macht.“

Ihr Vater wischte sich mit seinem Taschentuch, in das sein Name eingestickt war, ein paar Schweißtropfen von der Stirn. Saletta hatte Mühe, nicht laut loszuprusten, so albern kam ihr diese Geste vor. So hemmungslos antiquiert, wie es ohnehin nur ihre Eltern sein konnten.

„Und was hat das alles mit mir zu tun?“, fragte sie dann. „Es sind eure Forschungsprojekte, bringt sie doch selbst zu Ende.“ Die mandelförmigen Augen ihrer Mutter verengten sich, wie stets, wenn sie es wagte, ihr zu widersprechen.

„Es geht nicht um uns oder um dich, Saletta Anna. Es geht um die Forschung. Um die Menschheit. Und ich“, fügte sie hinzu und Saletta meinte eine Träne in ihren weichen braunen Augen zu erkennen, die sogar nicht zur Härte ihres Charakters passten „ich muss, ich kann …“

„Die Mammografie wies einen positiven Befund auf“, ergänzte ihr Vater in einem um Sachlichkeit bemühten Tonfall. „Mama und ich nehmen ein Sabbatjahr. Wir wollten es dir eigentlich nicht heute sagen. Aber wir haben natürlich alles bestens geregelt. Du hast einen Platz am Fabiola-Internat, anschließend kannst du an der St.-Beda-Hochschule studieren. Du musst dir also keine Sorgen machen“, er räusperte sich, „ganz egal, was passiert.“

Das Brötchen hatte Saletta vergessen, aber ihr Mund stand wohl noch offen, denn nur so konnte es passieren, dass ihr genau in diesem Moment eine Wespe hineinflog, die die Gunst des Augenblicks nutzte und ordentlich zustach.

Während sie schrie und heulte – sie wusste selbst nicht genau, ob nur wegen des Wespenstiches oder auch wegen all dem, was ihre Eltern ihr angetan hatten und ihr in einer unglaublichen Gefühlskälte just in diesem Moment antaten, sahen diese sich mit bedeutsamen Blicken an: Es war ein Zeichen. Alles war nur Zeichen, das auf etwas deutete.

Saletta rannte schreiend hinaus, erreichte heulend die Schule, sprach mit niemandem. Am Nachmittag flüchtete sie zu Jenny, die gemeinsam mit ihrer Mutter eine Überraschungsparty für sie vorbereitet hatte.

Ruf sie wenigstens an und sag ihnen, wo du bist.

Es war nicht das erste Mal, dass sie die Stimme hörte. Aber das erste Mal, dass sie ihr bewusst nicht folgte.

Nur ein kurzer Anruf, eine Nachricht aufs Band. Ein Zeichen der Versöhnung.

Aber sie wollte nicht, heulte sich bei Jenny kräftig aus, tanzte und sang dann mit ihren Freunden, war froher und übertrieben lauter Dinge, bis die Nachbarn die Polizei riefen.

Zum ersten Mal im Leben hatte sie einen Jungen geküsst. Zum ersten Mal im Leben war sie glücklich gewesen. Und betrunken. Vergaß die Zeit, vergaß ihre Eltern, vergaß diesen ewigen Widerstreit zwischen Vernunft, Pflichterfüllung und dem Leben, nach dem sie sich sehnte.

Sie hätten die Nachricht ohnehin nicht erhalten. Sie kamen in eben dem Moment bei einem Autounfall ums Leben, als Jenny die erste CD eingelegt hatte. Ein schwarzer Audi hatte ihnen die Vorfahrt genommen. Sie waren sofort tot.

Der Fahrer oder die Fahrerin war vom Unfallort geflüchtet.

Als der Fluss zu Staub zerfiel

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