Читать книгу Als der Fluss zu Staub zerfiel - Sabine Walther - Страница 5
3. Wer ist schuld?
Оглавление„Rot“, keuchte Saletta, „Mascha, rot!“
Alles um sie herum verfärbte sich, sie schwamm in einem Meer aus Blut, griff sich an den Hals, betete, ertrinken zu dürfen. Dann wieder die harte Straße, die hörte den Aufprall, fühlte ihn. Mascha lag auf dem Boden mit verrenkten Gliedern, öffnete die Augen, lachte, flog davon. „Wer hat hier wen vergiftet?“, fragte sie, als Saletta nach ihr griff.
Die stöhnte laut auf und erwachte.
Sie musste nicht auf die Uhr sehen, um zu wissen, dass sie 02:20 h anzeigte. Seit Wochen erwachte sie jede Nacht um dieselbe Zeit von diesem immer gleichen Traum. Um ihm zu entfliehen, krabbelte sie aus dem Bett, stieß dabei ein Rotweinglas um, torkelte gleichgültig weiter, der Boden war ohnehin schon voller Flecken. Ging nach nebenan in ihr Arbeitszimmer, der Computer flackerte kurz auf, der Monitor, eben noch schwarz, sprang an, gab den Blick auf den Bildschirmhintergrund frei. Mascha und sie am Werdersee, Enten füttern.
Alles musste einmal harmlos und leicht gewesen sein. Saletta spürte die Lust aufzugeben, zu weinen, bis sie sich restlos aufgelöst hätte. Aber sie war Wissenschaftlerin, ein Verstandesmensch, eine Kämpferin, ein Produkt der Vernunft und sie hatte einen Beweis zu erbringen. Diszipliniert setzte sie sich an den Schreibtisch und studierte die Notizen, an denen sie seit Maschas Beerdigung Nacht für Nacht gearbeitet hatte.
2 Mio. Amerikaner jährlich Opfer der Nebenwirkungen von Medikamenten, 100.000 sterben. Deutschland: Seit 2001 Meldeverpflichtung bei Verdacht einer übermäßigen Impfreaktion und dadurch bedingte gesundheitliche Schädigungen. In 3 Jahren 3328 Fälle angezeigt. 4% bleibende Schäden, 1,6 % verstarben. Otto-Lugenreich-Institut bewertete Zusammenhang zur Impfung in der Mehrzahl der Fälle als unwahrscheinlich. Dunkelziffer – nicht gemeldete Fälle – unbekannt. Rate der Meldungen hängt von Motivation und Fähigkeit der Ärzte ab.
Während sie das Web nach relevanten Fakten abgraste, sich Zahlenkolonnen in ihrem Hirn zu Argumenten zusammenschoben, machte sie sich nebenher Notizen über die nächsten notwendigen Schritte.
1 Gedenkseite erstellen, dokumentieren, vielleicht melden sich auch andere, denen Ähnliches passiert ist.
2 Reporter anrufen, Richtigstellung verlangen.
3 Arzt zur Meldung bewegen – vorher zuständigen Arzt bei Schulleitung erfragen.
7 Menschen in 3 Wochen nach Impfung mit Poritz verstorben. Ein Zusammenhang kann nicht hergestellt werden.
Anscheinend starben ebenso viele Menschen nach der Impfung wie durch die neue Grippe selbst. Aber ein Zusammenhang existierte nicht.
Eine 17-jährige Schülerin, die mit Poritz geimpft worden war, erleidet einen Zusammenbruch in der Schule und stirbt im Krankenhaus. Ursache waren Vorerkrankungen, kein Zusammenhang nachweisbar.
Salettas Hirn arbeitete im Akkord. Dass es zeitliche Zusammenhänge zwischen der Impfung und den Nebenwirkungen bis hin zu Todesfällen gab, war deutlich und niemand leugnete das. Aber es ließ sich keine lückenlose Kausalität herstellen. Damit einer der Geimpften einen schweren Schaden erlitt oder gar am Impfstoff verstarb, musste immer noch ein weiterer Faktor hinzukommen. Eine Vorerkrankung, eine allergische Reaktion, irgendein dritter Faktor, der dafür sorgte, dass die Impfung das Gegenteil von dem bewirkte, was sie leisten sollte.
Interessanterweise ließ sich dieser Gedanke aber auch umdrehen. Es gab bei denjenigen, die sich an dem neuen Grippetypus infiziert hatten und gestorben waren, keinen hundertprozentigen Nachweis, dass das Virus allein schuld war. Auch hier waren stets weitere Umstände hinzuzuziehen.
Auch Mascha war ja nicht unmittelbar an den Folgen des Impfwirkstoffes gestorben. Sie war nur so müde und unkonzentriert, dass sie falsch reagiert hatte und auf die Straße gerannt war.
Europäische Datenbank meldet erste Narkolepsiefälle infolge der Impfung. Allerdings sei nicht der Impfstoff allein wirkursächlich. Erschwerend müsse eine Entzündung oder Infektion hinzukommen.
Saletta hielt inne, markierte den Begriff Narkolepsie mit drei Ausrufezeichen. Natürlich wusste sie, dass letztlich alles ihre Schuld gewesen war. So hatte es ihr ja auch der Polizeisprecher klargemacht, als sie ihn immer wieder darauf hinwies, dass ihr Kind keinesfalls auf die Straße gelaufen sei, wie es Kinder leider häufig tun. Dass es einen Grund dafür gegeben haben musste und dass dieser Grund ihrer Ansicht nach darin bestand, dass Mascha durch die Impfung verwirrt gewesen war und schließlich einen Anfall erlitten hatte.
Warum sie ihre Tochter dann überhaupt aus dem Haus gelassen hätte, schnauzte er sie an. Und außerdem sei das ohnehin alles Quatsch mit dieser Impf-Panik. Und falls sie psychologische Betreuung bräuchte, dafür sei er nicht zuständig.
Seine Worte hatten Saletta, die sich längst in die kühlen Regionen des Denkens verkrochen hatte, nicht mehr erreichen können. Ruhig und kalt wie ein Auftragsmörder, der demütig die für seinen Job nun mal erforderlichen Vorbereitungen trifft, hatte sie ihm zugehört. Wusste, allein ihr Verstand konnte sie noch retten, konnte sie wieder einmal retten, es durfte nur nicht der Hauch einer Emotion zu ihm durchdringen. So hatte sie dem Polizeisprecher für die hilfreichen Informationen und den gut gemeinten Rat gedankt und war gegangen.
Am Nachmittag hatte sie einen Termin mit dem Reporter der Bremer Wochennachrichten auf ihrer Liste, der über Maschas Tod wie über einen gewöhnlichen Verkehrsunfall berichtet hatte.
Unfall in Bremen: Kind läuft vor Auto
Am Freitag, dem 18. September 2009, gegen 18:05, fuhr eine unbekannte Fahrerin auf der Neuenlander Straße stadtauswärts. Eine 8-jährige Schülerin befand sich mit ihrer Mutter an der Ampel in Höhe des Einkaufszentrums. Plötzlich löste sich die 8-Jährige von der Hand ihrer Mutter und rannte auf die Fahrbahn, ohne auf den Fahrzeugverkehr zu achten. Sie wurde von dem PKW erfasst; die Fahrerin beging anschließend Fahrerflucht. Die Schülerin erlag noch am Unfallort ihren Verletzungen.
Zeugen beschrieben die Fahrerin des schwarzen Audi, nach der noch gefahndet wird, als dreißig bis vierzig Jahre alt und rothaarig. Der Polizeisprecher sagte: „Das Mädchen ist – wie es Kinder leider häufig tun – achtlos auf die Straße gelaufen, daher trifft die Fahrerin am eigentlichen Unfall keine Schuld. Dennoch hätte sie anschließend anhalten müssen, daher ist mit einer Strafe zu rechnen.“
Saletta ärgerte sich über die achtlose Formulierung. Aber der Reporter konnte ja nicht wissen, was wirklich geschehen war. Sie musste ihm die Fakten liefern, Fakten, die beweisen würden, dass Mascha nicht einfach auf die Straße gerannt war, sondern an den Folgen der Impfung gelitten hatte.
Nebenwirkungen: Schlaflosigkeit, Benommenheit, Schwindel, Fieber, Desorientierung, Halluzinationen.
Sie hatte ihn mit ihren Recherchen konfrontiert. Aber er hatte nur abgewinkt. Kein Thema für unsere Leser, meinte er. Alles viel zu vage. Zu viele Verschwörungstheorien. Er könne ihr aber Seiten von Impfgegnern nennen, die gern darüber berichten würden … Saletta hatte dankend abgelehnt. Weder verstand sie sich als Impfgegnerin noch folgte sie irgendwelchen Verschwörungstheorien. Sie wollte einfach verstehen, was geschehen war. Sie musste wissen, wer schuld war.
Aus dem Augenwinkel erblickte sie ihre Kleine, wie sie fiebernd nach Hause gekommen war. Wie durcheinander sie gewesen war. Lauschte noch einmal ihrer Freude, als sie die vermeintlich neue Tapete bewunderte: Wie hast du das gemacht, Mama.
Der Polizeisprecher hatte recht: Sie hätte sie nicht mitnehmen dürfen. Sie hätte ein einziges Mal auf ihre innere Stimme hören müssen. Gib nicht nach, dieses eine Mal nicht!
Alle Zeichen hatten auf Sturm gestanden und sie gewarnt, aber sie hatte sie nicht wahrhaben wollen, wollte ihrem Verstand gehorchen, wollte ihr Kind schützen, indem sie sich der Norm beugte, ihre Intuition missachtete. Sie hatte ihr Kind ihrem unbedingten Willen nach einer logisch geordneten Welt geopfert.
Das Gesicht verschwand aus ihrem Blickfeld, die Stimme verstummte und es wurde Zeit zu bemerken, dass sie noch einer weiteren Täuschung erlegen war. Sie hatte gedacht, sie könne bereits alle Gefühlsregungen von sich fernhalten. Sie hatte erwartet, eiserne Disziplin würde ihr helfen, nie wieder etwas zu empfinden. Sie hatte gemeint, sie käme schon allein zurecht. Aber der Schmerz, der sie in diesem Moment ergriff, war so undefinierbar und dumpf, dass sie ihn nicht wegerklären, dass sie ihn nur noch durch einen Gegenangriff bekämpfen konnte.
Rasch nahm sie die Schere vom Tisch und ritzte sich damit so lange in die Haut ihres Unterarms, bis der körperliche Schmerz den seelischen übertraf und sie schließlich gezwungen war, die Wunden zu verbinden. So wie damals, als zum ersten Mal ein schwarzer Audi ihre Lebenslinie gekreuzt hatte.
Erinnere dich endlich, Saletta!