Читать книгу Achill. Held und Frevler - Sabine Wassermann - Страница 11
I.
ОглавлениеAchilleus schob den Vorhang zur Kammer seines Lawagetas zurück. Es war noch früh am Morgen, und Patroklos schlief wie die meisten seinen Rausch aus. Er lag auf dem Bett und hielt den Arm um eine Frau geschlungen. Er hatte sie wohl irgendwo auf der Straße aufgelesen, denn sie gehörte nicht zum Haus. Sie trug nichts weiter als billigen Schmuck um die Hüften und bronzene Brustschalen, die leicht verrutscht waren und ihre Brustwarzen hervorblitzen ließen.
Achilleus setzte sich auf die Bettkante, ohne sich um ihre Anwesenheit zu kümmern. Patroklos wachte sofort auf. Als er Achilleus sah, löste er sich aus der Umarmung der schlafenden Frau und richtete sich auf.
»Ich muß mit dir reden«, begann Achilleus ohne Umschweife. Er berichtete von Eetions Tod und von den Geschehnissen des gestrigen Abends. Nichts ließ er aus, denn vor Patroklos hatte er keine Geheimnisse. »So stehe ich jetzt also da«, schloß er, während Patroklos noch das Gehörte in sich aufnahm. »Wahrhaftig, so hatte ich mir meine Rückkehr nicht vorgestellt.«
Patroklos kratzte sich nachdenklich an der Wange. »Das macht das Leben mit dir so interessant«, stellte er trocken fest. »Man weiß nie, was als nächstes passiert.«
»Soll das ein Vorwurf sein?«
»Aber nein. Höchstens der, mich nicht auf diese Reise mitgenommen zu haben. Wir kennen uns, seit wir ein Schwert von einem Brotmesser unterscheiden können. Und von dem Tag an, als dir dein Vater die Königskette um den Hals legte, haben wir jedes Unternehmen gemeinsam gemacht. Ich hätte dich schon daran gehindert, diesem thebanischen König eine Klinge in den Bauch zu jagen!«
»Ich mußte dich mit der Hälfte meines Heeres zurücklassen, das weißt du. In diesen neun Jahren war ich noch nie so lange fort, und wir wußten alle nicht genau, wie sich meine Abwesenheit auswirken würde. «
»Sie hatte keine Auswirkungen! Wir haben kaum gekämpft, und einen Gegner, der sich hinter dem Erdwall verschanzt, kann Hektor nicht bezwingen. Agamemnon hat es allerdings sehr gewurmt, so deutlich zeigen zu müssen, wie sehr er auf dich angewiesen ist. Und du ärgerst dich über sein Verhalten? Leider bist du auch manchmal blind vor Wut. Merkst du nicht, daß er so handelt, um sich dir gegenüber stark zu zeigen? Wenn er schon von deinem Schwertarm abhängig ist, möchte er dich wenigstens anderweitig beherrschen können. Da genügen nicht mehr allein Verträge, um die du dich ja – ganz davon abgesehen – auch nicht immer kümmerst. Und wenn Agamemnon Zeus Metietes opfert und die sichere Verbindung der Stadtstaaten erfleht, so meint er damit sich und dich.«
»Dieser Heuchler! Sorgt sich um den Bund, aber beleidigt mich ...«
Patroklos legte die Hand auf Achilleus’ geballte Faust. »Er wird sich entschuldigen, ganz sicher. Dir ist zwar unschwer anzusehen, daß du ihn gerne hinhalten würdest. Aber wenn du auf mich hören willst ... Nimm seine Entschuldigung an!«
Die Frau räkelte sich schlaftrunken und schmiegte sich an Patroklos. Als sie aus ihren verquollenen Augen Achilleus erblickte, stieß sie einen empörten Schrei aus und schob ihre Brustschalen zurecht. Sie tat es mit aufreizenden Bewegungen, seine Gegenwart störte sie offenbar nicht im mindesten.
»Ich wollte dir eine Frau als Geschenk mitbringen«, fiel Achilleus ein. »Es tut mir leid, ich hatte noch keine Gelegenheit, eine für dich auszuwählen. Aber ich weiß schon, welche, sie wird dir gefallen ... Nicht so eine Schlampe wie die da.«
Die Frau wollte entrüstet aufbegehren. Patroklos hielt sie lachend zurück und tätschelte begütigend ihre Wange.
»Was die Sache mit den Widdern betrifft«, sagte er, »so ist das höchst einfach.«
Kurz darauf steckte Xera den Kopf durch den Vorhang und berichtete, Agamemnon sei gekommen, um Achilleus seine Entschuldigung anzutragen.
»Hoffentlich hat er wenigstens eine schlaflose Nacht gehabt«, sagte Achilleus triumphierend und verließ Patroklos’ Kammer. Er und Nestor hatten also Recht behalten, wenngleich sie kaum erwartet haben dürften, daß Agamemnon so rasch und dann noch persönlich kommen würde.
Agamemnon äußerte in aller Form Reue und Bedauern über sein Verhalten. Er zeigte sich ehrlich betroffen, und so nahm Achilleus die Entschuldigung an, entgegen seiner Absicht, sich noch eine Weile unnachgiebig zu zeigen. Agamemnon lud ihn in sein Haus ein, da ja die Verteilung der Beute noch immer ausstand, und überließ ihm, als Zeichen des guten Willens, den Vortritt bei der Auswahl.
Achilleus wählte außer dem fuchsfarbenen Hengst einige Talente Goldes und zwei Frauen für Patroklos und Alkimedon. Eine der beiden war jene Frau, die den Gerai auf seinem Schiff gedient hatte, eine hübsche Skyrin mit langem schwarzem Haar. Außerdem entschied er sich für die Eisenscheibe aus Theben. Er wollte sie einem myrmidonischen Schmied geben, der im Herstellen von Schwertern einen hervorragenden Ruf besaß und von sich behauptete, das Geheimnis des Eisens zu kennen. Zuletzt verlangte Achilleus noch die beiden Geiseln, den Priamiden und die thebanische Königin, was Agamemnon mit einem Achselzucken hinnahm.
Wie beiläufig sagte Achilleus: »Dein Ehrengeschenk ist übrigens die Tochter eines Apollon-Priesters.«
Agamemnon schien den schnippischen Ton nicht zu hören. »Das weiß ich doch längst«, erwiderte er ungerührt. »Hast du etwa geglaubt, das würde mich in meiner Wahl beeinflussen? Das schreckt mich nicht, solange sie nicht selbst dem Gott geweiht ist. Ich fürchte Apollon nicht.«
Das klang gelangweilt, zu gelangweilt, wie Achilleus fand. Nun glaubte er zu erkennen, aus welchem Grund Agamemnon sich für Chryseis entschieden hatte. Sieh her, Achilleus, ich fürchte die Götter nicht mehr als du ... Wollte ihm Agamemnon etwa genau das beweisen? Einen Moment überlegte er, ihn davor zu warnen, mit ihr zu schlafen, aber dann erschien es ihm unsinnig. Zum einen hatte Agamemnon keine Warnung verdient, zum anderen wußte er ja, wen er sich ins Haus geholt hatte. Außerdem ... ein solcher Rat ausgerechnet von mir, dachte er, das will einfach nicht so recht passen.
Es war bereits dunkel, als Helenos den großen Freiplatz vor dem Tempel betrat, der sich im Osten Troias als erhöhtes Plateau von der sonst ebenen Stadt abhob. Der langgestreckte hohe Tempel Apollons überragte die Megara der anderen Götter bei weitem.
Helenos hatte ihn schon seit Wochen nicht mehr verlassen. Auf den Stufen zum Vorraum saßen buntgekleidete Adeptinnen und winkten ihm zu. Sie waren damit beschäftigt, Geschenke von Gläubigen anzunehmen, kleine Dinge, die den Gott für Bitten empfänglich stimmen sollten oder zum Dank für erhörte Gebete gedacht waren. Frauen legten den Priesterinnen Gewürzsträuße vor die Füße und baten für ihre Männer und Söhne um Beistand in den bevorstehenden Schlachten. Männer zogen ihre Schwerter und ließen sie von den Händen der Adeptinnen segnen. Helenos erkannte Hektor.
Hektor steckte sein Schwert zurück in die Scheide, verabschiedete sich von den züchtig lächelnden Mädchen und stiefelte auf Helenos zu. »Wie geht es dir mittlerweile?« fragte er. »War unsere Mutter bei dir im Tempel?«
»Na ja, besser«, erwiderte Helenos und machte eine übertriebene Geste. »In meinem Kopf dreht sich alles nicht mehr ganz so wirr. Sie kam, beschwerte sich über die schlechte Luft in meiner Kammer und darüber, daß ich noch nichts gegessen habe, und verschwand wieder.«
»Ich bin nicht nur hergekommen, um zu sehen, wie es dir geht, und dich zu fragen, ob du in den Palast kommen kannst, um das Orakel zu stellen. Ich hätte auch ein paar Fragen, die nur ein Deuterpriester beantworten kann. Die Achaier wollen eine Hekatombe opfern. Könntest du herausfinden, wofür?«
»Eine Hekatombe? Ja, woher weißt du das?«
Hektor lachte grimmig. »Von Achilleus! Er erschien heute vor dem Tor, allein und ungerüstet.«
»So etwas würde niemand sonst wagen!« sagte Helenos atemlos.
»Zweifellos. Er hatte zwei Geiseln bei sich, Andromaches Mutter und unseren Bruder Lykaon, für deren Herausgabe er siebzig Opferwidder verlangte.«
»Lykaon! Er lebt, Apollon sei Dank. Konntet ihr keinen Ausfall machen und sie beide in die Stadt holen?«
Hektor rang die Hände vor soviel Unverstand. »Ein solches Risiko wegen siebzig Widdern? Einer meiner Männer war so töricht, einen gespannten Bogen auf Achilleus zu richten. Da hielt er einen Dolch an Lykaons Kehle und drohte, ihn noch an Ort und Stelle zu töten. Er fordert die Widder innerhalb von drei Tagen.
Ich gab ihm mein Wort, und er ließ daraufhin Andromaches Mutter frei. Andromache hat geweint vor Freude. Lykaon nahm er wieder mit. Er sagte, er läßt ihn frei, sobald wir die Widder geliefert haben. Außerdem meinte er, Lykaon sei der Preis dafür, daß wir keine neugierigen Fragen stellen.«
Helenos senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Glaubst du, ihn könnte das gleiche Schicksal ereilen wie damals Troilos?«
Hektor schwieg lange. »Nein«, sagte er nach einer endlosen Weile. »Achilleus bricht nicht sein Wort. Aber das weiß Lykaon nicht. Mutter ist in den Tempel der Pallas Athene gegangen, um ihr zu opfern. Sie sagte, dies ist Achilleus’ Göttin; wenn eine Gottheit ihn daran hindern kann, Lykaon etwas anzutun, dann sie. Priamos war sehr gefaßt. Er ordnete sofort die Beschaffung der Widder an.«
Seltsam, dachte Helenos. Die Achaier brauchen siebzig Widder, einige werden sie selbst haben. Also eine vollzählige Hekatombe. Wofür? Konnte er es herausfinden? War es überhaupt wichtig für Troia, den Grund zu kennen?
»Ich kann es versuchen, aber erwarte nicht zuviel von mir. Hektor, du kennst doch diese Prophezeiung über Achilleus, daß die Achaier Troia ohne ihn nicht erobern können.«
»Um das zu erkennen, bedarf es keiner Prophezeiung, sondern des gesunden Menschenverstandes!«
»Es gibt noch eine zweite Prophezeiung über ihn ... Eine möglicherweise nicht weniger bedeutende.«
»Von einer zweiten habe ich nie gehört«, sagte Hektor erstaunt. »Wie lautet sie?«
»Ich weiß auch nur, daß es sie gibt. Wahrscheinlich kennt niemand ihren Inhalt, nicht einmal Achilleus selbst ... Oder nur sehr undeutlich ...« Er senkte seine Stimme zu einem beschwörenden Raunen. »Ich stieß bei meinen Forschungen durch Zufall darauf. Sie liegt unter einer dicken Schicht der Zeit begraben ... Die Götter müssen sie vor langer Zeit formuliert haben. Warum ist sie vergessen worden? Ich wollte mit Hilfe gewürzter Dämpfe ihren Wortlaut erkunden – und bin kläglich gescheitert.«
Hektors Augen blitzten im Sonnenlicht. »Das ist also der Grund, weshalb du dich mit deinen Weihrauchpulvern übernommen hast.«
»Ja. Ich wollte es herausfinden. Wer weiß, vielleicht gibt es zwischen dieser Prophezeiung und dem Tod unseres Bruders Troilos einen Zusammenhang? Warum –«
Hektor beschrieb das Zeichen gegen die Ker und sagte erregt: »Troilos ist tot. Achilleus ist ein Schlächter. Fragt man einen Schlächter, warum er den Ochsen zur Schachtbank führt? Fragt man einen Hund, warum er ein Kaninchen totbeißt?« Er schüttelte die Faust dicht vor Helenos’ Gesicht, als wolle er ihn für seine Hilflosigkeit verantwortlich machen, und fügte heftig hinzu: »Daß er stirbt wie Troilos, das ist der Tod, den er verdient!«
Helenos ging an ihm vorbei, denn vier Träger kamen mit der Sänfte, die er bestellt hatte. So mußte er ihm nicht antworten. Er hätte Hektor nichts von alledem sagen sollen, nichts von diesen Dingen, die er selbst kaum verstand. Hektor sah sie mit den Augen des Kriegers, und er urteilte darüber mit dem Verstand eines Kriegers. Und was er mit seinem Verstand nicht begreifen konnte, das existierte für ihn nicht. Das war bei Achilleus anders, dessen war sich Helenos sicher.
Als er versucht hatte, durch die Orakelschale an Achilleus’ Sinne heranzukommen, um herauszufinden, womit dem Achaier vielleicht beizukommen wäre, war er auf eine starke Aura gestoßen. Sie war so bezwingend gewesen, daß er sie nicht hatte durchdringen können. Eine seltsame Aura war es gewesen. Nur in den raren Momenten, wenn die Götter zu ihm sprachen, spürte er ähnliches. Natürlich, Achilleus war der Sohn einer Göttin, einer Elementargöttin, das war bekannt ...
Mit Schaudern erinnerte er sich daran, wie er über den kochenden Schalen fast die Besinnung verloren hatte, als der stechende Schmerz in seinen Kopf gefahren war, wie er die Gefäße umgerissen und sich an ihrem Inhalt fast noch verbrüht hatte. Er setzte sich in den Sänftenstuhl und lehnte sich ermattet zurück. Wie sehr bedauerte er, von seiner Sehergabe gerade jetzt im Stich gelassen zu werden. Phoibos Apollon hatte sie ihm bereits im Kindesalter geschenkt, und zu Beginn des Krieges hatte er sich für eine Priesterlaufbahn entschieden. Jetzt war er gerade fünfundzwanzig Jahre alt, kannte seinen Beruf so gut wie sein Bruder Hektor das Kriegshandwerk; und doch fühlte er sich so nutzlos wie noch nie in seinem Leben. Seine Brüder bewiesen sich wenigstens im Kampf – mehr oder weniger erfolgreich. Und was tat er, um der Bedrohung durch die Achaier Herr zu werden? Hier hatte er sich als unfähig erwiesen. Vielleicht wäre er auf dem Schlachtfeld, mit einem Schwert in der Hand, besser aufgehoben.
»Außerhalb des Tempelbezirks wartet eine Eskorte auf uns«, sagte Hektor. »Heutzutage ist es nicht einmal für Priester ungefährlich, sich allein auf die Straße zu wagen.«
Troia war eine alte Stadt, auch wenn man sich nur der letzten hundert Jahre erinnerte, seit ihre Schutzgottheit nicht mehr Pallas Athene, sondern Phoibos Apollon hieß. Die Art, wie die Stadt im Laufe der Zeit nach innen gewachsen war, ließ erahnen, daß das Bollwerk wohl seit Jahrhunderten bestand. Die ursprünglich klare Ordnung der Straßen hatte sich in ein undurchschaubares Gewirr verwandelt. Die Mauer verhinderte eine weitere Ausdehnung: Schutz war wichtiger als zusätzlicher Lebensraum. Die Menschen hatten sich an dieses Chaos gewöhnt, viele liebten es sogar. Doch seit die Krieger der Hilfsvölker Wohnraum beanspruchten, war die Enge erdrückend geworden. Sie hausten in Zelten und Baracken am Rande der Stadt; dort herrschte ständig Gedränge. Es ließ die Anwohner nie zur Ruhe kommen, nicht einmal nachts und schon gar nicht zu Zeiten, in denen nicht gekämpft wurde.
Wer sich auskannte, wußte, welchen Weg er wählen mußte, um schnell von einem Ende der Stadt zum anderen zu gelangen; und Hektor kannte sich aus. Dennoch war es unvermeidlich, auf schmutzige Zeltplanen und ärmliche Hütten zu stoßen. Selbst Priester wie Helenos konnten froh sein, wenn sie von den betrunkenen fremdländischen Kriegern, die fremde Götter anbeteten, nur angepöbelt wurden.
»Ich hatte fast schon vergessen, wie es in der Stadt aussieht. Wer sind diese Krieger dort?« Helenos zeigte auf eine Gruppe Männer. Sie hatten ihre schwarzen Haare zu Knoten aufgesteckt und mit bunten Bändern geschmückt.
»Lykier. Sie kamen vor zwei Wochen an.« Hektor wies auf einen Mann in barbarischem Prunk, der sich trotz der sommerlichen Warme in einen Fellmantel gehüllt hatte. Eine geradezu riesenhafte Axt hing an seiner Seite.
»Das ist Sarpedon, ihr Anführer. Ich habe ihn schon einmal im Kampf gesehen. Er ist wild und unberechenbar.«
»Das glaube ich. Was hältst du davon, wenn ich selbst einmal versuche zu kämpfen?«
»Du? Soweit kommt es noch, daß unsere Priester zu den Waffen greifen müssen«, sagte Hektor abfällig. »Das würde bedeuten, Troia ist wirklich in schlimmer Gefahr.«
»Ist es das denn noch nicht?«
»Sei kein Narr«, entgegnete Hektor. Sie betraten den großen Palastbezirk. »Du würdest uns so nicht helfen. Vermutlich wärst du schon tot und nicht bloß ein paar Tage krank.«
Die riesige Palastanlage wirkte selbst wie eine kleine Stadt. Sie lag an der Westseite der Mauer, direkt neben dem Skaiischen Tor, dem Haupttor, als hätten die Erbauer geahnt, daß man eines Tages schnell die Mauerbrüstung würde erreichen müssen, um auf das Schlachtfeld sehen zu können.
Im Treppenhaus kam ihnen Deiphobos entgegen. Ohne Helenos zu beachten, ging er sofort auf Hektor zu. »Endlich! Ich suche dich schon seit heute mittag. Wie konntest du auf diese unglaubliche Bedingung eingehen? Bist du nicht ganz gescheit?« Deiphobos wollte Hektor am Arm packen, aber Hektor schüttelte seine Hand ärgerlich ab.
»Wovon redest du denn?« fragte er verständnislos.
»Von Achilleus’ Forderung, ihm Opferwidder zu geben!«
»Warum sollte ich ihm die nicht geben? Es geht immerhin um das Leben eines unserer Brüder.«
»Aber Hektor, denk doch nach. Wie viele Leben wird es uns kosten, wenn die Achaier dieses Opfer darbringen können? Wir haben keine Ahnung, was es bezwecken soll, aber es kann nichts Gutes für Troia bedeuten!«
Hektor wurde ungeduldig. »Warum gehst du damit nicht zu unserem Vater? Es liegt schließlich in seinem Ermessen.«
»Das tat ich bereits. Aber wenn es um seine Söhne geht, ist er für Argumente nicht empfänglich. Im übrigen bist du der Heerführer, also schiebe deine Entscheidung nicht auf Priamos, nur weil du nicht dafür geradestehen willst.«
»Selbst wenn deine Argumente bei mir verfangen würden, wie du es nennst, könnte ich doch nichts mehr ändern. Ich gab Achilleus mein Wort. Das ist eine Frage der Ehre.«
Deiphobos zuckte zurück, als hätte Hektor ihm ins Gesicht geschlagen. »Du ... du redest im Zusammenhang mit Achilleus von Ehre? Unglaublich!«
Hektor erwiderte darauf nichts mehr und ließ ihn einfach stehen. Düster schweigend führte er Helenos in die Gemächer seiner Frau.
»Deiphobos ist womöglich der Vernünftigste von uns allen«, überlegte Helenos laut, während er aus der Sänfte stieg. Er war froh, daß das Schaukeln ein Ende hatte. »Ist Ehre in diesem Krieg nicht längst überflüssig? Wer fragt später noch danach?« Hektor antwortete nicht, und so konnte Helenos seinen Gedanken nachhängen: Hast du die Stadt erfolgreich verteidigt oder hast du nicht? Mehr will man hinterher doch gar nicht wissen.
Vielleicht irrte er sich auch, er verstand nicht viel von dem, was man die Ehre eines Kriegers nannte. Man sagte, wenn ein Troianer einen Achaier zum Zweikampf herausforderte, mußte er nicht befürchten, daß Achilleus die Einladung annahm, da dieser es für ehrlos hielt, einen Schaukampf mit einem Schwächeren auszutragen. Demnach hatte diese Ehre zumindest einen Nutzen, nämlich den, einen anderen achaiischen König bekämpfen und auch besiegen zu können? Aber berechenbar war sie nicht, diese Ehre, dachte Helenos, zumindest nicht die des Achilleus, denn wie vertrug sie sich mit Troilos’ Tod?
Seine Schwägerin eilte freudig überrascht auf ihn zu und umarmte ihn. Das Bett mußte sie nicht mehr hüten, sie wirkte frisch und gesund. Wahrscheinlich war die Freigabe ihrer Mutter für die rasche Genesung verantwortlich. Die Königin von Theben saß in der Ecke des Gemachs. Da er nicht wußte, ob sie der troianischen Sprache mächtig war, nickte er ihr nur freundlich zu und versuchte, in ihrem Gesicht etwas von dem zu lesen, was ihr bei den Achaiern widerfahren war. Doch es schien ihr gutzugehen. Einige seiner Schwestern waren anwesend, Hekabe natürlich, und Dienerinnen. Durstig trank er den Wein, der ihm gereicht wurde. Die dargebotenen Früchte lehnte er ab. Sobald Hektor und Andromache Platz genommen hatten, wandte er sich seiner Aufgabe zu. Er nickte ihr aufmunternd zu, kniete vor ihr auf den Boden und stellte eine Schale mit Weihwasser auf. Einem Holzkästchen entnahm er Pulver von Bleiweiß und Rötel, vermischte es mit Wasser und malte mit der Paste ein Pentagramm auf die Steinfliesen. Als er fertig war, säuberte er seine Finger in der Weihwasserschale.
»Hektor, du hast mir noch nicht gesagt, wie euer Sohn heißen soll.«
»Ich beschloß, ihn Skamandros zu nennen«, erklärte Hektor stolz, »nach dem Fluß, der unser Land eines Tages wieder fruchtbar machen wird. Skamandros gehört zu den Göttern, die uns in diesem Krieg beistehen, wie die Priester sagen. Außerdem ...« Er warf einen lächelnden Seitenblick auf Andromache. »Nachdem ich ihm opferte, wurde meine Frau endlich schwanger.«
Warum nicht, dachte Helenos, ein Flußgott ist zugleich ein Fruchtbarkeitsgott; er bewässert die Felder und sorgt für guten Boden, jedenfalls wenn nicht gleich alles wieder zertrampelt wird. Er hob die Hände und sprach ein kurzes Gebet. Dann herrschte atemlose Stille. Nur das Knistern der Flammen in ihren Steinschalen war vernehmbar. Er beugte sich über das Pentagramm, atmete den Duft des Weihwassers ein und versuchte, sich auf die Zeichnung zu konzentrieren, obwohl er nahezu sicher war, daß die polierten Steinplatten Steine bleiben und sich nicht in eine Vision verwandeln würden. Er wartete eine angemessene Zeit, dann sprach er einige Worte über das Leben des zukünftigen Sohnes, so allgemein formuliert, daß sie niemanden beunruhigen konnten. Hektor und Andromache stießen gleichermaßen erleichtert den Atem aus. Helenos mußte über ihre Reaktion lächeln. Er wandte sich noch einmal dem Pentagramm zu – und riß überrascht die Augen auf.
»Helenos! Was ist?«
Helenos blinzelte. Er starrte auf den Boden, aber was immer er gerade gesehen hatte, war wieder fort. Eine Vision, von den Nachwirkungen des Giftes in seinem Körper hervorgerufen? Oder nur ein Lichtreflex der Flammen, der seine Augen genarrt hatte?
»Was hast du noch gesehen?« fragte Andromache aufgeregt. »War es etwas Schlechtes? Ein Omen?«
Helenos zögerte. »Ich sah Feuer. Aber es war nicht Troia! Es war ...« Er rief sich noch einmal das Bild in Erinnerung. Ein Feuer. Nein, ganz sicher war es keine Stadt, die er hatte brennen sehen, ja nicht einmal ein Gebäude. »Nun, es war ein Schiff.« Er konnte förmlich hören, wie alle im Raum den Atem anhielten. Ein Schiff!
»Ein Schiff«, flüsterte Hektor beinahe andächtig. »Bist du sicher, daß du dich nicht getäuscht hast?«
Getäuscht ...? Helenos schüttelte den Kopf. Plötzlich war er sich äußerst sicher. Zweifellos hatte er ein Schiff brennen sehen. Jetzt glaubte er sich auch an einen Enterhaken oder einen riesigen Speer zu erinnern.
»Wenn es das ist, woran ich jetzt denke«, Hektor sah zum Fenster, »dann bedeutet das tatsächlich einen Untergang. Den der Achaier!«
»Aber Hektor«, begann Andromache vorsichtig. »Helenos sah nur ein Schiff brennen – nicht tausend. So ein Schiff kann auch aus Versehen in Brand geraten, oder nicht? Willst du daraus Schlüsse ziehen?«
»Allerdings. Hat etwa in all den Jahren einmal versehentlich eines dieser verfluchten Schiffe gebrannt? Nein. Dazu wird es auch niemals kommen. Genausowenig wie ein Tempel oder eine Götterstatue aus Unachtsamkeit brennen. Die Priester sind zu gewissenhaft. Lassen die Achaier irgend etwas an ihre Schiffe kommen? Bedenk doch, es ist nicht ein einziges Mal passiert, wenn sie ihre Stadt öffneten. Und du kannst mir glauben, bei dem Versuch haben Unzählige ihr Leben gelassen. Es kann einfach nur bedeuten, daß es während einer Schlacht geschieht, einer Schlacht in ihrem Lager! Und bei allen Göttern, die noch auf unserer Seite sind: Brennt erst einmal eines, brennen alle! Und falls du immer noch nicht überzeugt bist ... Glaubst du, Apollon offenbart seinem Priester etwas, das sich dann als völlig belanglos herausstellt?«
Helenos fand Hektors Worte einleuchtend. Und doch – war die Voraussetzung dafür nicht Achilleus’ Tod? Er hütete sich, dies laut auszusprechen. »Du weißt, der mächtige Herr Apollon ist bei dir. Er ist dein und Troias Beschützer.« Diese Worte entsprachen der Wahrheit, das wußte Helenos plötzlich, und diese Gewißheit kam nicht von dem, was man ihn über die Gunst oder Abneigung der Götter gelehrt hatte. Eine Gewißheit, die er fast körperlich zu spüren glaubte ... Dieses Feuer, ja es konnte nur dieses Feuer sein, das die Achaier mit ihrer Hekatombe verhindern wollten. Er versuchte, sich seine Erregung über diese Erkenntnis nicht anmerken zu lassen. Apollon! dachte er voll Dankbarkeit. Wenn dieses Feuer tatsächlich die Vernichtung des achaiischen Heeres bedeutet, und dies der Grund für deren Hekatombe sein sollte – dann werden die Götter, dann wirst Du, Apollon, sie nicht annehmen. Apollon, Träger des silbernen Bogens! Endlich werden die Achaier Deinen Zorn zu spüren bekommen.