Читать книгу Achill. Held und Frevler - Sabine Wassermann - Страница 5
PROLOG
ОглавлениеWasser war heilig. Die Aufgabe, es zu holen, war es nicht weniger. Niemand durfte die Frauen daran hindern, die Stadt Troia zu verlassen, um zu dem Wasserhäuschen zu gehen, das in Sichtweite der riesigen Stadtmauer inmitten des Feldes stand. Es gab in der belagerten Stadt genug Brunnen, um die Menschen zu versorgen, aber nur das geweihte Wasser des Apollon Thymbraios wurde für seinen Gottesdienst verwendet. Die Frauen, zumeist Angehörige der königlichen Familie, genossen die seltenen Gelegenheiten, der Enge der Stadt für kurze Zeit zu entfliehen. Sie fühlten sich sicher, hatten es doch in den langen Jahren des Krieges nicht einmal die achaiischen Feinde gewagt, sich jener Frauen zu bemächtigen, der kostbarsten Beute überhaupt.
Darum waren die drei Tochter des Königs von Troia auch diesmal recht sorglos, als sie mit Krügen und Ziegenschläuchen zum Brunnen gingen. Sie hatten ihren Bruder Troilos sanft verspottet, da er sie unbedingt begleiten wollte, um sie zu schützen. Er war noch sehr jung, der jüngste Sohn des Königs, gerade alt genug, eine Rüstung zu tragen, und tatendurstig. Es ärgerte ihn, daß sein Vater ihm immer noch nicht erlaubte, an einer Schlacht teilzunehmen. Aber die Waffen, die er eben erst zu seinem fünfzehnten Geburtstag bekommen hatte, ein lederner Brustpanzer und ein Bronzeschwert, ließen ihn hoffen. Heute nun trug er sie zum ersten Mal, und erhobenen Hauptes ging er vor seinen Schwestern her.
Das Brunnenhäuschen war nicht mehr als eine morsche alte Holzhütte, eines so mächtigen Gottes wie Apollon eigentlich unwürdig. Vor langer Zeit hatte man hier Gottesdienste abgehalten und ihm auf dem steinernen Altar, nur wenige Schritte entfernt, Hähne geopfert. Jetzt aber hing die Tür schief in den Angeln und ließ sich nicht mehr völlig schließen. Durch die Ritzen der verwitterten Bretter drang diffuses Licht ein, so daß die Stufen zum Wasserloch leicht zu erkennen waren. Ein seit vielen Jahren verblaßtes Bild des Lichtgottes schmückte die Wand gegenüber dem Eingang. Freundlich begrüßten seine großen, einstmals tiefblauen Augen die Eintretenden.
Lachend und scherzend machten sich die Frauen mit ihren Behältern am Wasser zu schaffen, während ihr Bruder draußen wartete. Als sie fertig waren, wollten sie mit einem ehrerbietigen Gruß an den Gott hinausgehen, doch Troilos versperrte ihnen den Weg.
»Bleibt drinnen«, sagte er, »da ist jemand.«
»Oh, werden wir bedroht?« rief eine der Schwestern in gespieltem Ernst. Die anderen kicherten.
»Seht selbst«, sagte Troilos und trat zur Seite.
»Himmel, das Heer der Achaier greift uns an!« Seine Schwester lachte gutmütig, denn draußen erblickte sie in nicht allzu weiter Entfernung einen Achaier, der, auf seinen Speer gestützt, scheinbar teilnahmslos dem Treiben am Brunnenhaus zusah. Der große Krieger fürchtet sich vor einem einzigen Achaier, wollte sie rufen, aber die Worte blieben ihr im Halse stecken, denn nun erkannte sie den Mann. Sie wurde blaß.
»Was kann er hier nur wollen, so dicht bei der Stadt?« Sie wandte sich zu ihren Schwestern um, die sie sichtlich verstört ansahen. »Habt keine Angst«, sagte sie so ruhig wie möglich, »er darf uns nichts tun. Aber wir sollten nicht so auffällig zu ihm hinsehen.«
»Außerdem bin ich ja hier, um euch zu beschützen«, erklärte Troilos mit dem Ernst seiner fünfzehn Jahre. In diesem Augenblick hob der Achaier den Speer und schleuderte ihn in seine Richtung. Zitternd fuhr die Waffe direkt vor Troilos in den Boden. Vor Schreck gelähmt starrte der Junge auf das Geschoß, dann auf den Achaier, der jetzt auf ihn zustürzte.
»Troilos, lauf weg!«
»Ihr Götter, helft mir!« schrie Troilos in panischer Angst.
»Lauf!«
Achtlos ließen die Frauen die Krüge und Schläuche fallen und stürzten zurück in die Hütte. Im Innern sahen sie sich in fieberhafter Eile nach etwas um, womit sie die Tür verbarrikadieren konnten, aber es gab nichts. Draußen hörten sie Troilos dem Achaier mit bebender Stimme zurufen, er möge stehenbleiben und sich daran erinnern, daß sie unter Apollons Schutz standen. Die einzige Antwort waren die schnellen Schritte des Angreifers. Troilos schrie gellend. Verzweifelt preßten sich seine Schwestern in die Ecken und begannen zu beten. Mit einem dumpfen Knall schlug etwas gegen die Wand. Gleich darauf hörten sie ihren Bruder um Gnade flehen, hörten ihn keuchen und stöhnen bei seinem hoffnungslosen Versuch, sich zu retten. Das metallische Scharren eines Schwertes, das aus seiner Scheide gezogen wurde, verriet das nahende Ende dieses ungleichen Kampfes. Ein harter Schlag war noch zu hören, dann nichts mehr.
Angespannt lauschten die Troianerinnen in die unerwartet eingetretene Stille. Zweifellos würde der Mörder jetzt zu ihnen kommen. Es kostete sie große Überwindung, durch die Ritzen der Bretter hinauszusehen. Ein entsetzliches Bild bot sich ihnen. Auf dem Altar, dessen schwärzliches Gestein über und über mit Blut bespritzt war, lag Troilos’ Körper. Davor kauerte der Achaier; das Schwert ruhte scheinbar vergessen in seiner rechten Hand. Die Linke hielt ein dunkles, strähniges Bündel, von dem die Frauen vermuteten, was es war, was jedoch ihr Verstand sich weigerte zu glauben. Als Schreie des Entsetzens und der Empörung erklangen, sprang er sofort mit erhobener Klinge auf. In einiger Entfernung standen Männer – sie hatten schon vieles gesehen, aber dies hier lähmte sie. Erst nach einer unendlich langen Weile hoben sie Speere, zogen Schwerter, um diese schändliche Tat zu rächen.
Unsägliche Erleichterung erfaßte die Troianerinnen, auch wenn sie bezweifelten, daß ihre Landsleute eine Gefahr für den Achaier darstellten. Dazu waren es einfach zu wenige – höchstens zwei Dutzend marschierten wie eine Wand auf ihn zu. Er schleuderte Troilos’ Kopf auf die Männer, die aufschreiend zurückstoben, dann drehte er sich um und rannte davon.
Weinend wandten sich die Frauen von dem Grauen ab, um Apollons heiliges Brunnenhaus zu verlassen, das auch für sie beinahe zu einer tödlichen Falle geworden war. Dieser Ort war nun nicht mehr derselbe, ein Relikt des lange zurückwährenden Friedens, eine Insel inmitten des Blachfeldes. Jetzt war er so verflucht wie alles hier. Da fielen ihre Blicke auf das Bild des Gottes an der Wand. Die großen blauen Augen, denen nichts entging, hatten sich angesichts der Greueltat geschlossen.