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III.

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Achilleus’ Haus bildete den südlichsten Punkt der Schiffsstadt. Direkt daneben erhoben sich die spitz zugeschnittenen Pfähle des Südtores. Nur hier und an der Nordspitze stand eine Mauer aus Holz, gerade so breit, wie die Stadt schmal war. Die gesamte Längsseite der Stadt wurde lediglich durch Erdwälle und Gräben geschützt, unterbrochen von fünf Toren. Das Haus war zweigeschossig, wie die meisten hier, und zusätzlich von einem mannshohen Zaun umgeben. Dieser diente ursprünglich dem Schutz des Königs, jetzt aber lagen herausgebrochene Latten herum, und der schmale Raum zwischen Zaun und Hauswand war vollgestopft mit allem möglichen: Getreidesäcken, Strohballen, Waffen. Denn überall in der Schiffsstadt herrschte Platzmangel, da machte das Haus des Königs keine Ausnahme. Die wenigen kleinen Kammern des Hauses gruppierten sich um einen gemeinsamen Herdfeuerabzug.

Hier wohnten außer Achilleus auch sein Lawagetas Patroklos. Hinzu kamen noch zwei Dienerinnen, die schon zu seinem Haushalt in Phthia gehört hatten, und zwei vor Jahren bei kleineren Streifzügen erbeuteten Sklavinnen. Nun würden zwei weitere Frauen Platz finden müssen: Das Mädchen, das Achilleus als Geschenk für seinen Lawagetas auswählen wollte, und sein Geras, das ihm die Könige heute abend geben würden.

Achilleus hatte sich endlich rasiert und den Schmutz der Reise abgewaschen. Jetzt trug er ein leuchtendgelbes Safrantuch um die Hüften. Es wurde von einem breiten Gürtel aus Goldgliedern gehalten und reichte bis zu den Fußknöcheln. Sein Oberkörper war, von der Königskette abgesehen, nackt. Er saß auf einem Stuhl und ließ sich von einer phrygischen Sklavin frisieren. Sie kämmte seine langen Nackenhaare, flocht sie zu vielen Zöpfen und steckte deren Enden in kleine Onyxkegelchen. Die kurzen Stirnhaare drehte sie zu spiralförmigen Locken, legte sie nach hinten und befestigte sie mit Golddraht. Er besah sich die aufwendige Prozedur in einem Bronzespiegel. Es gefiel ihm zwar nicht, daß sie mit dem heißen Stab vor seinem Gesicht herumhantierte, aber er ließ es geduldig über sich ergehen.

»So stelle ich mir einen Gott vor«, sinnierte sie. »Ihr seid so schön wie Apollon.«

Achilleus mußte lachen. »Dann sehe ich aus wie eine Schlange? Apollon ist der Gott der Schlangen, er führt sie an der Leine und streichelt sie wie Schoßhündchen.«

»Nein, nein, ich meine doch den Lichtgott«, beeilte sie sich zu erklären. »Man sagt, als er auf Delos geboren wurde, blühte die ganze Insel, und alles verwandelte sich in Gold. Das Wasser wurde golden, und überall leuchtete es. Und Leto sagte: Licht ist aus meinem Schoß gefallen.«

»Wo hast du denn diesen Unsinn her?«

»Das hat man mir als Kind schon so erzählt«, sagte sie zögernd, denn sie begriff allmählich, daß sie diesen Gott vor ihrem Herrn nicht hätte erwähnen sollen. »Und die Priester sagen das auch.«

Er warf den Spiegel auf einen Tisch, da er nicht aufstehen konnte, um ihn wegzulegen. Das Mädchen wertete diese Geste jedoch falsch. »Es – es tut mir leid«, stammelte sie. »Ich wollte Euch nicht verärgern, bestimmt nicht. Bitte ...«

»Ist ja gut!« unterbrach er sie ungehalten.» Du kannst anbeten, wen du möchtest, und dir Apollon vorstellen, wie du ihn haben willst. Aber du wirst es im Verborgenen tun müssen. Ich will nicht noch einmal hören, daß du solche Dummheiten von dir gibst. Wie lange gehörst du jetzt mir?«

»Zwei Jahre.«

»Vielleicht ist es an der Zeit, dich zu verkaufen!«

Sie wurde blaß und fing leise an zu weinen. Mit zitternden Fingern ordnete sie noch die letzten Locken und trat dann zurück. »Ich bin fertig«, murmelte sie.

Achilleus stand auf und griff prüfend in sein Haar. »Das hast du sehr gut gemacht«, sagte er versöhnlich und zog sie an sich. »Ich wollte nicht grob zu dir sein. Vergiß einfach, was ich gesagt habe.« Er küßte sie auf die Wange, und ihr Gesicht erhellte sich sofort. Es war nicht sehr klug, ihre jugendliche Schwärmerei für ihn noch anzufachen, das war ihm klar. Bisher hatte er sie noch nicht in sein Bett geholt, und es war auch vorerst nicht seine Absicht; sie war ja kaum dreizehn Jahre alt. Aber ihre Zuneigung tat ihm gut.

»Bring mir einen Mantel«, bat er sie. »Und sage Alkimedon, er soll mir ein Pferd satteln.« Die Phrygierin nickte eifrig und huschte hinaus.

»Es wäre gut, wenn Ihr noch ein wenig Zeit für mich erübrigen könntet«, erklang eine freundliche tiefe Frauenstimme von der Tür her, »bevor Ihr ins mykenische Lager reitet, um Euer Ehrengeschenk zu holen. Seid gegrüßt, o Wanax von Phthia.«

Respektvoll und ein wenig überrascht verneigte er sich vor der Hohepriesterin der Pallas Athene. Mit ihrem Erscheinen hätte er am allerwenigsten gerechnet. Für gewöhnlich verließ sie das Haus der Athene-Priesterschaft sehr selten, also mußte es einen äußerst wichtigen Grund geben. Darum konnte er kaum hoffen, daß es lediglich um die kleine Priesterin ging, mit der er heute aneinandergeraten war, geschweige denn darum, ihn von seiner Reise willkommen zu heißen. Sie war eine ehrfurchteinflößende Frau um die Fünfzig, mit einem freundlichen, aber ernsten Gesicht, das durch die turmhohe Kegelfrisur noch hoheitsvoller wirkte. Drei kleine blutrote Tätowierungen in Form von Rosetten zierten Wangen und Kinn. Unter einem durchscheinenden Seidenmantel trug sie das für Athene-Priesterinnen übliche Mieder und die Kupfermitra. Allerdings bedeckte ihre breiten Hüften kein neckisch kurzer, sondern ein wallender, bodenlanger Rock.

Bei jedem anderen Besuch hätte er eine Sklavin gerufen, um den Gast zu bedienen. Ihr gegenüber wäre es schon taktlos gewesen, unaufgefordert ein Wort zu sagen. So bot er ihr nur einen Stuhl an und schob ihr eigenhändig einen Schemel unter die Füße, nachdem sie sich gesetzt hatte. Dann schenkte er ihr einen Becher Wein ein und reichte ihn ihr. Erst als sie getrunken hatte, ließ er sich selbst in angemessenem Abstand nieder.

»Ich hätte sehr gerne von Eurem so überaus erfolgreichen Feldzug gehört«, sagte sie nach einer endlosen Weile. »Doch nicht jetzt. Ich habe oft in der Orakelschale geforscht, wann Ihr zurücksein würdet. Leider besitze ich nicht so viel Talent, was okkulte Dinge angeht. Nun seid Ihr vier Monate unterwegs gewesen, und ich wurde immer ungeduldiger, wenngleich die Sache, um die es mir geht, noch viel länger zurückliegt. Doch nun möchte ich nicht mehr warten, es ist zu wichtig. Nicht für mich, sondern für Euch. Mich geht das eigentlich gar nichts an. Der Hohepriester Apollons bat mich, an seiner Statt mit Euch zu reden. Er selbst wird, wie er sagte, nicht mehr erreichen, als daß Ihr ihn aus dem myrmidonischen Lager jagt.« Sie lächelte wohlwollend. »Er schätzt Euch gut ein, nicht wahr?«

»Ich weiß, ich habe einen seiner Priester beleidigt«, erwiderte er unbehaglich. »Was immer ich damals zu diesem Adepten gesagt habe, ich nehme es zurück.«

»Weil Ihr es bereut, oder weil Ihr nur die Wogen glätten wollt?«

»Weil Ihr es seid, die mich darum ersucht.«

»Aber das tue ich ja gar nicht«, winkte sie ab. »Von dieser Sache erwähnte er nicht viel. Er meinte, er sei Eure Fehltritte gegenüber der Priesterschaft leid, aber deswegen würde er mich nicht bemühen. Er hält Euch für respektlos und unbeherrscht, und Ihr habt sicher wenig dazu beigetragen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Sicher wird ihn Eure Entschuldigung überraschen – zwar eine halbherzige, aber immerhin.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause, während der sie ihren Rock in sorgfältige Falten legte. Achilleus’ Unruhe wuchs.

»Reden wir nicht mehr lange darum herum. Es geht um Eure Mordtat am thymbraiischen Brunnenhaus«, sagte sie endlich.

Das Blut schoß ihm in den Kopf. In seinem Inneren hatte er natürlich längst geahnt, weswegen sie gekommen war, und er begriff auch die Furcht des Apollon-Priesters, der die einzige zu ihm geschickt hatte, die er immer achten würde, gleichgültig was sie forderte. Tief atmete er ein; es kostete ihn alle Überwindung, davon zu sprechen. »Warum kommt man erst jetzt damit zu mir?« Seine Stimme kam krächzend, und er mußte sich räuspern.

»Sprecht bitte offen mit mir«, bat sie ihn leise. Er spürte, daß sie behutsam sein wollte. »Ich glaube, es ist gut, wenn ich alles darüber höre, auch und gerade von Euch. Apollon will Eure Bestrafung. Daß Eure Tat bereits einige Zeit zurückliegt, nun, das scheint mir keine Bedeutung zu haben.«

Er erinnerte sich an die Worte seiner Mutter: Für die Götter ist ein Tag nur ein Augenblick ... Vielleicht wollte Apollon auch nur, daß er in der quälenden Erwartung seiner Konsequenzen möglichst lange litt. Was immer kommen mochte, wann immer es kommen würde, wenn er nur endlich von der inneren Ruhelosigkeit befreit wurde, die seit jenem Tag auf ihm lastete ...

»Apollon ist Euch verhaßt«, fuhr die Hohepriesterin fort. »Das ist allgemein bekannt. Aber niemand fragte jemals nach dem Grund. Allen scheint es einfach nur ungeheuerlich, daß ein Mensch Apollon hassen könnte. Er ist der Gott des Lichts für alle, die ihn anbeten, sagen sie. Selbst für jene, die sein geliebtes Troia bekämpfen. Nur für seine ärgsten Feinde ist er der dunkle Sender des Todes.« Ihre Stimme wurde eindringlich. »Weshalb, Achilleus, ist er Euer Feind?«

Ja, warum? Warum spürte er diese Beklemmung, wenn er nur an ihn dachte? Warum konnten ihn die harmlosen Worte einer Sklavin derart aufbringen, daß er sie zum Weinen brachte? Das war sehr befremdlich. Da gab es einen Grund. Aber er vermochte ihn nicht zu erfassen. Was hatte der Gott ihm angetan? Es gab etwas, es gab etwas. Aber was? Vor seinem inneren Auge sah er wieder den gewaltigen Leib der Typhonschlange, wie sie den Lichtgott liebkoste und sein Haupt mit ihren zahlreichen Flügeln überschattete.

»Ich weiß es einfach nicht«, preßte er verzweifelt hervor. »Ich weiß fast nichts mehr von – dieser Tat. Wollte ich Apollon herausfordern? Warum habe ich es getan? Ich habe so oft darüber nachgedacht!«

»Ihr habt es verdrängt«, erkannte sie. »Es ist tief in Euch verborgen. Doch es muß heraus.«

»Nein«, widersprach er ihr sofort. Die Erinnerung war zu schlimm, um sie weiter mit sich herumzutragen. Eine heiße Welle der Angst stieg in ihm hoch.

»Es ist besser so«, sagte sie sanft. »Wollt Ihr denn, daß Ihr für etwas bestraft werdet, von dem Ihr gar nicht mehr wißt, was genau Ihr getan habt, geschweige denn warum? Verschafft Euch Klarheit, es wird Euch befreien. Kommt in mein Haus. Es gibt einen Weg, zurück in Eure Vergangenheit zu gehen – mit meiner Hilfe. Vertraut mir. Für jeden anderen Menschen wäre es gefährlich, jedoch nicht für Euch. Es wird so sein, als träumtet Ihr. Habt keine Angst.«

Achilleus hatte sie trotzdem, aber er rang sich durch, was blieb ihm anderes übrig? »Gebt mir noch etwas Zeit«, bat er. »Doch ich komme ganz sicher.«

»Seid unbesorgt, auch Ihr habt Götter, die noch auf Eurer Seite stehen. Und Zeus ist weise und gerecht, er wird Apollon nicht zügellos über Euch walten lassen.«

Sie erhob sich und wollte gehen, aber Achilleus stand auf und hielt sie am Arm zurück. Eine solche Geste durfte sich niemand ihr gegenüber erlauben, deshalb sah sie ihn tadelnd an. »Verzeiht«, sagte er, »ich habe vergessen, Euch darf man nicht berühren. «

»Mich nicht und keine meiner Priesterinnen sonst«, erinnerte sie ihn streng. »Habt Ihr es bei meiner Diomeda heute auch einfach nur vergessen?«

»Wenn Ihr die kleine Adeptin meint. Ich habe sie nicht angefaßt. Das war ein bedauerlicher Zwischenfall, für den ich nichts konnte, das müßt Ihr mir glauben.«

Ihre Stimme wurde wieder weich. »Ich bin zwar die Hohepriesterin der Pallas Athene, aber die Göttin hat mir noch niemals die Gnade und die Freude erwiesen, sich mir einmal zu zeigen. Ihr dagegen habt sie schon öfter gesehen und sicher auch mit ihr gesprochen?«

»Nun ja, das eine oder andere Mal.«

»Und wart Ihr zu ihr auch so höflich wie zu mir?«

»Vielleicht.«

»Dann ist es natürlich nur allzu verständlich, wenn Ihr gegenüber ihren Priesterinnen solche Geringfügigkeiten einmal vergeßt. Aber weswegen wolltet Ihr mich denn nun noch aufhalten?«

Unschlüssig wartete er darauf, daß sie sich wieder setzen würde. Aber sie blieb aufbruchbereit stehen. Er mußte sich also kurz fassen. »Es geschah in Theben«, begann er und berichtete ihr in knappen Worten vom Tod des Königs und von seiner Prophezeiung. Während er sprach, weiteten sich ihre Augen.

»Wir müssen opfern!« rief die Hohepriesterin entsetzt. »Opfern und beten!« Sie schlug die Hände vor die Augen. »O Zeus, schleudere Deine Blitze auf die Schlange! Herrin Athene, halte die Aigis schützend über uns!« Sie stöhnte. »Beschafft mir eine Hekatombe von Opferwiddern – und zwar eine vollständige.«

»Aber so viele Widder gibt es in der ganzen Stadt nicht!«

»Es muß sein. Ich gebe Euch eine Woche Zeit, länger dürfen wir nicht warten.«

»Eines noch «, sagte er schnell, als sie sich der Tür zuwandte. »Wieviel ist eine Prophezeiung wert?«

»Sind es Götterworte, bedeuten sie ehernes Gesetz«, antwortete sie. »Niemand kann sie umgehen, wenn sie ausgesprochen wurden, nicht einmal die Götter und schon gar nicht jene, die sie betreffen. Wer das versucht, verschwendet unnötig seine Kraft. Sie haben sich noch immer erfüllt. Warum fragt Ihr mich, was jedes Kind weiß? Nichts ist selbstverständlicher.«

»Weil ich dann nicht ganz verstehe, welchen Nutzen dieses Opfer haben soll.«

»Der König von Theben hat den Fluch einer fremden Göttin ausgesprochen. Wir kennen sie nicht und wissen nicht, wie weit ihre Macht reicht oder welchen Wert ihre Worte haben. Diese Widderhekatombe mag uns Zeus’ Hilfe versichern oder auch nicht. Habe ich damit Eure Frage ausreichend beantwortet?«

»Leider«, sagte er nur und öffnete ihr die Tür. Sie raffte ihren Rock zusammen und stieg vorsichtig die wenigen ausgetretenen Stufen hinunter auf die Straße. Achilleus folgte ihr betroffen. Er hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit einer Hekatombe. Einhundert makellose Widder! Wie sollte er das in so kurzer Zeit bewerkstelligen? Wann hatte es zuletzt ein solch riesiges Opfer gegeben? Die hundert Widder zu besorgen war schon eine höchst schwierige Sache – den Grund für eine solche Hekatombe zu verschweigen hingegen eine unmögliche. Er mußte Rechenschaft ablegen. Die Hohepriesterin würde es ohnehin dem ganzen Volk verkünden. Agamemnon würde ihm – zu Recht! – vorwerfen, nicht sofort nach seiner Ankunft darüber berichtet zu haben, und wissen wollen, was er bisher unternommen habe, um den Fluch abzuwenden.

Natürlich hatte er nichts unternommen. Ein Fluch war eben ein Fluch! In Gedanken überschlug er die ihm zur Verfügung stehende Zeit. Einen Aufschub gab es nicht. Sicher besaß es für die Götter keine Bedeutung, ob die Hekatombe an diesem oder an jenem Tage geopfert wurde (falls dieses Opfer überhaupt für sie eine Bedeutung hatte). Aber die Hohepriesterin wünschte keine Verzögerung. Er wollte diese ehrwürdige Frau nicht enttäuschen. Außerdem nahm er ja doch an, daß sie wußte, wovon sie sprach, auch wenn ihre Erfahrungen mit den Göttern nicht über das hinausgingen, was sie in Orakelschalen und den Wunden von Opfertieren zu lesen imstande war. Heute jedenfalls konnte er nichts mehr unternehmen. Auch wenn es Achilleus nicht bewußt wurde, erfüllte ihn die neue Aufgabe mit Erleichterung. Wenn er beschäftigt war, mußte er nicht dauernd an Troilos’ grausamen Tod denken.

Draußen warteten zwei Adeptinnen neben einem Esel. Sie halfen ihrer Herrin in den Sattel und ordneten ihre Gewänder. Achilleus musterte ihre kleinen, schlanken Körper und ihre zarten Gesichter, aber keine von ihnen war Diomeda. Die Hohepriesterin verabschiedete sich von ihm und ritt aus seinem Lager.

»Hier ist Euer Mantel, Herr«, sagte plötzlich die Phrygierin an seiner Seite und entrollte ein seidenglänzendes, hellgrünes Bündel. »Ich wollte nicht stören, als ich sah, daß die Hohepriesterin bei Euch war.« Sie half ihm beim Ankleiden des Mantels, indem sie vorsichtig die kunstvollen Flechten aus dem hochstehenden Kragen aus Golddrahtstäbchen holte. Alkimedon erschien mit einem der kleinen achaiischen Pferde.

»Kannst du ungefähr sagen, wann du zurück bist?« fragte er in seiner knappen Art und wies auf die Myrmidonen. Sie bereiteten das Fest vor, mit dem sie das Geras ihres Königs feiern wollten. Achilleus schwang sich in den Sattel.

»Keine Ahnung«, antwortete er, »aber die Männer brauchen nicht auf mich zu warten.« Er trieb das Pferd an, wobei er Mühe hatte, es zwischen den Tischen hindurchzulenken, die die Männer auf die Straße schleppten. Lachend schoben sie die Hindernisse beiseite. Sie würden es sich nicht zweimal sagen lassen. Einige waren jetzt schon so betrunken wie lange nicht mehr.

Die anderen achaiischen Volker feierten ebenfalls, auch wenn deren Könige keine Ehrengeschenke, sondern nur den ihnen zustehenden Beuteanteil in Form von Wein, Ziegen, Ochsen und Gold bekamen und großzügig an ihre Leute verteilten. Die Sklavinnen behielten sie allerdings für sich.

Doch die Krieger mußten nicht auf Frauen verzichten. Auf seinem Weg in das mykenische Lager kam Achilleus an mindestens drei Dutzend Schenken vorbei, in denen es hoch herging und Gold und anderes in die erfahrenen Hände der Schankdirnen wanderte. Das anzügliche Johlen der Männer und das Gekreische der Frauen hallten durch die ganze Stadt. Manchmal sprang eine angetrunkene Dirne auf ihn zu und versuchte, zwischen seine Beine zu greifen, bevor ihr von erschrockenen Kriegern klargemacht werden konnte, auf wen sie da losging.

Kurz vor seiner Ankunft bei Agamemnon fiel sein Blick auf die kleine, unscheinbare Hütte, noch im pylischen Stadtteil, die normalerweise bewacht wurde wie das Haus eines Königs. Heute stand jedoch niemand vor der Eingangstür. Achilleus lenkte sein Pferd möglichst unauffällig in ihre Nähe, und noch unauffälliger sah er sich um. Daß er in seiner prunkvollen Gewandung nicht beachtet wurde, hatte er der Feststimmung zu verdanken. Die Pylier genossen ihr Saufgelage in vollen Zügen. Geschmeidig wie eine Katze glitt er vom Pferd und schlüpfte in die Hütte. Sofort schloß er die Tür, obwohl er so im Stockdunkeln nach der Lampe und nach Feuerstein und Eisen tasten mußte. Als er das Licht entzündet hatte, sah er sich genauer um. Im ganzen Raum standen Regale, vollgestellt mit Körben und Kisten, in denen Tontäfelchen und teure Papyrusrollen lagerten. Auf ihnen war alles verzeichnet, was sich in dieser Stadt an Beute befand. Er kannte sich mit der Handhabung der Tafeln nicht besonders gut aus. Gewöhnlich beauftragten die Könige ihre Beamten, wenn es galt, etwas herauszusuchen. Jetzt mußte er sich selbst bemühen, und er benötigte vielleicht viel Zeit. Aber er war ohnehin schon spät dran. Was machte es, wenn er sich hier noch ein paar Augenblicke aufhielt?

Nach einer endlosen Weile fand er den richtigen Korb. Ja, hier waren die Opfertiere vermerkt. Ziegen, Widder, Tauben, sogar Stiere. Mit fliegenden Fingern ging er die Tafen durch. Er fluchte, als er erkannte, daß sie ihm gar nichts nutzten. Was er brauchte, war die Tafel mit der Summe! Vor hilfloser Wut hätte er am liebsten die Körbe aus den Regalen gerissen. Wo konnte diese verdammte Tafel sein? Oder sollte er doch besser unter den Papyrusbögen nachsehen? Er war so mit seiner Suche beschäftigt, daß er nicht merkte, wie die Zeit davonflog. Irgendwann fand er den richtigen Papyrus. Dreißig Opferwidder und nicht einer mehr! Enttäuscht setzte sich Achilleus an einen kleinen Schreibtisch und stützte den Kopf auf die Hände. Wie sollte es nun weitergehen? Während er darüber nachgrübelte, hörte er mit einemmal die Stimmen Agamemnons und Nestors. Sein erster Impuls war, zur Lampe zu greifen und das Licht zu löschen, aber er wollte nicht wie ein ertappter Dieb in der Dunkelheit dastehen. Also ging er zur Tür und riß sie geräuschvoll auf. Die beiden Könige sahen ihn erstaunt an.

»Einer meiner Männer sah dich hier hineingehen«, sagte Nestor. »Da er sich nichts dabei dachte, kam er erst zu mir, als er merkte, daß wir dich suchen. Du weißt, du mußt es den Königen sagen, wenn du den Katalograum benutzen willst. Möchtest du uns demnach dein seltsames Verhalten nicht erklären?« Bevor Achilleus etwas erwidern konnte, war Agamemnon bei ihm und nahm ihm den Papyrusbogen aus der Hand.

»Opferwidder?« rief Agamemnon erstaunt, nachdem er ihn überflogen hatte. »Ah, ich verstehe. Du mußt Apollon besänftigen. Wegen deiner Beleidigungen! Ich erfuhr von dem Zeus-Priester, daß du dich vor deiner Abreise an dem Gott und seiner Priesterschaft mal wieder in schamloser Weise versündigt hast. Jetzt mußt du also dafür büßen. Das wurde auch Zeit. Ich bin einfach nicht mehr länger gewillt, dir solche Sachen durchgehen zu lassen.« Er hielt inne und betrachtete Achilleus aus zusammengekniffenen Augen. Achilleus ahnte, daß er sehr schuldbewußt aussah. Er mußte sich bemühen, Agamemnons durchdringendem Blick standzuhalten.

»Es geht gar nicht darum«, raunte Agamemnon. Noch einmal studierte er die Liste. »Es geht um etwas anderes – Schlimmeres. Etwa um den Jungen, den du damals abgeschlachtet hast? Ich habe mich immer gewundert, weshalb die Götter uns deswegen so lange in Ruhe ließen. Oder hast du dir auf deiner Reise irgendeinen neuen Frevel erlaubt?« Er trat näher und hielt den Papyrus hoch. »Wofür mußt du opfern?« Seine Stimme wurde laut. »Was hast du getan? Du bringst uns mit deinem Verhalten noch alle auf den Scheiterhaufen!«

Achilleus sah Agamemnon fest in die Augen. »Ich tat nicht mehr, als den König von Theben zu töten. Er hat mich verflucht.«

»Das soll alles sein?« schrie Agamemnon. »Oder hat er ganz Achaia verflucht?«

»Das ist doch unwichtig«, sagte Nestor schnell. »Wenn Achilleus etwas zustieße, träfe es uns alle. Du bist der Kopf der Allianz, er jedoch ist das Herz.«

»Ja, aber ein sehr unbedachtes. Warum hast du darüber geschwiegen? Weiß davon überhaupt jemand?«

»Die Hohepriesterin der Pallas Athene. Sie verlangt das Opfer.«

»Wenn das so ist, gehe ich gleich morgen zu ihr«, erklärte Agamemnon ein wenig ruhiger. »Sie ist hoffentlich etwas redseliger als du. Wie groß soll denn dieses Opfer sein?«

»Sie will eine vollzählige Hekatombe.«

Die Könige sahen sich bestürzt an. »Wo nehmen wir die nur her?« fragte Nestor.

»Was heißt da wir?« rief Agamemnon sofort. »Das ist seine Sache!«

»Nun, ich finde nicht, daß das allein Achilleus’ Sache ...«

»Gib dir keine Mühe, Nestor!« giftete Achilleus. »Ich brauche keine Hilfe. Eure schon gar nicht. Eher gehe ich persönlich zu Hektor und bitte ihn, mir Widder zu geben.«

»Das wirst du vielleicht sogar tun müssen«, sagte Nestor ruhig. »Aber laßt uns morgen darüber nachdenken. Ich möchte jetzt schlafen, und ihr solltet das auch tun, auch wenn es heute nacht nicht gerade leicht sein wird.« Er sah hinüber zu den lautstark feiernden Pyliern, die der Auseinandersetzung nur wenig Beachtung schenkten.

Nur langsam begriff Achilleus diese Worte. Es erschien ihm ungeheuerlich. »Soll das etwa heißen ...«

»Ja!« zischte Agamemnon boshaft. »Ich habe mein Ehrengeschenk bereits gewählt! Hast du allen Ernstes gedacht, wir warten die ganze Nacht auf dich?«

»Das kann ich einfach nicht glauben.« Achilleus stand da wie vom Donner gerührt. Flammende Röte stieg ihm ins Gesicht. Er fühlte keine Wut, nur eine unsägliche Enttäuschung. Sicher war es sehr unhöflich von ihm gewesen, sie so lange warten zu lassen. Doch weder hatte er es aus Absicht getan, noch hatten sie sich die Mühe gemacht, eine Erklärung für seine vermeintliche Respektlosigkeit zu finden. Sie dachten natürlich, er wollte sie zappeln lassen. Selbst wenn es so gewesen wäre! Wie konnten sie ihn so demütigen?

»Du willst mich Ergebenheit lehren?« Achilleus schleuderte Agamemnon einen vernichtenden Blick zu. »Glaub mir, mit solch plumpen Ränken gelingt es dir nie.« Er wandte sich zu seinem Pferd um. Bevor er aufsteigen konnte, griff Nestor ihn am Ärmel und zog ihn mit sich in sein Haus.

Er führte Achilleus in einen kleinen behaglichen Wohnraum und schob ihm einen Stuhl hin. »Setz dich«, forderte er ihn auf und drückte ihn auf den Sitz. Eine Dienerin löschte soeben die Öllampen für die Nacht. »Laß das Licht noch brennen. Ich habe eine andere Aufgabe für dich: Geh in Agamemnons Haus und bringe das Geras von Achilleus hierher.«

»Ich will Chryseis jetzt nicht sehen«, sagte Achilleus unwillig. »Ich will jetzt überhaupt niemanden sehen, auch dich nicht. Dazu habt ihr mich zu sehr enttäuscht. Du hast nichts getan, Agamemnon daran zu hindern, mich so zu übergehen.«

»Oh doch, das habe ich. Ich und die meisten anderen Könige. Aias zum Beispiel war so wütend, daß ich dachte, er fällt Agamemnon an. Aber je mehr wir auf Agamemnon einredeten, desto bockiger wurde er. Vielleicht nimmst du es dir nicht ganz so zu Herzen. Ich wette, morgen tut es ihm wieder leid.«

Nestor redete weiter auf ihn ein, doch Achilleus hörte nicht mehr zu. Als ob Agamemnon schon irgendwann einmal etwas leid getan hätte! Müde stützte er seine Ellbogen auf den Tisch vor ihm und vergrub sein Gesicht in den Händen. Er konnte nicht verhindern, daß ihm Tränen in die Augen traten und seine Arme zitterten. Er fühlte sich so ausgelaugt und erschöpft wie lange nicht mehr. Wo waren die Tage, die er auf dem Schiff geschlafen hatte? Zu dieser verfahrenen Situation hatte er seinen Teil beigetragen, das war ihm klar. Nicht selten stieß er mit seinem Verhalten die anderen Könige vor den Kopf. Es fiel allen nicht leicht, sich in diese Gemeinschaft einzufügen, die ihre Unabhängigkeit und ihre absoluten Rechte einschränkte. Sie hatten sich die Verträge und Gebote selbst auferlegt und sich aneinandergekettet, und gaben sich alle Mühe, sie einzuhalten. Keinem von ihnen fiel es jedoch so schwer wie Achilleus, und er überging die Gesetze in dem Bewußtsein, unter Kriegern der Beste zu sein. Er trug nicht Agamemnons Verantwortung, aber lagen nicht die Höhen und die Tiefen dieses Krieges hauptsächlich bei ihm? Agamemnon genoß die Rechte eines Großkönigs; er selbst war nur einer von vielen. Vielleicht war es überhaupt falsch, daß Agamemnon entscheiden konnte, wer welches Ehrengeschenk bekam. Daß er es darüber hinaus in Abwesenheit dessen tun konnte, der sie erobert hatte, war einfach unverschämt. Schließlich hatte Agamemnon selbst nichts, aber auch gar nichts dafür geleistet. Was bedeuteten Verträge, wenn sie die Erniedrigung eines Mannes zuließen, von dem eine Prophezeiung sagte, ohne ihn könne Troia nicht erobert werden?

Die Prophezeiung! Hatte Achilleus nicht in all den Jahren bewiesen, wie sehr er ihr gerecht wurde, auch wenn es zu ihrer Erfüllung noch nicht gekommen war? Seine Taten hatten ihm Agamemnons Achtung eingebracht. Doch die war sehr schwankend. Und wo ist diese Achtung jetzt? fragte er sich betrübt. Was erreichte ich bisher? Ich überwarf mich mit einem Gott, die Achaier werfen mir mein Ehrengeschenk achtlos vor die Füße, und ich sitze in der Nacht nach meiner Rückkehr bei Nestor und verberge vor Scham mein Gesicht.

Nestor packte seine Handgelenke und bog sie energisch zur Seite. »Hier ist dein Ehrengeschenk!«

Achilleus wollte Nestors Hände abschütteln und sagen, daß ihn die Frau jetzt nicht interessiere. Da erblickte er sie. Die Dienerin hatte den Arm um ihre Schultern gelegt und führte sie vor Achilleus. Scheu hielt die Frau den Kopf gesenkt und sah ihn unter fein geschwungenen Wimpern an. Sie wirkte unsicher, als könne sie sich nicht zwischen Freude oder Furcht entscheiden. Mal überwog das eine, mal das andere, je nachdem wie durchdringend er ihr in die braunen Augen sah, die hohen Wangenknochen und das zarte Rot ihrer vollen Lippen betrachtete. Achilleus weidete sich am Anblick ihrer roten Haare, der zierlichen Hände, der Linie ihres Körpers und ihres kostbaren, bunten Kleides, das mit Borten, Volants und Goldplättchen geschmückt war. Ein enganliegendes Jäckchen aus dem gleichen prächtigen Stoff bedeckte ihre Schultern und Arme, nicht jedoch die Brüste, deren weiße Rundungen durch ein hauchfeines Seidengespinst schimmerten wie Monde durch Nebelwolken. Er konnte kaum glauben, daß da tatsächlich die Hethiterin vor ihm stand und nicht Chryseis. In diesem Augenblick war er sicher, niemals eine schönere Frau gesehen zu haben, nicht einmal unter den ihm bekannten Göttinnen. »Agamemnon muß blind gewesen sein«, sagte er endlich. »Weshalb nur hat er Chryseis gewählt?«

»Warum sollte er nicht? Chryseis ist doch ein sehr liebreizendes Geschöpf. Er meinte, er könne mit einer Frau nichts anfangen, die kein einziges Wort Achaiisch versteht.«

»So? Tut sie das nicht?« Achilleus lachte böse. »Spielt das denn eine Rolle im Bett? Seit wann ist Agamemnon so feinfühlig und sucht mit seinen Frauen das Gespräch?« Durchdringend sah er Briseis an. Er fand, ihre sonst unschuldigen Augen hatten in diesem Moment einen sehr schelmischen Ausdruck.

»Vorhin in Agamemnons Haus reagierte sie nicht auf die einfachsten Worte, sondern sah uns nur verständnislos an. Wie mir scheint, hat sie uns nur an der Nase herumgeführt?«

»Sieh ihr in die Augen, und du weißt es.«

Achilleus stand auf und bedankte sich bei Nestor. Daß es Briseis war, die ihm gehörte, versöhnte ihn ein wenig. Und sie hatte es geradezu darauf angelegt, nicht von Agamemnon gewählt zu werden, obgleich sie Achilleus einen Mörder genannt hatte. Warum nur? Zuneigung konnte es kaum sein. Oder doch? Diese Beziehung versprach zumindest interessant zu werden. Achilleus nahm sie an der Hand und ging mit ihr hinaus. Aus dem Schatten des Katalograumes holte er sein Pferd und hob Briseis in den Sattel. Verängstigt starrte sie in die Menge der betrunkenen Krieger.

»Müssen wir wirklich da durch?« fragte sie beklommen. »Bitte nicht.«

Er folgte ihrem furchterfüllten Blick. Die Männer würden es nicht wagen, sie anzufassen, doch er wollte ihr die anzüglichen Rufe ersparen, die noch Dirnen erröten ließen. Kurz überlegte er, ob er das Risiko eingehen konnte, außerhalb des Stadtwalls zu seinem Haus zu reiten. Gewöhnlich wagten sich troianische Späher nur selten an die Schiffsstadt heran. Aber er war unbewaffnet und wollte sein Geras nicht unnötig in Gefahr bringen. Davon abgesehen war es nicht erlaubt. Was soll’s, dachte er und führte das Pferd zum mittleren der fünf Tore. Die Wächter ließen sie ungehindert hinaus, und ohne Schwierigkeiten gelangten sie zum Südtor, wo die Myrmidonen nicht wenig staunten, als ihr König Einlaß forderte.

Alkimedon pfiff durch die Zähne. »Ich weiß, du kümmerst dich nicht um solch lächerliche Verbote. Daß du es jedoch auch tust, wenn du dein Ehrengeschenk dabeihast ... Oh, die Hethiterin!«

Achilleus half Briseis vom Pferd. Augenblicklich umringten die Myrmidonen sie und riefen bewundernde und zweideutige Bemerkungen. Briseis wurde rot, was die Männer noch mehr reizte. Sie lachten und machten schamlose Gesten. Achilleus zog Briseis schnell ins Haus.

»Mach dir nichts draus«, sagte er leichthin. »Es sind rauhe Kerle allesamt, aber sie werden dir niemals zu nahe kommen.«

»Sei willkommen in diesem Haus«, rief eine seiner Dienerinnen, eine ältere Phthierin mit kräftiger Gestalt und fröhlichem Gesicht. »Ich bin Xera.« Sie nahm Briseis am Arm. »Komm, ich zeige dir alles. Hast du Hunger? Oder Durst? Du brauchst deine Wünsche nur zu äußern.«

Schon hatte sie sie in den nächsten Raum mitgenommen. Achilleus warf seinen Mantel auf einen Stuhl und stieg die Treppe zu seiner Kammer hinauf. Hier standen nur sein Bett, eine Truhe und ein kleiner Hausaltar, auf dem die Votive phthiischer Lokalgottheiten standen und eine Figur der Pallas Athene. Er entzündete die Lampe auf dem Altar und ging zum Fenster, um die Läden zu schließen, was die Männer unten mit Gejohle quittierten.

»Zeig ihr gleich, woran sie ist, damit sie dir nicht auf der Nase herumtanzt!« schrie Alkimos, einer seiner fünf Hequetai.

»Mach aber vorher das Licht wieder aus, damit sie nicht zu sehr erschrickt!« Das war Alkimedon.

Nachdem Achilleus die Läden verriegelt hatte, setzte er sich auf die Truhe und schlug die Beine übereinander. Er würde auf Briseis nicht lange warten müssen. Das Haus war klein, und gegessen und getrunken hatte sie sicher schon bei Agamemnon. Außerdem wußte Xera, daß er sein Geras erwartete. Als Briseis das Tuch am Eingang zurückschob, wirkte sie noch scheuer als in Nestors Haus. Achilleus mußte lächeln.

»Wo ist die stolze Frau geblieben, die du noch auf meinem Schiff warst?« Da sie darauf nichts erwiderte, fragte er: »Warum hast du gegenüber den Königen verschwiegen, daß du unsere Sprache sprichst?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Ich verstehe sie, ja, doch es strengt mich so an. Ich konnte so lange nicht mehr mit jemandem in meiner Heimatsprache reden.«

»War das der einzige Grund?«

Briseis schwieg, errötete aber bis in die Haarspitzen. Sie sah sich um und setzte sich auf die äußerste Kante des Bettes. Sie schien von einer seltsamen Unruhe erfaßt. Ihre Finger spielten nervös mit den Volants ihres Rockes, und ihre Augen wirkten unstet. Plötzlich stand sie wieder auf. »Ich weiß, was jetzt kommt. Agamemnon erwähnte es«, sagte sie unvermittelt und begann sich zu Achilleus’ Verwunderung auszuziehen. Sie streifte ihr Jäckchen ab und löste die Haken ihres Rockes, so daß er zu ihren kleinen Füßen zusammenfiel. Zuletzt schlüpfte sie aus dem seidigen Hemdchen und stand in vollkommener Nacktheit vor ihm. Achilleus wußte nicht recht, was er davon halten sollte. Daß sie sich ihm freiwillig anbot, hatte er nicht erwartet – und sie erweckte auch nicht den Eindruck freudiger Erwartung. Er neigte sich leicht vor, um ihr besser ins Gesicht sehen zu können.

»Du willst es nicht wirklich.«

»Doch!«

»Es muß nicht sein, wenn du nicht magst«, sagte er milde. »Aber vielleicht nehme ich die Einladung an.«

Er ging auf sie zu und drückte sie hinunter auf die Decken, was sie willig geschehen ließ. Dann legte er sich neben sie und begann, langsam ihre Wangen, den weißen Hals und die Schultern zu streicheln. Ihre Hände krallten sich in den Stoff. Seufzend strich Achilleus mit den Fingerspitzen zwischen ihren Brüsten entlang und wanderte weiter hinab über ihre Mitte. Unter der Berührung spannte sich ihre Bauchdecke.

»Du sagst, du willst es.« Wieder stieß er einen vernehmlichen Seufzer aus. »Nun ja, kenne ich die hethitischen Frauen? Und ich bin zu sehr Achaier, um einer derartigen Aufforderung nicht nachzukommen. Und wenn es nur dazu dient herauszufinden, wie ernst es dir ist.« Sein Ton war leicht spöttisch.

»Nein, ich will nicht verletzend sein«, murmelte er. Vielleicht weidete er sich an der Angst seiner Gegner auf dem Schlachtfeld, nicht jedoch an der Furcht einer Frau, die gezwungen war, das Bett mit ihm zu teilen. Behutsam ließ er seine Hand über ihre Brust kreisen. Endlich ließ ihre Anspannung nach, und nach einer Weile ging ihr Atem gleichmäßiger. Ihre Brustwarzen wurden hart und reckten sich seinen Lippen entgegen. Achilleus nahm das zartrote Geschenk an und erprobte die Festigkeit mit seinen Zähnen. Briseis stöhnte auf. Ihre Finger lösten sich von der Decke und vergruben sich statt dessen in seinem Haar. Er hielt für einen Moment inne und versuchte, am Schlag ihres Herzens ihr Inneres zu deuten.

»Sag mir, was du empfindest.«

»Ich versuche gerade, mich mit den Gegebenheiten abzufinden«, flüsterte sie heiser.

»Ich habe den Eindruck, es fällt dir eher leicht ...«

»Nein, da täuscht Ihr Euch!« Wieder stöhnte sie, als sein Kopf hinabtauchte und seine Zunge sich den gekräuselten Haaren zwischen ihren Beinen näherte. Als seine Finger die Scham spreizten, um der Zunge den Einlaß zu erleichtern, preßte sie die Beine fest zusammen und legte ihre Hände schützend darüber. »Das wagt Ihr nicht«, stieß sie hervor. »Bei meinen Göttern, nicht so!«

Sanft, aber bestimmt faßte er ihre Handgelenke und schob sie beiseite. Seine Erregung wuchs. Er wollte sich jetzt nur noch ihrem hellen Körper und dem Duft ihrer Haut überlassen. Mit einer fahrigen Bewegung zog er das Safrantuch aus seinem Gürtel. »Falls du noch nein sagen willst, solltest du es jetzt tun«, keuchte er, »denn gleich hält mich nichts mehr.« Seine Liebkosungen wurden fordernder und heftiger. Schließlich beugte er sich über sie, und Briseis schlang die Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn. Es war nicht nötig, ihre Schenkel mit den Knien zu spreizen. Sie zog ihre Beine an, damit er es leichter hatte. Doch sowie das harte Glied gegen ihre Pforte drückte, verwandelte sich ihre Bereitschaft in Abwehr.

»Nein!«

Blankes Entsetzen lag in ihrem Gesicht. Sie ballte die zarten Hände zu Fäusten und stemmte sie gegen seine Brust. Und da er, von der Lust seines Körpers getrieben, nicht sofort zurückwich, schlug sie ihm in plötzlicher Panik ins Gesicht. Das brachte ihn zur Besinnung, und er rollte vor Enttäuschung stöhnend auf die Seite. Sie warf sich eine Decke über und kauerte sich in die äußerste Ecke des Bettes. Ihre Glieder bebten vor Angst, er könne sie jetzt mit Gewalt nehmen. »Kommt mir nicht mehr zu nahe!« stammelte sie unter Tränen, die sie aufschluchzend in die Decke wischte.

Achilleus hörte kaum, was sie sagte. Er war noch zu sehr mit seinem Verlangen beschäftigt, das in ihm tobte und nur langsam verebbte. Wie hatte sie so töricht sein können, dieses Verlangen zu wecken, wenn sie es dann nicht befriedigen wollte? Aber er war noch törichter gewesen, ihr vermeintliches Angebot anzunehmen, das wohl nur ihrer Vorstellung von dem entsprungen war, was ein Geras zu tun hatte, und weniger ihrem eigenen Begehren.

»Dummes Ding«, schalt er sie mit schwerem Atem. »Was hast du dir dabei gedacht?«

Sie rieb sich die Augen. »Ihr hattet mich neugierig gemacht. Ich dachte, es würde mir vielleicht gefallen. Aber nicht so ... nicht so bald.« Ein angespannter Zug lag um ihren Mund. »Außerdem – außerdem dachte ich mir, was ich freiwillig tue, könnt Ihr mir nicht mehr aufzwingen.«

»Was sind das nur für unsinnige Gedankengänge?«

»Ich weiß einfach noch nicht, was ich von Euch halten soll.«

»Das beruht auf Gegenseitigkeit.« Abrupt schwang er sich auf die Knie. Sie sog erschrocken die Luft ein, denn sein Körper war noch immer unbedeckt. Achilleus hob die Hände. »Ich fasse dich ja nicht an!« knurrte er ungehalten. Er griff sein Safrantuch, schlang es sich wieder um die Hüften und stieg aus dem Bett.

»Es war auch mein Fehler«, sagte er nach einer Weile. »Ich hätte dir gleich einige Dinge erklären sollen. Natürlich könnte ich jederzeit mit dir schlafen, wenn mich danach verlangt. Aber ich tue es nicht, solange du es nicht willst. Du solltest nur nicht ein weiteres Mal so leichtsinnig sein, dich nackt vor mich hinzustellen und mich aufzufordern. Ansonsten bist du die Herrin dieses Hauses, auch wenn es nur ein Schuppen ist. Meine Sklavinnen gehören genausogut dir, und du kannst tun und lassen, was du willst – wenn ich nichts daran auszusetzen habe. Du hast hier und jetzt den Rang meiner Ehefrau.«

Allmählich nahm sie eine unverkrampftere Haltung an. Zaghaft fragte sie: »Seid Ihr nicht verheiratet?«

»Nein. Du brauchst mich übrigens auch nicht mehr so förmlich anzureden.«

Briseis sprang aus dem Bett und kleidete sich hastig an. Dann lief sie zum Eingang der Kammer.

»Wo willst du denn jetzt noch hin?«

»Zu Xera, damit sie mir zeigt, wo meine Kammer ist.«

»Die ist hier. Ich sagte doch, daß du fast meine Ehefrau bist.« Er hockte sich auf die Truhe und begann, den Golddraht aus seinem Haar zu nesteln. »Hilf mir bitte dabei«, sagte er und bemühte sich um einen äußerst sanftmütigen Ton. Er wollte ihr helfen, ihre Furcht zu überwinden. Schließlich kam sie zu ihm und löste den Schmuck von seinem Haar.

Mit den Onyxkegelchen in den Händen sah sie sich um. Da es keinen anderen Platz gab, legte sie sie auf den Altar. »Wie heißen eure Götter?« wollte sie wissen.

»Ist das eine Frage der Befangenheit? Zeus ist der König und Vater der Götter und Menschen, der Allweise und Mächtige; Poseidon ist der Herr über das Meer und Hades der Herr des Totenreiches. Zeus ist der Weltenherrscher, der Donnerer.«

»Wie Taru«, unterbrach sie ihn.

»Man sagt, er habe die Kriegsherrin Athene selbst auf die Welt gebracht. Sie entsprang seiner Stirn. Auch Apollon ist Zeus’ Sohn, aber über ihn brauchst du nichts zu wissen. Jede Gottheit verkörpert mehrere Eigenschaften, unter ebenso vielen Beinamen. Aber du mußt diese Dinge nicht wissen. Ich für meinen Teil gebe mir Mühe, Distanz zu den Göttern zu wahren.«

»Nun, vermutlich sind deine Götter schwieriger zu begreifen als andere? Vielleicht sind sie mächtiger als die Götter meines Volkes?«

»Ja, vielleicht. Beugen müssen sie sich nur der Moira, dem Schicksal. Die Riten sind kompliziert, die Götter einfach. Ihre Motive sind klar, und darum über jeden Zweifel erhaben. Manche Menschen meinen, ihren Willen mit Hilfe von Weihrauch erkunden zu müssen. Falls ich einen Priester schätze, dann nur, wenn er zu diesen Dingen einen gewissen Abstand hat und nicht hechelnd allem hinterherläuft, was er für ein Wort der Götter oder ein Zeichen hält.«

Nachdenklich betrachtete sie die Figuren auf dem Altar. »Ich möchte ein Bildnis von Wurusemu dazustellen. Da dies auch meine Kammer ist, muß es auch mein Altar sein. Oder bin ich verpflichtet, deine Götter anzunehmen?«

»Als mein Geras schon. So ist es Brauch, schließlich bist du in mein Haus gekommen, und nicht umgekehrt. Aber dies nicht freiwillig, zugegeben ... Bete also an, wen du möchtest. Diese Schlangengöttin jedoch will ich auf meinem Altar nicht sehen.«

»Sie ist keine Schlangengöttin. Sie ist die Sonnengöttin von Arinna!«

»Jetzt sei doch vernünftig. Nennt ihr euch nicht das Volk der tausend Götter? Und du betest ausgerechnet Wurusemu an.« Er sprach ihren Namen mit Abscheu aus. »Du hast ja gar kein Votiv von ihr.«

»Ich sah heute, daß viele Händler in die Stadt kommen. Ich könnte ein Bildnis von ihr kaufen, bestimmt finde ich eines.«

Achilleus erinnerte sich an den Altarraum in Eetions Palast, in dem er unter Wurusemus Bild Athene angebetet hatte. Er kam sich auf einmal kleinlich vor, Briseis diesen harmlosen Wunsch versagen zu wollen. »Meinetwegen«, sagte er gnädig.

»Warum hast du mir nicht gesagt, daß die Göttin, die mir auf der Fahrt geholfen hat, deine Mutter ist?« fragte sie mit einemmal und fügte hinzu: »Ich weiß es von Xera.«

Geschwätzige Xera, dachte Achilleus. Was sollte er jetzt dazu sagen? »Ich nahm nicht an, es würde deine Furcht vor mir schmälern.«

Darauf ging sie nicht ein. »Wie kommst du zu einer Göttin als Mutter? Warum muß ich dich überhaupt auffordern, mir davon zu erzählen? Du liest mich von irgendwoher auf, bringst mich hierher, sagst, dies sei meine Kammer, und dies Bett solle ich mit dir teilen, und beläßt es dabei? Ich weiß gar nichts von dir! Als ich zu meinem ersten Mann gebracht wurde, kannte ich seine zweihundert Jahre lange Ahnenreihe!«

Achilleus freute sich über ihren herausfordernden Ton. »Es interessiert dich wirklich.«

»Sollte es denn nicht?«

»Hm, na schön. Meine Familie ist nicht so alt«, begann er langsam, »und ihre Geschichte wurde ohne den Segen der Götter geschrieben. Mein Vater Peleus stammte nicht aus Phthia. Er ist der Sohn von Aiakos, der König der Insel Aigina war. Peleus besaß noch zwei Brüder, Telamon und Phokos. Gemeinsam mit Telamon tötete er Phokos, und sie mußten fliehen. Telamon ging nach Salamis, mein Vater nach Phthia. Der König von Phthia nahm ihn auf und gab ihm seine Tochter zur Frau, denn Peleus genoß trotz seiner Tat einen guten Ruf. Frag mich nicht, warum! Vielleicht wegen seines Vaters, der einmal ganz Achaia von einer Unfruchtbarkeit der Äcker befreit hatte. Peleus tötete auch seinen Schwiegervater und bestieg den Thron. Sehr viel später, er war bereits im Alter von vierzig Jahren, wurde ihm verkündet, die Götter gäben ihm eine der ihren zur Frau, eine Nereide. Den Grund dafür erfuhr ich niemals.« Achilleus machte eine wegwischende Handbewegung. »Vielleicht gab es nie einen. Peleus war fortan besessen von dieser Vorstellung und verstieß kurzerhand seine Frau. Sie erhängte sich. Es verging noch viel Zeit, bis ihn die Götter an den Strand riefen, wo Thetis auf ihn wartete. Als er zurückkam, erzählte er von einem rauschenden Hochzeitsfest mit den olympischen Göttern. Allerdings hatte er seine Braut nicht bei sich. Ich erfuhr später von ihr, was sich am Strand in Wahrheit abgespielt hatte. Es war nicht ihr Wunsch, sich Peleus hinzugeben. Es waren Götter anwesend, ja, doch nur, um sie festzuhalten, damit der sterbliche Mann sie gewaltsam nehmen konnte.

Neun Monate danach kam sie in den Palast und verschwand sofort wieder, kaum daß sie mich geboren hatte. So schnell und einfach war der Traum von der Ehe mit einer Göttin dahin, und Peleus machte diese Enttäuschung hartherzig und verbittert. Da er die Göttin nicht besitzen konnte, wollte er auch mich nicht sehen, und so brachte er mich zu einem Mann namens Chiron. Er war Priester des Flußgottes Spercheios und lebte an dessen Quelle tief in Phthias Wäldern. Ich erinnere mich an ihn nur schwach. Er war uralt, kannte die Geheimnisse der Kräuter und die Kunst, Wunden zu heilen. Ich glaubte damals, er sei unsterblich.«

Eines Tages, Achilleus war fünf oder sechs Jahre alt, drangen Fremde in das Haus ein und brachten Chiron um. Achilleus geschah nichts. Man erzählte ihm später, er sei von Pilgern in einer Truhe versteckt gefunden worden. Er hatte Chiron sehr gern gehabt und weinte lange um ihn. Um ihn zu trösten, erfand man die Geschichte, Chiron sei freiwillig in den Tod gegangen, um den Titanen Prometheus auszulösen. Dieser sei seit undenklichen Zeiten an einen Berg gekettet und könne nur dann befreit werden, wenn ein Unsterblicher für ihn den Tod auf sich nähme. Achilleus brachte man zurück in den Palast. Nach dem Leben in Chirons einfachem Haus erschien ihm hier alles groß und kalt und grau. Aber dann kamen Menoitios und sein Sohn Patroklos und bezogen einen Flügel des Palastes. Sie hatten aus Lokris flüchten müssen, weil Patroklos während eines Spiels versehentlich einen Jungen getötet hatte. Vielleicht entsann sich Peleus seiner eigenen Flucht und nahm sie deshalb auf. Achilleus verbrachte seine ganze Zeit mit ihnen. Peleus war zu ihm streng und abweisend und zeigte ihm deutlich, wie froh er war, wenn er ihn selten zu Gesicht bekam. »Einmal fragte ich ihn, weshalb er mich haßte«, erinnerte sich Achilleus. »Er sagte nur: Du hast die Augen deiner Mutter.«

»Du wußtest damals, daß sie eine Göttin war?«

»Ja, aber ich konnte mir nichts Rechtes darunter vorstellen. Ich begriff nur, es mußte etwas Besonderes sein, etwas, das meinem Vater nicht gefiel.«

Einmal war Achilleus zugegen, als Peleus Gäste bewirtete. Sie sahen den Jungen und fragten, von welcher Frau der König denn ein so hübsches Kind habe. Peleus brummte etwas Unverständliches und schickte ihn aus der Halle. Bevor Achilleus jedoch ging, fragte ihn eine Frau, woher er denn die blonden Haare habe (Peleus’ Haare waren dunkelbraun), und er antwortete, von seiner Mutter, einer Göttin. Peleus sprang wutentbrannt vom Thron und prügelte ihn vor aller Augen. Dann verkündete er den Anwesenden, wer seinen Sohn bei sich aufnähme, den mache er zum Herrscher über einen thessalischen Volksstamm. Ein Mann mit dem Namen Phoinix erklärte sich bereit, ein ziemlich heruntergekommener Mann, der wohl nur diese einmalige Gelegenheit nutzen wollte, wieder zu Besitz zu kommen. Achilleus flehte und bettelte, ihn nicht dem Fremden zu geben. Er wollte nicht von Menoitios und Patroklos getrennt werden, sie waren ja die einzigen Menschen, die er hatte. Er bat Peleus, mit Menoitios das Geschäft zu machen; mit ihm war er bereit fortzugehen – er hätte ja ansonsten nur zu gerne den Palast verlassen! Aber Peleus kümmerten seine Bitten nicht.

Phoinix gab sich überraschend viel Mühe mit seinem Ziehsohn. Er erwies sich als erfahrener Lehrer, denn er war weit herumgekommen. Da er fand, es sei für einen König nützlich, Sprachen zu beherrschen, lehrte er Achilleus Hethitisch, Ägyptisch und die Sprache der Troianer. Wollte Achilleus nicht lernen, sagte er stets zu ihm: Vielleicht sitzt du eines Tages mit dem Pharao der Ägypter oder dem Tabarna der Hethiter zusammen, und die Zukunft deines Königreiches hängt davon ab, ob du sie verstehst oder nicht. Er ermahnte ihn auch immer wieder, seine Worte mit Bedacht zu wählen. Bist du König, sagte er, ist dein Wort lebendes Gesetz. Und wenn es nur eine Sklavin gehört hat. An das, was du einmal ausgesprochen hast, mußt du dich halten, selbst wenn es einmal nichts Gutes sein sollte.

Drei Jahre später wurde Achilleus nach Phthia zurückgerufen. Peleus hatte begriffen, daß sein Sohn und Erbe an den Hof gehörte. Phoinix begleitete ihn. Er vermutete, die Früchte seiner Erziehung würden kaum Anerkennung hervorrufen. So war es auch. Peleus rümpfte die Nase darüber, daß ein zwölfjähriger Junge noch kein Schwert in der Hand gehabt hatte. Patroklos beherrschte mittlerweile die Grundbegriffe der Waffenführung, und Achilleus fing mit Feuereifer an, es zu lernen. Bald überflügelte er den drei Jahre älteren Freund im Schwertkampf und im Speerwerfen. Er besaß einen höchst ausgeprägten Gleichgewichtssinn und ein erstaunliches Augenmaß. Während Menoitios seinen Sohn auf die Beutezüge der königlichen Hequetai mitschickte, blieb Achilleus auf Phoinix’ Geheiß zurück, denn dieser befürchtete, die ungeschliffene Kampfweise der Myrmidonen könne seine Fertigkeiten verderben. Und so übte er stur die Technik der Schwertführung, des Wagenlenkens und was ein Krieger sonst noch können mußte.

»Heute bin ich ihm dankbar dafür«, sagte Achilleus. »Aber was verwünschte ich ihn damals, wenn Patroklos beutebeladen und mit den unglaublichsten Geschichten heimkehrte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich meine Mutter noch nie zu Gesicht bekommen. Ich ging oft ans Meer und rief sie, aber sie kam nicht. Allmählich begann ich zu bezweifeln, daß es sie überhaupt gab. Und da ich nicht wagte, meinen Vater nach ihr zu fragen, gelangte ich zu der Überzeugung, daß mich eher eine Palastsklavin geboren hatte als eine Göttin.«

»Und wann sahst du sie endlich?«

»Vor neun Jahren, als sich die Schiffe aller Königreiche im Hafen von Aulis versammelten.«

»Was sagte sie zu dir?«

Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn. Er schwieg lange, bevor er sagte: »Ich weiß fast nichts mehr von diesem Gespräch. Nun ja, neun Jahre sind eine lange Zeit. Als mein Schiff in See stach, versicherte sie mir, sie wolle mir in diesem Krieg beistehen.«

»Oh, dann ist sie dafür verantwortlich, daß dir in deinen Kämpfen nichts zustößt?« fragte Briseis. Sie ging zum Bett und zog sich wieder aus. Diesmal verschwand sie schnell unter den Decken und zog sie bis zum Kinn hoch.

»Ganz sicher nicht«, entgegnete Achilleus. »Ihre Macht reicht nicht bis aufs Schlachtfeld. Für meinen Schutz muß ich schon alleine sorgen.«

»Und werde ich sie einmal zu Gesicht bekommen?«

Auf diese Frage hatte er gewartet. »Das liegt nicht bei mir«, meinte er nur und begann ebenfalls, sich zu entkleiden, allerdings wesentlich langsamer. Er öffnete seinen goldenen Gürtel und streifte das Tuch ab. Beides legte er auf die Truhe, ebenso die Königskette. Sie beobachtete ihn dabei mit verlegener Neugierde – und mit einer Spur Bewunderung. Schließlich blieb ihr forschender Blick an den Seiten seiner Hüfte hängen, die durch je vier lange wulstige Narben verunziert wurden. »Woher hast du diese Narben?«

»Von meinem ersten Kampf. Es sind aber so ziemlich meine einzigen«, sagte er stolz, und wie um es ihr zu beweisen, hob er die Arme hinter den Kopf und drehte sich um seine Achse. »Möchtest du davon hören?«

»Ja, sehr gerne.«

Er lachte leise, blies die Lampe aus und stieg zu ihr ins Bett.

Achill. Held und Frevler

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