Читать книгу Achill. Held und Frevler - Sabine Wassermann - Страница 7
I.
ОглавлениеDer Monat Sphagianios, der erste Monat des Sommers, hatte gerade begonnen, aber es war bereits jetzt unerträglich heiß. Kein Windhauch regte sich, und nicht die kleinste Wolke versprach Abkühlung. Hier im kargen Südwesten Kizzawatnas gab es nichts, das Schatten spendete. So lockte diese kleine Stadt die Umwohner in Scharen in ihre Mauern, um der Mittagshitze auf den trockenen Feldern zu entgehen. Düster erhob sie sich auf der weiten, vor Hitze flirrenden Ebene. Ackergerät lag verstreut herum. Dazwischen grasten ein paar Ziegen und meckerten voller Unmut darüber, in der prallen Mittagssonne zurückgelassen worden zu sein.
Ein Mann kniete an einem Bach, der jetzt nicht mehr als ein Rinnsal war, und löschte mit dem lauen Wasser seinen brennenden Durst. Er wußte, daß diesmal nicht die erbarmungslose Sonne die Bauern und Feldarbeiter ihr Tagwerk hatte liegenlassen. Auch auf seinem Weg von der nahen Küste bis hierher war er niemandem begegnet. Schlimme Kunde ist schnell, und so lagen alle Landstriche und Dörfer auf seiner langen Reise in den Osten wie ausgestorben da, weil die Menschen in den Städten Schutz suchten. Doch auch diesmal flohen sie umsonst. Die hölzernen Mauern, nur an manchen Stellen durch Wälle aus Stein ersetzt, konnten die Plünderungen durch die achaiischen Eroberer vielleicht kurze Zeit aufhalten, aber nicht verhindern. So war es heute das kizzawatnische Theben, das sich Achilleus von Phthia beugen mußte, wie so viele Orte auf seinem Weg entlang der Küste Asiens, von denen er kaum mehr wußte als ihre Namen und die er längst aufgehört hatte zu zählen.
Vielleicht würde dies endlich seine letzte Stadt sein. Mißmutig legte Achilleus die Hand vor die Augen und suchte den Mauerkranz nach Bewegungen ab. Weder das Aufblitzen von Metall noch irgendein Geräusch deutete die Anwesenheit der Späher an, aber er zweifelte nicht daran, daß unter der Oberfläche scheinbarer Ruhe die Menschenmenge dicht gedrängt wartete, bewaffnet mit allem, was in der Eile zur Verfügung stand. Achilleus befreite sein Gesicht von Staub und Schweiß, so gut es mit dem erdigen Wasser ging. Aus einem kleinen Lederbeutel an seinem Schwertgürtel holte er ein Kohlestück und ein winziges Tiegelchen hervor, das mit einer grünen öligen Farbe gefüllt war. Mit Hilfe eines Holzsplitters und der Kohle bemalte er Stirn und Wangen, um die Keren, die Todesgöttinnen, abzuhalten. So geübt war er darin, daß er keinen Spiegel benötigte, um die Zeichen aufs genaueste zu malen. Es gab Krieger, die eher auf einen Schild verzichten würden, als auf diese Zeichen. Achilleus war von ihrer Schutzwirkung nicht unbedingt überzeugt. Besaß man nicht die Gunst der Götter, mochten sie wohl wenig helfen. Dennoch verwendete er sie recht häufig, denn sie verliehen seinem schöngeschnittenen Gesicht ein furchteinflößendes Aussehen. Mit dem Kohlestück umrahmte er die leicht schräggestellten Augen, die von einem solch leuchtenden Grün waren, daß sie die Farbe der Piktogramme an Intensität noch übertrafen.
Er warf seine langen blonden Haare zurück, die im Sonnenlicht rötlich schimmerten, und erhob sich. In dem Bewußtsein, daß jede seiner Bewegungen von zahllosen Augen beobachtet wurde, straffte er die Schultern, griff nach seinem Speer und ging auf das Stadttor zu, das nur wenige Pfeilschußlängen von ihm entfernt war. Sofort zeigten sich Männer mit gespannten Bogen über dem Torsturz. Sie starrten Achilleus feindselig an. »Stehenbleiben!« rief einer der Männer, ein kräftiger Kerl mit nacktem Oberkörper und einem zu Zöpfen geflochtenen Haarschopf, der ihm ein wildes Aussehen verlieh. »Was willst du?«
Achilleus verstand die Worte nicht, die der Thebaner in seiner Heimatsprache gerufen hatte, aber er kannte ihre Bedeutung. Es waren stets die gleichen, mit denen er an den Toren der Städte begrüßt wurde. Er ging gerade so weit, daß er außerhalb der Reichweite der Bogen blieb, aber nahe genug, um nicht allzu laut brüllen zu müssen. »Ich nehme an, ihr wißt, wer ich bin?« rief er in der Sprache der Hethiter, die hier überall gesprochen wurde.
»Du bist der räudige Plünderer aus dem Ahhiyawaland!« schrie der Thebaner hinunter. »Aber hier gibt es für dich nichts zu holen! Es wäre besser für dich, du machtest wieder kehrt, bevor wir dich mit Pfeilen spicken!«
»Versucht’s doch«, spottete Achilleus und trat herausfordernd weiter vor. Das wütende Zischen eines Pfeilhagels antwortete ihm. Die Thebaner waren hervorragende Bogenschützen, das mußte er anerkennen, denn alle Pfeile erreichten ihr Ziel. Nur, er befand sich nicht mehr dort. Er war einfach drei Schritte zurückgetreten, so daß die Geschosse wirkungslos vor seinen Füßen auf den Boden fielen. Verblüfft starrten ihn die Männer an. Angesichts dieses Mißerfolges stieg ihr Zorn noch, aber Achilleus gab ihnen keine Gelegenheit zu einem weiteren Versuch. »Da ihr wißt, woher ich komme, wißt ihr wohl auch, was ich will. Aber ich mag euch Bauerntölpeln nichts erklären. Ich will mit dem König reden – falls ihr überhaupt einen Anführer habt, der es wagt, sich König von diesem Dorf zu nennen!« Wütendes Stimmengewirr erscholl von der Mauerkrone, als hätte er mit diesen Worten in ein Wespennest gestochen.
»Du bist sehr dreist«, rief ein anderer Thebaner, offenbar eine Art Hauptmann, denn er trug im Gegensatz zu den meisten Männern, die nur Leinenkittel oder noch weniger anhatten, einen Lederpanzer und einen Bronzehelm. Er wirkte besonnener als sein aufbrausender Landsmann. »Weshalb sollten wir dich mit dem König sprechen lassen?«
Achilleus seufzte. Jedesmal die gleichen Spielchen, dachte er ungeduldig. »Ich bin allein gekommen«, antwortete er und wies zum Beweis seiner Worte auf die trostlose Ebene hinter sich. »Wenn ich ein zweites Mal kommen muß, dann mit einem Heer, das eure Mauern schleift und keinen Stein auf dem anderen läßt. Alle eure Häuser werden brennen. Alle eure Frauen werden euch ins Gesicht spucken, weil ihr es vorgezogen habt, in einen Kampf zu gehen, den ihr nicht gewinnen konntet, anstatt zu verhindern, daß sie geschändet werden. Noch ist es nicht soweit! Noch will ich mit eurem König nichts als reden.«
Einer der Krieger setzte zu einer heftigen Erwiderung an, aber der Hauptmann gebot ihm mit einer Geste zu schweigen.
»Der König ist bereits davon unterrichtet, daß du hier bist. Ich lasse ihn fragen, ob er überhaupt mit dir sprechen will.« Er gab den Männern den Befehl, die Waffen weiter auf Achilleus gerichtet zu halten, ohne jedoch unbedacht zu schießen, und verschwand aus dem Blickfeld. Gut, gut, dachte Achilleus, soweit wären wir schon.
Sicher war dies ein ungewöhnlicher, geradezu aberwitziger Weg, eine Stadt zu erobern, dennoch hatte er sich bisher als recht erfolgreich erwiesen. Ein Dutzend Städte hatte er angegriffen, und keine einzige hatte ihm widerstanden. Kurz und heftig waren die Kämpfe für ihn und seine Männer, aber verheerend für die Städte, deren wenige Überlebende die Warnung vor dem achaiischen Eroberer weitertrugen. Es hatte Achilleus nicht sehr überrascht, als die nächsten Städte das kleinere Übel vorzogen und sich ihm freiwillig unterwarfen. Und so war er dazu übergegangen, die Könige zur Kapitulation aufzufordern, bevor er mit seinem tausend Mann starken Heer vor den Toren erschien. Tatsächlich war man in den meisten Fällen auf seine beschämenden Forderungen eingegangen, um wenigstens ein Blutbad zu verhindern. Verschont zu werden kostete einen hohen Preis: Die Vierzig Schiffe, mit denen er auf diesem Plünderzug segelte, waren bereits zum Bersten voll mit Gold, Edelsteinen, kostbaren Stoffen und Teppichen, Sklavinnen und Waffen. Nur eines fehlte noch, um endlich in die Troas zurückkehren zu können. Deswegen schleppte er sein Heer noch immer von einer Stadt zur nächsten, obwohl seine Krieger erschöpft waren, und er nicht weniger.
Athene, Kriegsherrin, betete Achilleus, während er wieder einen gebührenden Abstand zwischen sich und die erhobenen Waffen brachte. Die ich dir von jeder Beute den dir zustehenden Anteil nicht versage, große Herrin, die du mich schnell und meinen Speer zielsicher machst, laß mich hier endlich fündig werden.
Das Kreischen eines Vogels antwortete hoch über ihm. Er hob den Kopf und erblickte eine Krähe, die in weiten Kreisen den tiefblauen Himmel durchpflügte. Seine Augen schmerzten bei dem Versuch, die Krähe, die im grellen Gegenlicht der Sonne ihre Kreise zog, nicht zu verlieren, aber sie flog so schnell dahin, daß ihre Umrisse verschwammen. Noch einmal schrie die Krähe, dann war sie fort.
Herrin, ich danke dir.
Das Knarren der Torflügel riß ihn aus seinen Gedanken. Der König trat heraus. Zwei Schwerbewaffnete begleiteten ihn mit erhobenen Schilden und Äxten. Ihre mit Bronzeplättchen besetzten Lederrüstungen klickten, als sie neben ihrem Herrn auf ihn zuschritten. Der König war ein hochgewachsener, schlanker Mann, wohl schon jenseits der Fünfzig, denn sein kunstvoll gedrehtes Haar war von hellgrauen Strähnen durchzogen. Er trug ein knöchellanges Gewand, das mit Fransenborten aus Goldfäden geschmückt war. Eine schwere Bernsteinkette lag um seinen Hals, und ein goldener Stirnreif in Form von zwei sich ineinander windenden Schlangen zierte als königliches Attribut seine Stirn. Er schien vor dem achaiischen Eroberer keine Angst zu haben, zumindest zeigte er sie nicht, denn er blieb erst innerhalb der Reichweite von Achilleus’ Schwert stehen.
»Ich bin Eetion, König von Theben«, sagte er hoheitsvoll, »und Ihr seid Achilleus von Achaia. Ich weiß, Ihr wollt meine Stadt. Ihr habt Euer Kommen ja durch den Rauch brennender Städte angekündigt. Aber ich weiß von Euch kaum mehr, als daß Ihr aus dem Ahhiyawaland gekommen seid, um die Stadt Troia zu unterwerfen. Wer oder was seid Ihr?«
»Ich bin der König des großen und mächtigen Phthia auf dem Festland der Ahhiyawa, wie ihr die Achaier nennt.« Das war halb Wahrheit, halb Lüge, denn tatsächlich gehörte Phthia zu den kleineren Königreichen Achaias, war aber eines der mächtigsten.
»Ihr seht wirklich nicht aus wie ein König, noch dazu ohne Leibwache«, bemerkte Eetion mit einem langen Blick auf Achilleus’ Kleidung, obgleich er dessen Worte keineswegs anzuzweifeln schien. Achilleus wußte, daß es nicht sein Äußeres war, das Eetion seinen Worten Glauben schenken ließ. Sein ärmelloser Bronzeharnisch war ohne jegliche Verzierung und stumpf vom Staub der Straße. Häßliche Schweißflecken verfärbten seine schwarze Leinenhose. Darüber trug er das Zoma, ein steifes Rechteck- und ein Dreiecktuch, die vorne und hinten von seinem Gürtel hingen. Lediglich der purpurne, mit prächtigen Goldstickereien und goldenen Plättchen geschmückte Stoff verriet, daß er kein gewöhnlicher Krieger war.
Achilleus warf mit einer herablassenden Geste seine blonde Mähne zurück, die nicht weniger staubig als seine Kleidung war. »Wozu brauche ich eine Leibwache? Und vor allen Dingen bin ich als Eroberer gekommen, als Krieger. In Achaia ist ein König auch ein Krieger.«
Eetion nickte. »Das glaube ich Euch sofort. Gleichwohl wird Euch einiges daran gelegen sein, Theben ohne Widerstand zu nehmen, habe ich recht? Wenn die Berichte stimmen, die hierhergelangt sind, wäre dies hier –«, er deutete hinter sich, »– Eure einundzwanzigste Stadt. Zweifellos sind Eure Männer ermattet und auch nicht mehr so zahlreich wie zu Beginn Eures Feldzuges. «
Achilleus sog erstaunt die Luft ein. Seine grünen Augen verengten sich bei diesen Worten, die Eetion in beinahe lockerem Plauderton gesprochen hatte. »Sie sind noch frisch genug, Eure Stadt zu schleifen, macht Euch keine Hoffnungen!« stieß er hervor und wandte sich um, als wolle er die eben erst begonnene Verhandlung schon wieder abbrechen.
»Wartet!« Zu Achilleus’ Genugtuung verriet Eetions Stimme nun doch Nervosität. Er blieb stehen.
»Ich will damit sagen, daß wir Euch durchaus etwas zu bieten haben«, sagte Eetion schnell. »Es liegt immerhin bei unserer Entscheidung, ob Ihr kampflos Eure Schiffe mit Beute beladen könnt, oder ob Ihr Euch diese erst hart mit Blut erkämpfen müßt. Unterschätzt die Thebaner nicht! Sie sind wild entschlossen, Eurem Heer so viele Verluste wie möglich beizubringen. Auch wenn sie nicht verhindern können, daß die Stadt Euch zum Opfer fällt, werden sie sie doch teuer verkaufen.« Er zögerte; mit einem Mal kostete es ihn sichtliche Überwindung weiterzusprechen. »Das Schicksal Thebens ist entschieden, aber auf welche Weise ... das liegt allein bei mir.«
»Das hört sich an, als wolltet Ihr Forderungen stellen.«
»Nun, nicht direkt Forderungen ... ich möchte nur etwas klären. Ich gebe Euch an Gold, was wir haben. Alles, was wir an Waffen besitzen und was Euch sonst noch wertvoll erscheint, sollt Ihr haben. Ich übergebe Euch meine Königswürde, wenn Ihr das wollt. Alles, worauf ich bestehe, ist, daß Ihr keine Gefangenen macht.«
»Unmöglich.« Achilleus schüttelte den Kopf, daß die Schweißtropfen von seinen Haaren flogen. »Gerade darum bin ich hier. Ich werde ohne Frauen nicht wieder abziehen.« Schätze und Frauen. Das begründete den Ruhm der Städteplünderer. Wurde nach Beute gefragt, so hieß es lediglich: Schätze und Frauen. Das war in Asien nicht anders als bei den Achaiern, vielleicht war es bei allen Völkern so. Mußte er das Eetion erst erklären?
Eetion holte tief Luft. »Ihr wollt also kämpfen.«
»Nein, Ihr wollt das. Dabei überseht Ihr etwas: Ihr mögt meinen Leuten Verluste zufügen, aber die Euren werden weit höher sein. Wollt Ihr wegen ein paar Frauen die Stadt in Schutt und Asche legen lassen? Ich mache Euch einen Vorschlag: Ich wähle mir von den Frauen aus Eurem Haus – wohlgemerkt, aus Eurem Haus –, sagen wir, fünf aus und mache sonst keine Gefangenen.«
Das ist alles, was ich noch brauche, dachte Achilleus, während er Eetion abwartend musterte, der mit zusammengepreßten Lippen die Forderung abwägte. »Gebt mir Bedenkzeit«, bat der König schließlich. »Ich werde Euch heute abend meine Entscheidung mitteilen.«
Achilleus nickte. So lange würde er ohnehin brauchen, um sein Heer von der Bucht, in der seine Schiffe lagen, hierherzuführen. »Ich werde heute abend Theben betreten«, sagte er, »ohne Gewalt oder auch mit.« Es ist ein gefährliches Spiel, aber ich habe es wieder einmal zu meinen Gunsten entschieden.
Nach zwei Stunden erreichte Achilleus die Bucht. Er hatte die Strecke laufen müssen, da es zu umständlich gewesen wäre, Pferde und Streitwagen auf die lange Fahrt mitzunehmen. Schon von weitem konnte er die schwarzen Schiffe sehen. Normalerweise wurden sie wegen ihrer Leichtigkeit immer an Land gezogen, selbst für kurze Rasten, aber jetzt waren sie zum Bersten voll mit Beutegut, so daß man sie lediglich mit kräftigen Tauen an den Felsen des Ufers festgebunden hatte. In loser Ordnung waren die Myrmidonen, das Kriegervolk Phthias, über den Strand verteilt. Die meisten der Männer lagen auf dem kiesigen Boden und dösten in der Nachmittagssonne, deren Hitze durch eine sanfte Brise vom Meer her gemildert wurde. Viele schliefen fest, wie Achilleus lauten Schnarchgeräuschen entnahm. Aber alle hatten ihre Schwerter und Speere in Griffweite liegen, und er wußte, daß sie bei der geringsten Warnung augenblicklich hellwach und auf den Beinen sein würden. Andere hatten Lagerfeuer entzündet, auf denen die Beute der Bogenschützen brutzelte, sichtlich froh, daß das übliche Mahl aus Rauchfleisch und getrocknetem Obst nun nicht ganz so kärglich ausfiel. Manche beschäftigten sich damit, die Schneiden ihrer Bronzeschwerter zu schärfen, und das Zischen der Wetzsteine erfüllte die Luft. Nur wenige sahen von ihrer Tätigkeit auf, als Achilleus bedächtig über die Schlafenden stieg und sich bei einer Gruppe von Männern niederließ, die um eines der Lagerfeuer saßen.
»Nun?« fragte einer der Myrmidonen, ein kräftiger Krieger, dem seine schwarze Mähne lose um die breiten Schultern fiel. Er warf Achilleus nur einen raschen Blick zu und widmete sich dann wieder seinem Fleischspieß über dem Feuer. »Wie war es?«
Seufzend fischte sich Achilleus einen der Bratspieße heraus. Er war ein wenig enttäuscht über das scheinbare Desinteresse, mit dem er bei seiner Rückkehr von einem solch heiklen Unternehmen begrüßt wurde. Aber im Gegensatz zu ihm war sein Hequetas Alkimedon eben ein echter Myrmidone, der Fragen nur dann stellte, wenn er es für unumgänglich hielt, und ansonsten nutzlose Neugier bezähmte. Achilleus empfand es nach wie vor nicht als selbstverständlich, daß diese wilden Bergkrieger Thessaliens ihm folgten, obwohl sie ihm ihre Loyalität hundertfach bewiesen hatten.
Neun Jahre war es her, daß er von denselben Männern, mit denen er jetzt zusammensaß, fast gesteinigt worden wäre. Damals hatte ihn der König von Phthia, sein Vater Peleus, aus dem Palast gejagt und ihm befohlen, Herr über die Myrmidonen zu werden. So nannte man die alteingesessenen Stämme, die in den rauhen Bergen weitab der Städte hausten und aufgrund ihres Wagemutes den Großteil von Phthias Heer stellten. Die mächtigsten Könige Achaias hatten ihre Gesandten geschickt, um ihn, den gerade zwanzigjährigen Königssohn, zu dem gewaltigsten Eroberungsfeldzug zu holen, den es je in der Geschichte der Kriege gegeben hatte. Troia war der Name der Stadt, die sie unterwerfen wollten; und sie behaupteten, ohne Achilleus sei sie unbezwingbar. Dabei hielten sie ihn offensichtlich für ein nutzloses Bürschchen, das unfähig war, ein Heer zu führen. Das sollte ihrer Meinung nach Peleus selbst tun. Doch der hielt sich für zu alt, um noch an einem solchen Unternehmen teilzunehmen. Achilleus mußte endlich die Anerkennung der Myrmidonen erlangen, und er mußte sie als Wanax, als König, in den Krieg führen. Also brachte er Achilleus in ihre Bergdörfer und verkündete, daß sie von nun an seinem Sohn unterständen.
Empörtes Geschrei erhob sich unter den versammelten Myrmidonen. Sie packten Achilleus und wollten ihn schon mit Steinen bewerfen, als sich Patroklos dazwischenstellte, ein Mann, der ebensowenig Myrmidone war wie Achilleus, ihre Achtung aber bereits in einigen Kämpfen erworben hatte. Er forderte von ihnen, ihm wenigstens eine Chance einzuräumen, eine Bewährungsfrist. Der Krieg stand ohnedies vor der Tür. Achilleus gelang es, die Wogen weiterhin zu glätten, indem er Patroklos zum Lawagetas machte, dem ersten Befehlshaber nach dem König, und den Myrmidonen anbot, dessen Anweisungen Folge zu leisten, falls er selbst versagen sollte.
Er konnte die Männer sogar verstehen – in ganz Achaia war es üblich, daß nur derjenige Heerführer sein konnte, der sich in der Schlacht an vorderster Spitze bewährte. Ja, selbst ein König wurde nur dann akzeptiert, wenn er zugleich ein Kämpfer war oder dies – wie sein Vater Peleus – in seiner Jugend unter Beweis gestellt hatte. Einen Herrscher wie den troianischen König, dessen Teilnahme an einer Schlacht sich darauf beschränkte, daß er sie in seiner sicheren Festung plante, fand man in allen achaiischen Ländern nicht. Er mußte seinen Worten Taten folgen lassen. Und nun sollten sie einem folgen, dessen Erfahrung im Umgang mit Waffen sich wohl bereits mit den Übungskämpfen seiner Lehrer erschöpfte. Die hielten sich zweifellos im Scheingefecht mit dem Königssohn aus Furcht vor möglichen Konsequenzen zurück, die im günstigsten Fall aus von Peitschenhieben zerfleischten Rücken bestehen mochten. Natürlich wurde der Sohn eines Kriegerkönigs als ebensolcher erzogen, das wußten auch die Myrmidonen. Aber von Achilleus glaubten sie das nicht, denn Peleus hatte die Erziehung seines Sohnes Fremden überlassen – Flüchtlingen, wie Menoitios, dem Lokrer, und Phoinix, dem Helladier, die ihrem Zögling fremde Sprachen beibrachten und andere Dinge, für die ein Krieger in ihren Augen keinen Bedarf hatte. Und auf nicht einen der vielen Raubzüge, die die Gefolgsleute des Königs, die Hequetai, in das Mittelmeer unternommen hatten, war Achilleus mitgeschickt worden, um das Kriegshandwerk zu erlernen.
Warum also Agamemnon, der König von Mykene, der die achaiische Allianz gegen Troia formierte, ausgerechnet Achilleus dabeihaben wollte, war den Myrmidonen ein Rätsel. Er hatte es (zähneknirschend zwar und mit deutlicher Abneigung) hingenommen, daß er von Peleus gebeten wurde, seinen Sohn mit in den Krieg ziehen zu lassen. Daß der ihn dann aber noch von einem Tag auf den anderen zum König machte, hatte Agamemnon noch weniger gepaßt – er fragte Achilleus unverhohlen, wie er es denn geschafft habe, seinem Vater die Königskette abzuschwatzen.
In Wahrheit fühlte sich Achilleus ins kalte Wasser gestoßen. Über das Regieren eines Königreiches wußte er nur das wenige, was ihm seine Lehrer gesagt hatten; seine Krieger akzeptierten ihn nicht, und Agamemnon behandelte ihn wie einen dummen Jungen. Als es dann endlich in der Troas soweit war, kamen noch die Schmähungen der Troianer hinzu.
Aber es dauerte nicht sehr lange, und Achilleus belehrte sie alle eines Besseren. Heute folgten die Myrmidonen einem Wink seiner Augen. Heute unterwarfen sich ihm Städte, ohne daß er seine Klinge ziehen mußte, allein bei der Nennung seines Namens. Und dieses Mal würde es wieder so sein.
Achilleus beantwortete die Frage seines Hequetas nicht, denn er wußte, daß Alkimedon keine Antwort erwartete. Er wischte sich mit dem Handrücken das Fett aus den Mundwinkeln und stand auf. »Die Männer sollen sich langsam fertigmachen.«
Alkimedon nickte. »Ich wünsche dir, daß du diesmal ein Ehrengeschenk findest«, sagte er ernst.
»Athene hat es mir in Gestalt einer Krähe zugesagt.« Achilleus griff nach einem Ziegenschlauch und spülte mit dem schalen Wasser das würzige Essen hinunter.
Der Myrmidone schien nicht im mindesten beeindruckt zu sein. Jeden anderen hätte er einen Schwindler genannt. »Und du vertraust ihr?«
»Athene hat mich noch nie betrogen«, sagte Achilleus. »Sie hat mir allerdings auch noch nie ihr Wort gegeben. Eine Göttin gibt einem Menschen gegenüber kein Wort. Wie auch immer, wir kehren danach in die Troas zurück, mit oder auch ohne Ehrengeschenk.«
Jetzt erst sah ihn Alkimedon direkt an. »Du würdest darauf verzichten? Das kann doch nicht dein Ernst sein!«
Achilleus zuckte die Achseln. »Wart’s nur ab!« erwiderte er. »Spätestens morgen früh, wenn wir in Richtung Westen aufbrechen, wirst du sehen, wie ernst mir das war.«
Eetions Antwort bestand aus einem einfachen Ja. Es war bereits dunkel geworden, als das Tor geöffnet wurde, um einen Trupp von zweihundert Mann in die Stadt einzulassen. Der Hauptteil des Myrmidonenheeres wartete vor den Mauern, die Waffen griffbereit, um bei dem geringsten Anzeichen von Verrat Theben zu stürmen. Eine breite, von Menschenmassen gesäumte Straße führte geradewegs auf den Palast zu, einem zweistöckigen Mittelgebäude, an das sich rundherum mehrere kleine Häuser schmiegten. Im Fackelschein hatten die weißgetünchten Wände einen gräulichen Farbton angenommen. Thebanische Krieger hielten die Fackeln. Man hatte ihnen verboten, sich gegen die Eindringlinge zu wenden, für die sie jetzt eine Gasse bilden mußten. Zwischen Achilleus’ Schultern kribbelte es, wenn er aus den Augenwinkeln in ihre haßerfüllten Gesichter sah, von denen der Wunsch, ihm eine Klinge in den Nacken zu jagen, deutlich abzulesen war. Aber ihre Bronzeschwerter blieben in ihren Scheiden, und es kam zu keinem unliebsamen Zwischenfall, als Achilleus an der Spitze der Myrmidonen, den Speer zur Warnung halb erhoben, auf den Palast zuschritt.
»Das ist keine Art, eine Stadt zu erobern«, raunte Alkimedon dicht hinter ihm, mit dem blanken Schwert in der Hand. »Es ist eines wahren Myrmidonenkriegers einfach unwürdig.«
»Das sagst du jedesmal. Ihr habt eben eine andere Vorstellung von Ehre als ich«, sagte Achilleus ungerührt. »Ich fühle mich jedenfalls geehrt, wenn man nicht mit mir kämpfen will. Außerdem weißt du ganz genau, daß wir anders gar nicht bis nach Kizzawatna gekommen wären.«
»Stimmt schon«, mußte Alkimedon zugeben. »Aber ist es immer noch ehrenhaft, wenn die uns jetzt angreifen und wir wie die Ratten in der Falle sitzen?«
»Sie werden schon nicht. Das Tor ist offen, die anderen wären schnell hier. Und es wäre durchaus ehrenhaft, erfolgreich aus einer solchen Situation herauszukommen. Du hast doch nicht etwa Angst?«
»Nein«, brummte Alkimedon, »aber einen offenen Kampf ziehe ich vor.«
Eetion ging wenige Schritte vor ihnen, flankiert von seiner Leibwache, die den Weg mit großen Strohfackeln zusätzlich ausleuchtete. Die Menschen, deren Neugier stärker war als ihre Angst, standen dichtgedrängt hinter den thebanischen Kriegern und beobachteten jeden Schritt der Achaier. Frauen preßten mit bleichen Gesichtern ihre Kinder an sich, und Bauern umklammerten ihre Mistforken in der Hoffnung, sie doch noch als Waffen einsetzen zu können. Junge kampflustige Kerle reckten ihre Hälse, um sich nichts entgehen zu lassen. Ab und zu jammerte ein Kind. Ansonsten war in dem Schweigen nur das Hallen der Schritte auf dem Steinboden zu hören und das Klirren der Waffen und Rüstungen. Achilleus und Alkimedon folgten dem König über eine breite Freitreppe in den Palast und gelangten durch einen Korridor in den Thronraum.
Er war nicht sehr groß. Gegenüber dem Eingang erhob sich ein zweistufiges Podest, auf dem der Thron stand, ein Ebenholzstuhl mit aufwendigen Einlegearbeiten aus Onyx. Außer ihm und zwei Truhen zu seinen Seiten standen nur noch ein paar zierliche Stühle herum, vielleicht, um die prächtigen Wandmalereien besser zur Geltung kommen zu lassen. Jetzt aber hatte die Nacht den phantastischen Wesen der kizzawatnischen Götterwelt, den Blumen und Ornamenten ihre leuchtenden Farben genommen. Nur zwei mit Öl gefüllte Steinschalen, die auf mannshohen Ständern brannten, verbreiteten ein schwaches Licht.
Eine Frau in kostbarer Robe wartete als einzige hier. Ihre grauen ungeschmückten Haare standen in auffälligem Gegensatz zu dem Prunk ihres Kleides, das ähnlich wie das des Königs mit goldenen Fransen geschmückt war. Eetion blieb stehen und sagte etwas zu ihr mit vorwurfsvoller Stimme. Achilleus verstand die Worte nicht.
»Ich bin die Königin und gehöre hierher«, sagte sie auf hethitisch und sah dabei Achilleus an, als hätte sie es zu ihm gesagt. Ihre Blicke folgten ihm, während er an Eetion vorbeiging und sich demonstrativ auf den Thron setzte. »Habt Ihr denn keinen Anstand!« herrschte sie Achilleus an. »Ihr beleidigt nicht nur den König, sondern auch die Throngöttin! Eine solche rüde Geste –«
»Ich kenne Eure Götter nicht«, unterbrach sie Achilleus, »aber Ihr seid die erste Frau, die ich auswähle.«
Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Sie preßte zitternd die Hand an den Mund und blickte erschrocken zu Eetion, der beruhigend auf sie einredete. »Das – das könnt Ihr nicht ...« Ihre Stimme bebte. »Das werdet Ihr nicht tun.«
»Ich habe mit Eetion eine Abmachung. Seid vernünftig und versucht nicht, Euch dagegen aufzulehnen. Ich habe vor, Euch gegen ein Lösegeld dem König von Troia zu überlassen. Er wird sicher dafür sorgen, daß Ihr nach Theben zurückreisen könnt.«
»Aber wenn es Euch um Lösegeld geht ... Eetion hat selbst –«
»Alles, was hier ist, gehört bereits mir. Genug jetzt! Zeigt mir endlich, was ich sehen will!«
Eetion sagte etwas zu einem seiner Leibwächter, der ehrerbietig nickte und verschwand. Achilleus beobachtete Eetion genau, er hatte keinen Grund, ihm zu trauen. Allerdings hätte er den König falsch eingeschätzt, falls dieser versuchte, ihn zu hintergehen.
Er mußte nicht lange warten, bis die Frauen der königlichen Familie in den Thronraum kamen. Sie wirkten gefaßt – sie waren natürlich längst davon unterrichtet, was sie erwartete, wenn sie sich auch, von der Anwesenheit der fremden, ungeschliffen wirkenden Krieger eingeschüchtert, aneinanderdrängten. Vermutlich bestand das kleine Grüppchen Frauen in der Hauptsache aus den Dienerinnen des Hauses, auch wenn ihre Kleidung der der Königin an Kostbarkeit kaum nachstand. So war es noch jedesmal gewesen: Bei seiner Ankunft hatten die Könige ihre Frauen und Tochter bereits zu befreundeten Völkern ins Landesinnere gebracht, und Achilleus fand bestenfalls noch die vornehmen Damen des Hofes und deren Sklavinnen vor – keine, die es wert gewesen wäre, das Geras, das Ehrengeschenk eines achaiischen Königs zu werden.
Doch diesmal fiel ihm eine der Frauen sofort ins Auge. Schon ihr schlichtes, weißes Gewand hob sie heraus aus der kleinen Schar. Sie war noch sehr jung, sicher noch keine fünfzehn, mit blondem, hochgestecktem Haar und tiefblauen Augen, die sich erschrocken weiteten, als Achilleus vom Thron aufstand und auf sie zuging. Die Wangen ihres herzförmigen Gesichtes färbten sich tiefrot; und angespannt zog sie die Schultern hoch, als wolle sie am liebsten davonlaufen. Alles in allem wirkte sie so verängstigt, wie es eine Frau in ihrer Situation nur sein konnte, und doch spürte Achilleus hinter dieser Furcht ein seltsames Gefühl der Sicherheit. Er drehte sich zum König um:
»Ist dieses Mädchen eine Sklavin?«
Eetion zögerte.
»Schwört, daß Ihr mich nicht belügt!«
»Ich habe nicht die Absicht«, versicherte Eetion. »Ich schwöre.«
»Das genügt mir nicht.« Achilleus überlegte kurz. »Was ist Euer höchster Gott?«
»Warum wollt Ihr das wissen? Taru, der Herr des Himmels.«
»Dann schwört bei Taru!«
Eetion gehorchte. Er hob die Hände und sprach eine fremdartige Formel. Achilleus wußte nichts von diesen Göttern, aber sicher würde der König ihre Namen nicht leichtfertig in den Mund nehmen. Achilleus fragte ihn ein weiteres Mal. Eetion nahm ein Tuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn, der ganz sicher nicht von der Wärme des Abends kam. »Sie heißt Chryseis«, murmelte er widerstrebend. »Sie ist die Tochter des Königs von Killa, einer Insel nahe bei Troias Küste. Er schickte sie hierher, weil er befürchtete, daß ihr Achaier seine Insel überfallen und plündern würdet.«
»Und warum habt Ihr sie nicht zusammen mit Euren Nebenfrauen und Töchtern ins Hinterland geschickt?«
»Wie konnte ich das. Er hat sie mir persönlich anvertraut.«
»Wie töricht von ihm«, fand Achilleus. »Ich hätte Killa nie ausgeraubt. Diese Insel ist Apollon geweiht.«
»Ich weiß«, sagte Eetion. »Er befürchtete jedoch, daß der Name dieses Gottes Euch nicht abschrecken würde. Er nannte Euch einen Mann, dem Frömmigkeit völlig fremd ist und den das Weihezeichen eines Gottes nicht daran hindern würde, ein Heiligtum auszuplündern.«
Achilleus hörte schon nicht mehr hin. Mochte doch Eetion von ihm denken, was er wollte. Er hatte jedenfalls sein Ehrengeschenk! Chryseis war jung und schön und von königlicher Abstammung. Mit ihr konnte er in die Troas zurückkehren, ohne sich Schande zu machen.
»Ich warne Euch, sie mitzunehmen«, sagte Eetion. »Ihr wißt wohl nicht, daß ihr Vater auch der Priester ebendieses Heiligtumes auf Killa ist.«
Achilleus runzelte die Stirn. Sollte das Geras, das er nach langen blutigen Wochen hier endlich gefunden hatte, ausgerechnet diesem dreimal verfluchten Gott gehören? Soviel Pech kann man doch gar nicht haben, dachte er und winkte Alkimedon zu sich, der dem ganzen Gespräch verständnislos zugehört hatte, da er des Hethitischen nicht mächtig war. Achilleus erklärte ihm in knappen Worten, wer die Frau in dem weißen Gewand war.
»Ja, haben dich alle guten Götter verlassen?« zischte Alkimedon. »Die Tochter eines Apollon-Priesters! Willst du dich allen Ernstes mit dem Schlangengott anlegen?«
Nein, dachte Achilleus müde. Was soll’s? Ich werde sie eben nicht anrühren oder mir sonst die Finger an ihr verbrennen. Und selbst, wenn ... Darauf kommt es auch nicht mehr an. »Ich habe dir ja gesagt, daß ich nicht weitersuchen werde. Ich habe einfach keine Lust mehr. Kümmere dich darum, daß sie an den Strand gebracht wird – sie und die Königin. Und wähle noch drei weitere Frauen aus, sie sind Teil des Preises dafür, daß ich diese Stadt verschont habe.«
»Gern tue ich es nicht, jedenfalls nicht, solange es auch die Tochter des Priesters betrifft.« Alkimedon baute sich vor den Frauen auf und begann, sie mit seinen Blicken auszuziehen. »Aber ich gehorche dir!« rief er mit einemmal lachend. »Denn du bist der König!«
Achilleus saß allein in einem kleinen Zimmer des Palastes. Hier stand der Altar von Wurusemu, der Sonnengöttin von Arinna. Das hatte er den geflüsterten Worten eines Thebaners entnommen, der sich darüber empört hatte, daß der Fremde nun auch noch den Altarraum ihrer Götter entweihen wolle. Allerdings hatte er es auch nicht gewagt, Achilleus am Betreten des Heiligtumes zu hindern.
Aber es war keineswegs seine Absicht, den Altar von den kleinen goldenen Schalen zu befreien, in denen aromatisiertes Wasser angenehmen Geruch verbreitete. Dazu hatte er in seinem Leben schon zu viel Gold gesehen, als daß ihn diese Gefäße dazu verleiten könnten, einen Altar zu entweihen, wenn es auch der einer fremden Göttin war.
Achilleus betrachtete das Bildnis eines Gottes mit einer ungewöhnlichen kegelförmigen Kopfbedeckung, deren Seiten fünf Paar Hörner entwuchsen. Es war mit bunten Farben einfach auf die Wand über einem Opferblock aus Sandstein gemalt. Er glaubte, darin Taru zu erkennen, den Herrn des Himmels, wie ihn Eetion genannt hatte, denn um ihn waren die Gestirne aufgemalt, und über seinem Kopf hielt eine winzige geflügelte Gestalt die Mondsichel. An seiner Seite stand Wurusemu mit erhobenen Händen, als wolle sie die Menschen segnen, die hier zu ihren Füßen beteten. Achilleus kannte nur die Namen dieser beiden Götter, nicht das, wofür sie verehrt wurden. In ihren Blicken vermeinte er mehr Warmherzigkeit zu lesen, als er bei den meisten seiner eigenen Götter je gesehen hatte. Aber so, wie sich die Achaier freundlichere Abbilder ihrer Götter machten, als sie es in Wirklichkeit waren, mochten auch diese beiden hier nur den Anschein von Güte haben. Achilleus kannte beides: Nicht nur die Bilder, sondern auch die Götter selbst.
Er kniete vor dem Altar und breitete Olivenzweige auf dem Sandstein aus. Dieser Ort war für ein Opfer an die Herrin Pallas Athene genauso gut wie jeder andere in der Fremde.
Ich höre auf die Stimme der Herrin Athene,
Ihr öffne ich mein Herz.
Ich bete Dich an und preise Dich, Parthenos,
Die Du aus des Vaters Stirn entsprangst.
Achilleus hatte größte Mühe, sich auf das Gebet zu konzentrieren. Vielmehr dachte er an Poseidon, den Herrn des Ozeans, dem er sich morgen mit seinen Schiffen wieder anvertrauen mußte; dem Erdenerschütterer, dessen Zorn so leicht erregbar war. Er nahm sich vor, ihm vor der Abfahrt ein makelloses Pferd zu opfern. Das hatte er lange nicht mehr getan, nicht einmal, als er vor zwei Monaten aufgebrochen war.
Ich bete Dich an und preise Dich, Parthenos,
Die Du große Wunder zeigst.
Die mich segnet in Weisheit.
Ich höre nicht auf, Dir zu danken ...
Er erinnerte sich an die Krähe, die ihm am Mittagshimmel verkündet hatte, in dieser Stadt endlich sein Ehrengeschenk zu finden. Achilleus hatte Grund, der Göttin, die das Krähengefieder getragen hatte, dankbar zu sein.
... und von Deiner Güte zu sprechen.
Hättest Du mir nicht bereits früher helfen können? Statt dessen mußte ich mich bis in dieses entlegene Land abhetzen. Was tue ich eigentlich hier? überlegte er, während er versuchte, die Worte des Gebetes nicht zu verlieren. Welchen Wert hatte es überhaupt, dieses Gebet? Für Athene und für ihn? Die größten Opfer hatten nicht bewirken können, daß die Kriegsgöttin Athene half, Troia zu erobern, das Tor zum großen Meer Euxeinos. Statt dessen hatte es ihn in diesen fernen Winkel Asiens verschlagen, um Herr über ein weiteres unwichtiges Städtchen zu werden. Vor neun Jahren hast Du mir ganz anderes in Aussicht gestellt, Herrin. Aber was habe ich gerade heute zu Alkimedon gesagt? Eine Göttin gibt einem Menschen gegenüber nicht ihr Wort ...
Verhaltenes Klopfen riß ihn aus seinen Gedanken. Ein Diener stand in der Tür. Er sah Achilleus voll Furcht und Haß an – aber auch voll Verwunderung, denn er hatte wohl kaum erwartet, ihn vor dem Altar knien zu sehen. Mit sichtlichem Widerwillen verbeugte er sich vor dem Achaier. »Mein Herr Eetion ist im Thronraum«, sagte er tonlos. »Er ersucht Euch, zu ihm zu kommen.«
»Ersucht er mich oder bittet er mich?« fragte Achilleus scharf.
»Ich wiederhole nur, was mein Herr mir auftrug.«
»Schon gut.« Achilleus stand auf und rückte seinen Schwertgürtel zurecht. Insgeheim war ihm diese Störung willkommen, ganz gleich, was Eetion von ihm wollte oder auf welche Weise er ihn zu sich bat. So brauchte er wenigstens diesen Gedanken nicht mehr nachzuhängen, die er nutzlos fand und die ihm doch immer wieder in den Sinn kamen. Er befahl dem Thebaner, vorauszugehen, und folgte ihm mit der Hand am Schwertgriff, während seine Blicke die Korridore nach verräterischen Bewegungen absuchten. Ungehindert gelangte er in den Thronraum, und auch hier war das Flackern des Feuers in den Öllampen und die tanzenden Schatten an den Wanden alles, was sich rührte.
Eetion saß steif auf dem Ebenholzthron. Aus trüben Augen sah er Achilleus an und machte eine müde Geste, auf die hin der Diener hinausging. Eine hurritische Sklavin kniete zu seinen Füßen. Sie hielt ein Tablett mit einer Alabasterkaraffe, durch die ein kümmerlicher Rest blutroten Weines schimmerte. Den dazugehörigen Kelch hielt Eetion in der Hand. Er saß auf dem Thron nicht wie ein Herrscher, sondern wie ein gebrochener Mann, der an einem einzigen Tag alles verloren hatte und der sehr wohl wußte, daß dieser Platz nicht mehr ihm gehörte.
»Ich habe eine Bitte an Euch«, begann er langsam. »Die ist zugegeben nicht eben klein. Aber wahrscheinlich wird es Euch sogar Spaß machen, sie mir zu erfüllen ...«
Achilleus griff sich einen Stuhl und setzte sich ihm gegenüber. Seine Neugier war geweckt.
»Über diesen Schritt, den ich jetzt tun muß, habe ich länger nachgedacht als über die Frage, ob ich Euch Theben ausliefern soll oder nicht.« Trotz des Weines war seine Stimme einigermaßen fest. »Ich habe einen Sohn, sehr jung und ungestüm. Er hat mich bestürmt, den Kampf vorzuziehen, wie die meisten meiner Berater, diese Narren. Wurusemu weiß, daß ich lange mit mir gerungen habe. War ich nun vernünftig oder einfach nur feige?« Er hob den Kopf und sah Achilleus in die Augen. »Seltsame Augen habt Ihr«, murmelte er. »Wie hätte sich wohl ein König der Ahhiyawa entschieden?«
»Achaiische Städte sind besser befestigt«, wußte Achilleus darauf nur zu sagen. Er konnte sich kaum vorstellen, jemals selbst in eine solche Lage zu geraten.
»Ich hielt unsere Mauern bisher für ausreichend.« Eetion schlug sich mit der Faust gegen die Stirn. »Ich war ein Dummkopf! Schon lange war vorauszusehen, daß die Eroberer aus dem Westen kommen würden. Aber ich habe mich nicht darum gekümmert; ich war überzeugt davon, daß sie uns nicht gefährlich werden könnten. Sie kämpfen ja auch nur mit Bronze und verstehen es nicht, das neue Metall, das Eisen, zu schmieden.«
Das ist richtig, dachte Achilleus und fragte: »Warum habt Ihr dann kapituliert?«
»Oh, das wißt Ihr genau. Weil mir die Schicksale der Städte entlang der Küste nicht verborgen geblieben sind. Jedem anderen hätte ich Widerstand geleistet, aber nicht Euch.«
Achilleus hob die Augenbrauen. Für ihn waren diese Worte ein Lob. »Warum erzählt Ihr mir das alles?«
»Wie heißt dieser Gott, dessen Priester der Vater von Chryseis ist? Apollon?«
»Keine Ahnung, Apollon ist nicht mein Gott. Meine Göttin ist Athene, die Herrin des Krieges und –«
»– der Weisheit, ich weiß. Aber ich dachte, auch die Ahhiyawa verehren ihn?«
»Ich jedenfalls nicht!« entgegnete Achilleus mit Nachdruck.
Eetion ließ sich von der Sklavin den letzten Rest Wein einschenken. »Ist das nicht verrückt?« fragte er, nachdem er getrunken hatte. »Da kommt eines Tages dieser Chryses von seiner dem Apollon geheiligten Insel und bringt seine Tochter in meine Obhut, weil er glaubt, hierher verschlägt es keinen der Ahhiyawa.« Er lachte hart. »Und dann kommt nicht irgendeiner, sondern der, den er am meisten fürchtete. Und der wählt sich seine Tochter als Beute aus! Und Ihr sagt, Ihr hättet Killa nie überfallen! Warum eigentlich nicht? Weil Ihr Apollon zwar nicht verehrt, aber doch gehörigen Respekt vor ihm habt?«
»Auch, aber vor allen Dingen, weil es dort nichts zu holen gibt.« Das war eine glatte Lüge – was die Truhen in Apollons Heiligtum betrafen, in denen die Geschenke der Pilger aufbewahrt wurden, hätte es einiges zu holen gegeben. Aber Achilleus dachte nicht daran, das zuzugeben.
»Wie auch immer ... Wurusemu wird mich in die Zukunft blicken lassen, wenn ich sterbe, es ist ihre letzte Gabe. Und wenn Ihr wollt, wird sie Euer sein. Ich möchte meinem Bezwinger gerne dieses Geschenk mit auf den Weg geben.« Eetion wirkte jetzt seltsam zufrieden und gelassen. Achilleus beschlich ein ungutes Gefühl. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Eetion etwas plante. Vielleicht hatte er im letzten Augenblick eine Möglichkeit zur Rache gefunden. »Ihr erwähntet eine Bitte ...«
»Ja, davon wollte ich eben sprechen. Ich kann mit der Schande, Theben verraten und für fünf Frauen verkauft zu haben, nicht weiterleben. Stünde ich vor derselben Entscheidung ein zweites Mal, würde ich genauso handeln, aber ... « Er unterbrach sich. »Tatsächlich war ich nicht weniger dumm als Chryses. Ich habe sieben meiner Söhne nach Taruisa gehen lassen, nach Troia, wie Ihr es nennt. Was haben sie mir in den Ohren gelegen, sie in diesen Krieg ziehen zu lassen ... Jetzt lebt keiner mehr von ihnen, die meisten starben, so sagte man mir wenigstens, durch Eure Hand.«
Achilleus widersprach ihm nicht, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, thebanische Königssöhne getötet zu haben. Aber es war üblich, den Tod von Männern ihm anzulasten, wenn niemand genau sagen konnte, wer sie wirklich bezwungen hatte. Es war ehrenvoller, ihm zu unterliegen als irgendeinem namenlosen Krieger – und schlicht am naheliegendsten.
»Wären sie hiergeblieben, lebten sie noch und könnten es besser machen als ihr Vater«, fuhr Eetion fort. »Nun bleibt mir nur noch die letzte Aufgabe, ihnen in das Haus der Sieben Tore zu folgen. Ich könnte wohl selbst dafür sorgen, aber es wäre weit ehrenhafter für mich, tätet Ihr es.«
»Täte was?« Achilleus konnte nur vermuten, was dieses Haus war.
»Ahnt Ihr das nicht?« Eetion deutete auf Achilleus’ Schwert. »Stoßt es mir ins Herz, das macht Euch doch keine große Mühe.«
»Ist das notwendig?«
»Ich will mit Euch nicht darüber diskutieren. Ja oder nein?«
Achilleus erhob sich. Ebenso die Hurritin, die vor Nervosität die Karaffe auf den Boden fallen ließ und sich beeilte, den Raum zu verlassen. Achilleus sah ihr flüchtig nach, während seine Hand unschlüssig nach dem Schwert griff. In den langen Jahren des Krieges hatte er viele Männer getötet, auf die verschiedensten Arten, aber noch niemals jemanden, der wehrlos vor ihm saß und ihn darum bat. Es widerstrebte ihm. Zugleich konnte er Eetion verstehen. Der Tod eines Königs auf seinem Thron, mit der Klinge des Feindes im Herzen, war dem schmählichen Ende durch Gift oder aufgeschnittene Pulsadern vorzuziehen. Nachdenklich zog er das bronzene Langschwert aus der Scheide. Er ahnte, daß es besser wäre, einfach hinauszugehen und den König hier allein sitzenzulassen.
»Ihr irrt Euch, wenn Ihr meint, ich hätte Vergnügen daran«, sagte Achilleus düster und fixierte mit den Augen die Stelle von Eetions Brust, die den schnellen Tod mit einem einzigen Stich gewährleistete.
»Das müßt Ihr auch nicht. Tut es einfach. Eines noch ... « Bleich geworden starrte Eetion auf das Schwert und preßte sich gegen die hohe Rückenlehne. Achilleus sah, daß er den Atem anhielt und versuchte, sich gegen die aufkommende Angst zu wehren. »Hindert mein Volk nicht daran, mir ein ehrenvolles Begräbnis auszurichten!«
»Nein ... Natürlich nicht.« Achilleus war leicht verwirrt. »Warum glaubt Ihr, daß mir daran gelegen sein könnte?«
Eetion antwortete nicht. Er klammerte seine Hände um die Armlehnen, so fest, daß sich die Knöchel weiß wie Elfenbein abhoben. Seine Augen folgten gebannt der Schwertspitze, die auf seine Brust zuwanderte und direkt über dem Herzen zu stehen kam.
Achilleus stieß zu. Eetion rang nach Luft. Er starrte an sich hinunter, als könne er nicht glauben, daß sich das Metall tatsächlich in seine Brust gebohrt hatte. Blut sickerte aus der Wunde und rann wie Rubinperlen an ihm herunter.
»Wurusemu kennt Euch nicht, aber sie sah Eure Taten!« stieß er hervor. Er hatte größte Mühe zu sprechen, und Achilleus mußte nahe herantreten, um die gekrächzten Worte zu verstehen. »Oh ja, Ihr werdet den Ahhiyawa große Schätze zu Füßen legen – und den Tod! Ja, den Tod werdet Ihr mitbringen, er wird auf Euren Schiffen mitreisen ... Die Schlange hat sich zwischen Euren Schätzen versteckt, und Ihr könnt sie nicht mehr – verjagen! Dieses Geschenk verdankt Ihr der Sonnengöttin von Arinna, auf daß – die Herren von – Ahhiyawa noch lange an sie – denken werden ... Die Schlange wird den Tod ausspucken! Über euch alle!«
Chryseis! durchfuhr es Achilleus. War es möglich, daß Eetion die Tochter des Apollon-Priesters meinte? Blut sprudelte aus Eetions Mund, während er versuchte, seine Worte zu formen.
»Und Ihr selbst – Ihr werdet nicht mehr ...«
»Das will ich nicht hören!« schrie Achilleus und riß das Schwert so heftig heraus, daß Eetion nach vorne kippte. Achilleus’ Kopf glühte, seine Schläfenadern pochten. Rede nur nicht weiter, nur nicht!
Aber Eetion schwieg; er sank in sich zusammen, der Glanz seiner Augen erlosch. Mit angehaltenem Atem stand Achilleus über den König gebeugt, bis er sich dessen Todes sicher glaubte. Dann säuberte er die Klinge mit dem Gewand des Toten. In seinem Kopf dröhnten Eetions Worte. Die Schlange! Er beschrieb ein Schutzzeichen gegen das Böse in der Luft. Hatte der König wirklich eine Prophezeiung – einen Fluch geäußert? Oder hatte er nur seinen Haß auf den Eroberer abladen wollen? Was es auch war, Achilleus konnte nichts dagegen tun. Und er würde Chryseis mitnehmen, wie er es beabsichtigt hatte. Er dachte nicht daran, sich von diesem Fluch einschüchtern zu lassen! Wenn er das Mädchen nicht anrührte, mochte nicht viel geschehen. Zumindest hoffte er das. Es konnte einfach nicht sein, daß seine Götter die Drohungen einer fremden Göttin duldeten! Und falls doch! Eetion hatte selbst gesagt, daß er dagegen machtlos war. Achilleus lief hinaus, ohne sich noch einmal umzudrehen. Am Palastausgang kam ihm Alkimedon mit ein paar Myrmidonen entgegen.
»Da bist du ja«, rief der Hequetas gutgelaunt. »Wir haben dich schon gesucht. Die Beute ist auf dem Weg zu den Schiffen, alles wartet nur noch auf dich!« Im Arm hielt er eine Frau, deren dünnes Leinengewand kaum etwas von ihren kräftigen Brüsten verbarg. »Es sind prächtige Stücke dabei«, schwärmte er, und Achilleus wußte nicht, ob er Gold oder dieses Mädchen meinte. »Jetzt fehlt nur noch ein anständiger Schluck. Die Beute ist zwar gut, aber der Wein lausig.« Er tätschelte das dralle Gesäß der Frau, die aufreizend kicherte. Zumindest ihr schien der Wein zu schmecken, denn sie hatte ihm offensichtlich reichlich zugesprochen.
»Keine Gefangenen, Alkimedon«, mahnte Achilleus. An sein Wort würde er sich halten, auch einem Toten gegenüber. »Du kannst dich mit der Frau vergnügen, die ich dir von meinem Anteil geben werde, wenn wir wieder in der Troas sind. Bis dahin behältst du deine Finger bei dir.«
Alkimedon seufzte und gab der Frau einen Klaps, daß sie davonstolperte. »Die schöne Rothaarige aus Lyrnessos würde mir gefallen. Du weißt schon, die Hethiterin. Aber sie ist ja das Ehrengeschenk für den Herren Agamemnon.«
Er verzog das Gesicht und drehte sich zu den wartenden Myrmidonen um. »Nun seht euch den König bloß an!« rief er respektlos. »Sieht so einer aus, der gerade eine Stadt erobert hat? Nun komm schon, Achilleus! Deine Männer wollen am Strand noch ein bißchen feiern, bevor sie sich wieder in Poseidons Element begeben. Das haben sie verdient, auch wenn sie ... « – er warf den Kopf zurück und lachte schallend –»... heute keinen Finger gekrümmt haben, die Faulpelze!«
Alkimedons erfrischend derbes Auftreten machte es Achilleus leichter, nicht mehr an das eben Geschehene zu denken. »Du hast recht«. Schwach lächelte er. »Komm, laß uns hier verschwinden. Wir haben in Kizzawatna nichts mehr verloren.«
Er lief an seinem Hequetas vorbei die Freitreppe hinunter. Die kühle Nachtluft schlug ihm entgegen und vertrieb die Hitze aus seinem Gesicht. Kräftig sog er die erfrischende Luft ein. Er fühlte sich plötzlich unbelastet von allem. Die Anstrengung der Reise – Eetions Tod – das alles schien ihm mit einem Mal sehr fern zu sein, als hätte ihm lediglich jemand davon erzählt. Ein Windstoß fuhr ihm durch das Haar. Er breitete die Arme aus und genoß das Streicheln des Windes. Beinahe spürte er so etwas wie eine seltsame Euphorie, aber nur beinahe und für einen winzigen Augenblick.
– Diese Stadt hatte keinen Namen.
Wer weit aus dem Landesinneren Asiens oder von den südlichen Inseln hierher an die Nordwestküste der Troas kam, um mit den achaiischen Feinden Handel zu treiben – denn das verringerte die Gefahr, von ihnen überfallen zu werden –, mußte sich beim ersten Anblick der Stadt schier erschlagen fühlen. Sie lag in einer langgezogenen Bucht, gesäumt vom Marschland zweier Flußmündungen; nicht weniger beeindruckend und verwirrend als die großen Küstenstädte, und ebenso gut besucht. Wer sie sah, dachte unwillkürlich, einer der Titanen habe sein Schwert hier fallenlassen. Tatsächlich erinnerte sie an eine lange, schmale Klinge. Die dem Land zugewandte Seite bestand aus einer gewaltigen Ansammlung von Wohnhäusern, Baracken, Ställen und Lagerhallen, von einem Erdwall geschützt; die andere längs des Meeres aus drei gestaffelten Reihen von Schiffen, die auf Pfähle gestützt standen. Und der Mittelrippe eines Schwertblattes gleich durchzog eine breite Straße die Stadt von einem Ende zum anderen.
Bedrohlich und dunkel wie die Rippen eines Seeungeheuers, welches das Meer vor undenklichen Zeiten ausgespuckt hatte, schien diese riesige Flotte auf das Ende der Zeit zu warten. So riesig und ungewöhnlich sie auch für ihre Besucher aussah, so alltäglich und selbstverständlich war sie für die hunderttausend Menschen, die sie an diese Küste getragen hatte. Aufgedockt hatten die Schiffe ihre Aufgabe verloren, aber dennoch – oder gerade deswegen – genossen sie eine Verehrung, wie sie sonst nur eigenem Grund und Boden zuteil wurde. Die Menschen hofften, daß diese Schiffe sie wieder glücklich über das Meer bringen würden. Bei klarer Sicht konnte man vielleicht hundert von ihnen zählen, dann verschwammen sie zu einem einzigen unendlichen Band, das sich dem Horizont entgegenstreckte.
Diese Stadt war namenlos. Sie war das Heerlager der Achaier. An den provisorischen Kais drängten sich Handelsschiffe aus aller Herren Länder, die der Ruf der achaiischen Städteplünderer nicht abschreckte. Ohne Pause lotsten die Rufe der Steuermänner Handelsfahrer, deren bedenklicher Tiefgang reiche Ladung verriet, an das Ufer. Beamte nahmen die Waren entgegen und katalogisierten jede Kotyle Getreide und jede Doppelmine Metallwaren.
Unbeeindruckt vom Anblick der über tausend Kriegsschiffe stand der Herr der Stadt auf einer Anhöhe und ließ seinen Blick über das geschäftige Treiben wandern. Die Rufe der Seeleute, das Rauschen der Brandung und das Knattern der Segel drangen nur schwach an die Ohren Agamemnons von Mykene. An einem solchen Tag war nur hier oben die nötige Ruhe, Zeus Metietes, dem Beratenden, ein Opfer darzubringen. Das einzig deutliche Geräusch war der rasselnde Atem eines gefesselten Widders auf dem Altarblock. Die lange, schmale Form des Opferblocks erinnerte noch an seinen ursprünglichen Zweck; es hatte allerdings seit langer Zeit keine Menschenopfer mehr gegeben. Der Priester, der neben dem Altar stand, war zu jung, um dergleichen noch selbst erlebt, geschweige denn durchgeführt zu haben. Nur Geschichten erzählten noch davon. Sein rotes Gewand war mit zahllosen Ornamenten durchwebt, so daß die Blutspritzer der geopferten Tiere nicht mehr auffielen. Er forderte Agamemnon auf, das Ritual fortzuführen. Agamemnon ergriff einen Opferdolch und nahm seinen Platz neben dem Altarblock ein. Er trug für dieses Opfer lediglich ein weißes Hüfttuch, das ihm bis zu den Knien reichte, dafür jedoch reichlich Goldschmuck. Am auffallendsten war eine große Halskette in Form von aneinandergereihten Falkenpaaren. Aber nicht nur der goldene Prunk verriet, daß er der Großkönig war, sondern auch sein herrischer, befehlsgewohnter Augenausdruck.
Sein Blick wanderte an dem Priester vorbei ins Landesinnere. Die weite Ebene dort war einst ein fruchtbares Ackerland gewesen, nun aber lag sie schon lange brach, von unzähligen Schlachten zertrampelt. In der Luft hing der allgegenwärtige Geruch von Blut und Metall. Über das besudelte Land hinweg blickte Agamemnon auf die mächtigen dunklen Mauern der Stadt Troia, von denen es hieß, Apollon und der Erdenerschütterer Poseidon hätten sie erbaut. Dahinter erhoben sich die weißen Flachdächer der Tempel und Paläste, die ihm höhnisch zuzuwinken schienen. Troia war sein Ziel, nicht die Herrschaft über ein stinkendes Schiffslager.
Er fragte sich, was sein verstorbener Vater Atreus sagen würde, wüßte er, daß seine beiden Söhne es in neun Jahren nicht geschafft hatten, diese Stadt – diese eine nur! – zu erobern. Der eine war phlegmatisch und gab sich mit einem kleinen Königreich zufrieden, das ihm seine Heirat mit einer Thronerbin eingebracht hatte. Und dessen einzige Reaktion darauf, daß sie einem troianischen Königssohn hinterhergelaufen war, darin bestand, das Trinken anzufangen. Was Menelaos fehlte, besaß Agamemnon im Überfluß: Ehrgeiz. Monate hatte er gebraucht, um Menelaos aus seiner Lethargie zu reißen, ihn zu überreden, endlich wieder fremde Städte zu erobern. Das hatte sie Atreus gelehrt. Lange schon schielte er auf diese reiche Stadt, die aufgrund ihrer günstigen Lage zu einer blühenden Handelsmetropole geworden war. Die Hellespontmeerenge, das Nadelöhr zum Pontos Euxeinos, hatte Troia mehr Tributgelder verschafft, als die Stadt verschwenden konnte, und so war der Wohlstand im Handumdrehen gewachsen. Die troianischen Krieger hatten nichts weiter zu tun, als die Meerenge zu überwachen und in den Städten und Dörfern der Troas den Zehnten der Ernten einzutreiben.
Was Agamemnon an Menschen und Material in Bewegung gebracht hatte, um Troia dem achaiischen Herrschaftsbereich einzuverleiben, war beispiellos. Aber die Stadt war auch ein einziges Schatzhaus, das nur darauf wartete, aufgebrochen zu werden. Der Krieg hatte vieles gekostet, doch die Kataloge der verbliebenen Güter füllten wohl noch immer einen ganzen Flügel des Königspalastes. Kaum weniger umfangreich allerdings waren die Kataloge, die aufführten, was die weit über tausend Schiffe über das Meer gebracht hatten. Doch trotz allem standen sie noch immer hier, vor den Toren.
Agamemnon hob den Dolch. Das Tier schien sein nahes Ende zu ahnen, denn es zitterte am ganzen Körper. Er mußte seine Finger tief in die Hautfalten bohren, um den gehörnten Kopf halten und auf den Block drücken zu können. Wie kleine Schlangen wanden sich seine Armmuskeln unter der Haut.
Der Priester streckte die Hände zum Himmel und sagte: »Zeus Kronide, Wolkenversammler, Berater der Menschen, wir bitten Dich, segne und erhalte die Einigkeit der Könige. Lasse Dein Angesicht über ihnen leuchten und schaue wohlwollend auf ihr Tun. Ehre sei Dir durch dieses Opfer.«
Agamemnon stieß den Dolch in die Kehle und trieb die Klinge nach beiden Seiten, daß das Blut nur so herausspritzte. Verhaltener Beifall erklang von den Zuschauern, als er die blutige Hand hob, und verstummte sofort wieder bei der schweigengebietenden Geste des Priesters. Wahrend ein Adept seine Hände säuberte, beurteilte Agamemnon mit erfahrenem Blick die Wunde. Sie sah eher nach den reißenden Fängen eines Raubtiers aus als nach einer scharfen Klinge. Mißbilligend schüttelte er den Kopf. Er haßte unsaubere Arbeit.
Mit unbeweglicher Miene begutachtete der Priester das Wundmal und sprengte einige Tropfen Weihwasser auf das tote Tier. Seufzend wandte Agamemnon seine Augen davon ab. Er sah hinüber zu den Männern, die ihre Köpfe andächtig gesenkt hielten. Unter ihnen entdeckte er einige, die wie er goldene Königsketten trugen. Zwei von ihnen gehörten zum engsten Beraterkreis: Odysseus von Ithaka und Nestor von Pylos. Wie immer, wenn Agamemnon diese beiden sah, konnte er kaum glauben, daß Nestor der wesentlich ältere war. Er war von kräftiger, durchtrainierter Gestalt. Nur das stumpfe Grau seines langen Haarzopfes und sein zerfurchtes Gesicht ließen sein wahres Alter ahnen. Im Vergleich zu ihm war der zwanzig Jahre jüngere Odysseus geradezu schmächtig, ein kleiner drahtiger Mann mit den ledernen Händen eines Bogenschützen.
Ja, Agamemnon konnte sich rühmen, die Könige aller Stadtstaaten Achaias zu Verbündeten gemacht zu haben, auch wenn er dafür Jahre benötigt hatte. Noch mehr konnte er sich rühmen, sie weitere neun Jahre zusammengehalten zu haben. Er war ambitioniert und zur richtigen Zeit auch skrupellos. Er wußte, was er wollte und was er dafür tun mußte. Darum wohl hatten ihn die achaiischen Könige zu ihrem Anführer gewählt. Und sie folgten ihm noch immer – mehr oder weniger.
Einen gab es, der immer seltener einen Befehl des Königs von Mykene ohne bissigen Kommentar hinnahm. Dessen Sticheleien auf die langwährende Erfolglosigkeit immer heftiger wurden. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Agamemnon noch geglaubt, daß jener ihm den Oberbefehl neidete. Schließlich hatte er erkannt, daß diesen Mann anderes dazu brachte, an seinem eigenen Treueid zu rütteln, den er wie alle Könige Agamemnon geschworen hatte. An jeden der anderen hätte der Herrscher von Mykene normalerweise keinen Gedanken verschwendet. Dazu war seine Macht zu groß. Aber nichts, was den König von Phthia betraf, konnte man als normal bezeichnen. Er war so schwer faßbar wie ein Typhoidenwind. Es hieß, Troia könne nie ohne ihn erobert werden; und keine Prophezeiung war einfacher und realistischer als diese.
Agamemnon hob auf den Wink des Priesters hin die Arme und sagte laut: »Herr, Zeus Metietes, ich frage Dich: Wird die Verbindung der Stadtstaaten halten, bis Troia erobert ist? Wann wird das endlich soweit sein? Was verlangst Du, um uns Deine Unterstützung zu gewähren?« In Wahrheit beschäftigten ihn ganz andere Fragen.
Auf diese bekam er ohnehin keine Antwort. Warum war er, der reichste und mächtigste aller Stadtstaatenkönige, von einem anderen abhängig? Von einem einzigen und seinem lächerlichen Kontingent von gut zweitausend Myrmidonen? Wie konnte er Achilleus in seine Schranken weisen, ohne den achaiischen Bund zu gefährden? Warum, zum Hades, waren die Verhältnisse so, wie sie waren? Agamemnon preßte grimmig die Zähne zusammen. Die Nachrichten über Achilleus’ Eroberungen waren mit den fremden Handelsschiffen bereits hierhergelangt – besonders über die Art und Weise, wie er diese Erfolge errungen hatte. Auf der Straße und in den Schankbuden redete man von nichts anderem mehr, und alle warteten gespannt auf seine Rückkehr. Er fluchte lautlos. Als er Achilleus auf diesen Beutezug geschickt hatte, war es ihm nur um die nötigen Mittel gegangen, um diesen teuren Krieg fortsetzen zu können. Es war keineswegs seine Absicht gewesen, dem Myrmidonenkönig Gelegenheit zu geben, seinen Ruhm zu mehren.
»Herr, nimmst Du das Opfer an?«
Der Priester legte feierlich den Kopf in den Nacken und richtete seine Augen zum Himmel. Er öffnete den Mund – und erstarrte. Stirnrunzelnd folgte Agamemnon seinem Blick. Was war das? Zwei Falken näherten sich dem Altar und ließen sich kreischend auf dem Tierkadaver nieder. Der Priester mußte einen Schrei unterdrücken. Agamemnon schrak zurück, als einer der Raubvögel seine Schulter berührte. Sie interessierten sich jedoch nicht für die Anwesenden, sondern machten sich gierig an der Halswunde des Widders zu schaffen, hackten in das Fleisch und zerrten rote Brocken heraus. Mit ohrenbetäubendem Geschrei hüpften sie auf dem Tierkörper herum und begannen, sich um die Beute zu streiten. Sie beharkten sich und fügten sich gegenseitig mit Krallen und Schnäbeln Wunden zu. Schließlich hoben sie sich in die Luft, um dort ihren Kampf fortzuführen. Federn und Blutstropfen fielen herab. Mehrere Male trennten sie sich, um mit um so größerer Wucht aufeinander einzustürmen, bis sie endlich schwer verletzt davonzogen. Ihr Kreischen hallte noch lange in Agamemnons Kopf nach.
»Ganz offensichtlich ...« – der Priester rang um Fassung – »... will Zeus das Opfer nicht haben.«
»Das sehe ich selbst«, sagte Agamemnon ungeduldig. »Aber was bedeuten die Falken? Das ist ein böses Vorzeichen! Wovor warnt mich Zeus?«
»Ich bin kein Vogelschauer«, erklärte der Zeus-Priester; er schien sich wieder gefangen zu haben. Er klatschte in die Hände. Sofort machten sich die Altardiener daran, den Platz zu säubern.
Der Kadaver wurde in ein Laken gewickelt und zum Strand getragen, um das verschmähte Opfer dort zu verbrennen.
Wozu taugst du überhaupt, wollte Agamemnon fragen, aber er schluckte diese Respektlosigkeit gerade noch hinunter. Nestor trat neben ihn. »Kalchas kann uns sicher Antwort darauf geben«, sagte er mit seiner rauhen Stimme. »Du solltest nach ihm schicken.«
»Eigentlich ist das unnötig.« Agamemnon machte eine wegwerfende Handbewegung. Er wollte Nestor nicht zeigen, daß er ernstlich beunruhigt war. »Es kann nichts anderes bedeuten, als daß die Verbindung der Stadtstaaten am Reißen ist, und ich mich darum kümmern muß, daß –«
Nestor unterbrach ihn kopfschüttelnd. »Oh, du bist unter die Deuterpriester gegangen! Aber ganz im Ernst, das ist eine Warnung, die wir nicht herunterspielen sollten. Da steckt mehr dahinter als die übliche Frage, ob und wie lange der Bund noch hält. Die stellen wir uns doch schon, seit wir in die Troas gekommen sind!«
Nachdenklich beobachtete Agamemnon, wie die Adepten Rhytongefäße mit Weihwasser heranschleppten, um den blutverschmierten Opferblock zu reinigen. »Also gut«, nickte er, »Kalchas soll kommen.«
Kalchas war ein schlanker, muskulöser Mann, dem man die fehlende Erfahrung im Umgang mit dem Schwert nicht ansah. Ursprünglich hatte er als Zeus-Priester diesen Feldzug begleitet. Mittlerweile gehörte er keiner Priesterschaft mehr an. Als Mitglied eines Priesterordens könne er seine Fähigkeiten nicht frei entfalten, sagte er. Andere behaupteten, er hätte durch seinen allzu lockeren Lebenswandel seinen Anspruch auf die Priesterwürde verwirkt. Den Königen war das gleichgültig, denn als Zeichendeuter war er unübertroffen. Diesmal jedoch zuckte er nur mit den Schultern und erklärte, er hätte es mit eigenen Augen sehen müssen, um dieses zweifellos ungünstige Omen zu deuten. Nestor wandte ein, daß Zeus sicher nur dann ein solches Zeichen schicken würde, wenn man es auch deuten könne, worauf Kalchas ein paar hämische Seitenhiebe auf den Priester verteilte. »Er ist offensichtlich nicht qualifiziert genug, eine so bedeutende Zeremonie zu leiten, bei der man mit derartigem immer rechnen muß.«
»Da hast du recht, Kalchas«, sagte Agamemnon böse. »Womit verdient er eigentlich sein Brot?«
Der Zeus-Priester schnappte empört nach Luft. »Ihr vergeßt Euch, Wanax. Denkt daran: beleidigt Ihr mich, beleidigt Ihr auch die Götter.«
»Wenn schon!«
»Ich hatte bisher immer geglaubt, Achilleus sei der einzige, dem die Ehrfurcht vor den Göttern abhanden gekommen ist. Wollt Ihr es ihm gleichtun? Erwartet nicht, daß Zeus das ungestraft läßt!«
»Leere Worte! Haben sie Achilleus je zur Rechenschaft gezogen?«
»Der Tag wird kommen.«
»Hoffentlich erlebe ich ihn noch!«
Nestor hob beschwichtigend die Hände. »Ihr keift herum wie zwei alte Marktweiber, und das vor den Königen. »Worauf spielst du da an?« fragte er den Zeus-Priester, der Agamemnon noch einen erbosten Blick zuwarf, bevor er antwortete.
»Man sagt, wenn die Götter durch Menschen ihren Willen verkünden wollen, bevorzugen sie solche, die sich an Weihrauchdämpfen berauschen ... « Sein Seitenblick auf Kalchas sprach Bände. »Achilleus hat behauptet, viele Priester benutzen das als Vorwand, um ihre Süchte zu pflegen.«
»Wann soll er das denn gesagt haben?« fragte Agamemnon neugierig und wesentlich freundlicher.
»Ja ... Kurz, bevor er nach Süden zog. Das war wohl ein Seitenhieb auf den Hohenpriester des Apollon, der einen Adepten zu einem Händler in den myrmidonischen Teil des Schiffslagers schickte, um ein Gewürz zu holen. Jedenfalls traf Achilleus zufällig auf den Adepten und sagte ihm das ins Gesicht – mit ein paar Beleidigungen über den Gott, die ich hier an diesem geheiligten Ort nicht wiedergeben möchte.« Der Priester beschrieb ein Schutzzeichen.
»Um Kronos’ willen«, rief Nestor entsetzt. »Woher weißt du das?«
»Nun, der Hohepriester kam zu mir und hat es mir brühwarm erzählt. Er forderte mich in meiner Eigenschaft als Zeus-Priester auf, ihn zur Rede zu stellen, aber ...«
»... du hast Angst vor ihm«, beendete Agamemnon den Satz.
Der Priester setzte seine erhabenste Miene auf. »Ich denke, das ist vielmehr Eure Aufgabe, o Wanax.«
Nestor schüttelte sorgenvoll den Kopf. »Das ist freilich nicht das Schlimmste, das er sich bisher geleistet hat. Aber wohin soll das noch führen?« Er legte grübelnd seine Stirn in Falten. »Und warum Apollon? Er hilft den Troianern, darum liebt ihn niemand von uns besonders, doch das kann nicht der einzige Grund sein, weshalb Achilleus sich so ... blasphemisch! ... verhält. Eines Tages vergißt er noch, daß der Gegenstand seines Hasses ein Gott ist! Wir können nicht tatenlos zusehen ...«
»Sicher nicht«, pflichtete ihm Agamemnon bei. Entschlossen verschränkte er die Arme vor der Brust. »Wenn er zurückkommt, muß er sich rechtfertigen.« Er würde ihm schon zeigen, wer das längere Zepter hatte!
Das Treiben am kizzawatnischen Strand legte sich allmählich. Die Beute aus Theben war im wesentlichen auf den Schiffen verstaut. Achilleus hatte seinen Vorsatz wahr gemacht und eines der beiden Pferde, die den Prunkwagen des thebanischen Königs gezogen hatten, dem Gott Poseidon geopfert. Das zweite, einen besonders prächtigen, fuchsfarbenen Hengst, versuchte er eigenhändig auf sein Schiff zu ziehen.
Er keuchte vor Anstrengung, um das Pferd zu bewegen, auf die federnde Laufplanke zu treten. Achilleus war zwar stark, aber nicht übermäßig. So brauchte er viel Zeit und die Hilfe Alkimedons, der belustigt mit der Rute nachhalf, um den Fuchs auf das Schiff zu bekommen.
»Was willst du überhaupt mit diesem Pferd?« fragte Alkimedon. »Du kannst es weder allein vor deinen Streitwagen spannen, noch zu deinem Doppelgespann dazu. Es könnte dir nur als Opfertier oder Reitpferd dienen.«
»Als Reitpferd?« wiederholte Achilleus verständnislos. »Auf einem derart großen Pferd kann man doch nicht reiten!« Tatsächlich war dieser Hengst nicht größer als die troianischen und dardanischen Pferde, welche die Achaier als Zugtiere ihrer Kampfwagen benutzten. Doch daß man auf ihnen reiten konnte wie auf den kleinwüchsigen achaiischen Ponys, schien Achilleus undenkbar.
»Manche Völker tun das«, behauptete Alkimedon.
»Ich glaube das erst, wenn ich es sehe! Bei den Troianern jedenfalls und deren Hilfsvölkern habe ich das noch nie beobachtet.«
Achilleus ließ die Planke hochziehen und gab das Kommando zum Aufbruch. Die Befehlshaber der Nachbarschiffe trugen den Ruf weiter, bis von allen vierzig Schiffen die Taue gekappt waren, und sie westwärts in See stachen. Er hatte Poseidon geopfert, und das Wetter konnte nicht besser sein. Dennoch wollte er sich allein darauf nicht verlassen. Er ging zum Bug seines Schiffes, wobei er sich an den mit öligen Planen abgedeckten Kisten vorbeizwängen mußte, und lehnte sich über die Reling. Mit atemberaubender Geschwindigkeit schoß das Wasser unter ihm vorbei. Gischtspritzer trafen sein Gesicht.
»Thetis«, murmelte er halblaut. »Thetis, komm.«
Achilleus beugte sich noch tiefer. Fast konnte er die Wellen berühren, denn das Schiff lag aufgrund seiner Ladung äußerst tief. Eine Schaumkrone spritzte auf und benetzte seine Schulter. Die Berührung des Wassers empfand er beinahe als zärtlich. Die Gischt fiel nicht zurück auf die Wellen, sondern blieb wie festgefroren in der Luft. Erfreut sah Achilleus, wie sie sich zu Nebel verdichtete, der in der Sonne in allen Farben glitzerte und schließlich die Gestalt einer Frau annahm. Ihre Haut glänzte so weiß wie die Gischt und ihre schrägen Augen grün wie Smaragde. Ihr kurzes Haar war von leuchtendem Blond und mit zahllosen Perlen geschmückt. Ein schleierfeines Gewand bedeckte ihren fast knabenhaften Körper nur notdürftig. Sie lächelte ihm zu und streckte die Arme aus, als wolle sie ins Schiff steigen, aber sie schwebte bewegungslos über dem Wasser. Achilleus nahm ihre eiskalten Hände in seine. Hätte sie jemand beobachten können, so wäre ihm die erstaunliche Ähnlichkeit beider aufgefallen, aber Achilleus wußte, er allein sah sie.
»Schön, daß Du da bist«, flüsterte er. »Als wir uns das letzte Mal trafen, hast Du mich lange warten lassen.«
Sie lachte, und es klang wie das Klirren von Eiszapfen.
DARAN KANN ICH MICH GAR NICHT ERINNERN. ICH BIN DOCH IMMER BEI DIR, WENN DU MICH BRAUCHST.
»Drei Tage war ich am Strand und habe auf Dich gewartet.«
OH, WAS SIND SCHON DREI TAGE. Sie streichelte begütigend seine Hand. WAS FÜR EUCH EIN TAG IST, IST IN WAHRHEIT NUR EIN AUGENBLICK. HATTE ICH DIR NICHT ERZÄHLT, WAS MICH DAVON ABHIELT, SOFORT ZU DIR ZU KOMMEN? Jetzt schwebte sie über ihn hinweg und ließ sich sanft wie eine Feder neben ihm auf der Reling nieder. Sie küßte seine Wange.
»Nein, das hast Du nicht. Was war es?« Achilleus strich sich über die kalte Wange. Es interessierte ihn nicht, doch fand er es angemessen, ihr auch einmal zuzuhören. Sie sahen sich nicht sehr oft. Meist war er es, der seine Sorgen ausschüttete und ihre Geduld in Anspruch nahm.
ZEUS DER KRONIDE RIEF MICH ZU HILFE. DIE HIMMELSKÖNIGIN HERA WOLLTE IHN MIT EINEM ZAUBER BETRÜGEN. SIE ZÜRNT IHM, WEIL ER NOCH IMMER NICHT ZULÄSST, DASS IHRE GELIEBTE STADT MYKENE HERRIN ÜBER TROIA WIRD. ICH BRACHTE BRIAREOS ZU IHM, DEN RIESEN, DER IN DER TIEFE DES MEERES HAUST. ER SETZTE SICH NEBEN ZEUS, UND KEINER DER GÖTTER WAGTE, SICH IHM ZU NÄHERN. Sie wiegte nachdenklich den Kopf. DAS IST SCHON VIELE JAHRE HER.
»Aber Mutter«, widersprach Achilleus kopfschüttelnd, »wir sahen uns erst im Monat Plowistos, kurz bevor ich die Troas verließ.« Wie die Götter die Zeit empfanden, würde er nie begreifen.
KANN ICH DIR HELFEN?
»Ich möchte ohne Schwierigkeiten in die Schiffsstadt zurück. Kannst Du Poseidon bitten, mich nicht daran zu hindern?«
HÄTTE ER DENN GRUND DAZU?
»Ich hoffe nicht, ich meine nur, daß ich mich auch nicht an alles erinnern kann, womit ich mir den Zorn irgendeines Gottes auf geladen habe.«
DU HAST IHM GEOPFERT UND MUSST NICHTS BEFÜRCHTEN.
»Ich danke Dir.«
DICH BEUNRUHIGT DIE FREMDE SONNENGÖTTIN, JA?. DENKE NICHT MEHR DARAN. LETZTEN ENDES GEHT ALLEIN ZEUS’ BESCHLUSS IN ERFÜLLUNG. HÖRE NUR AUF MICH. ES GIBT NICHT VIELE GÖTTER, DIE ES GUT MIT DIR MEINEN, DAS WEISST DU. ABER BRINGE DIE OPFER DAR UND BETE, WIE ES SICH GEBÜHRT.
Sie ließ sich von der Reling gleiten. Bevor ihre Füße die Wasseroberfläche erreichten, verwandelte sie sich in unzählige Tropfen, die langsam auf die Wellen regneten.
Achilleus suchte nach der Holzkiste, in der Opfergerätschaften aufbewahrt wurden. Er fand sie unter einem Berg Kleider, holte einen Lederballen heraus und faltete ihn vorsichtig auseinander – er enthielt heilige Gerste. Opferte er schon anderen Göttern, so würde er auch seine eigene Mutter nicht vernachlässigen. Er warf ein Büschel Gerste ins Meer. Ihm entging nicht, wie ihn eine der Frauen dabei erstaunt beobachtete. Sie saß ein wenig entfernt auf einer der Truhen und gehörte zu den drei Gefangenen auf seinem Schiff. Sie und eine weitere würden Achilleus und Agamemnon als Ehrengeschenke bekommen, während die dritte, eine Sklavin, ihnen während der Fahrt zu Diensten sein mußte. Achilleus hatte sie vor einigen Wochen gefangengenommen, ihr jedoch bisher keine große Beachtung geschenkt. Dazu hatte ihm die Zeit und Ruhe gefehlt.
Von ihr war nicht mehr zu sehen als ein ebenmäßiges Gesicht mit hohen Wangenknochen und mandelförmigen nußbraunen Augen, denn sie hatte sich zum Schutz vor dem Fahrtwind in einen weiten Mantel gehüllt. Achilleus ging auf sie zu; er hatte den Eindruck, sie wollte ihm etwas sagen. Daß sie eine freundliche Unterhaltung mit ihm suchte, erwartete er allerdings nicht. Er hatte sie brutal geraubt, und ihr kühler Blick erinnerte ihn daran. Doch wie und wo, wollte ihm jetzt nicht mehr einfallen.
»Warum hast du das getan?« fragte sie in mühsamem Achaiisch.
»Was soll das heißen: Du?« erwiderte Achilleus barsch.
Sie zuckte zusammen. »Also gut. Warum habt Ihr das getan?«
»Ich habe einer Göttin geopfert für eine gute Reise. Woher kommst du?«
»Aus Lyrnessos.«
»Nein, ich will wissen, aus welchem Land du stammst. Du bist doch keine Mysierin?«
»Ich bin eine Hethiterin.« Stolz hob sie ihren Kopf. »Und du – Ihr seid Achilleus, vor meinen Augen habt Ihr meinen Mann erschlagen.«
Nun, das weiß ich jetzt, dachte er säuerlich. Aber seine Neugierde war geweckt. Er scheute sich nicht, sie ausgiebig zu betrachten. Ihre Haare wallten wie ein rostroter Wasserfall über ihre Schultern und umrahmten ihr schönes Gesicht. Daß er mehr von ihr jetzt nicht bewundern konnte, bedauerte er geradezu. Wie hatte er sie nur die ganzen Wochen übersehen können? Dunkel erinnerte er sich daran, immer nur diesen störenden Mantel gesehen zu haben. Ihr schienen seine deutlichen Blicke nichts auszumachen.
»Was seid ihr für ein merkwürdiges Volk?« fragte sie. »Was habt ihr für Götter, denen man die Opfer so achtlos ins Meer schleudern kann?«
Opfer waren gewöhnlich einem Zeremoniell unterworfen, das peinlichst genau eingehalten werden mußte. Achilleus wollte ihr nicht erklären, daß die mit der Opfergerste bedachte Göttin seine Mutter war, und es darum eines strengen Rituals nicht bedurfte. »Ich habe deine Frage nicht verstanden«, sagte er ausweichend und keineswegs wahrheitsgetreu. »Du kannst mit mir in deiner Muttersprache reden.«
»Nein danke«, erwiderte sie mit gepreßter Stimme. Sie sah an ihm vorbei und gab ihm so zu verstehen, daß sie nicht die Absicht hatte, noch weitere Worte mit ihm zu wechseln.
Achilleus ließ es dabei bewenden. Er bereute es fast, daß sie an Bord seines Schiffes war, wenngleich er das nicht ändern konnte. Die kostbarste Fracht gehörte auf das Schiff des Königs. Ihre Blicke lasteten auf ihm, wenn er über das Deck ging und den Männern Anweisungen gab. Sie zog sich in das kleine Zelt, das für die Frauen am Heck aufgestellt war, fast nur zum Schlafen zurück. Tagsüber saß sie auf einer der Kisten und beobachtete interessiert, was auf dem Schiff geschah. Chryseis dagegen ließ sich selten außerhalb des Zeltes sehen.