Читать книгу Achill. Held und Frevler - Sabine Wassermann - Страница 8

II.

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Das Wetter zeigte sich in den nächsten Wochen von seiner besten Seite, wie es ihm die Nereide Thetis versprochen hatte. Die Flotte segelte immer hart an der Küste. Felsige Klippen wechselten mit feinen Sandstränden ab, und manchmal sahen sie die Hütten und Zelte eines Fischerdorfes. Fremde Schiffe zogen es vor, einen großen Bogen um sie zu machen. Sie entdeckten nur wenige am Horizont. Die Boote der Fischer indes fürchteten sich nicht vor der großen Flotte und zwängten sich unter waghalsigen Manövern zwischen die Schiffe, um sie zu begrüßen und ein Stück zu begleiten. Dies hier war, seit sie die Insel Rhodos passiert hatten, ein seit langen Zeiten von Achaiern besiedeltes Gebiet.

Nach weiteren fünf Tagen Fahrt sahen sie die weißen Türme von Milet. Die Provinzhauptstadt der achaiischen Küstenkolonien war ein bedeutender Handelsknotenpunkt auf dem Weg vom Pontos Aigaion über die große Wasserstraße nach Osten. Wie eine Sichel schmiegte sie sich um ihren Hafen, der Kauffahrer aller Nationen aufnahm. Der Großteil der Flotte segelte weiter nach Norden, während acht Schiffe, auch das des Königs, hier ihre Reise unterbrachen, um frische Vorräte aufzunehmen. Offenbar hatte Nomion, der Koreter von Milet, mit Achilleus’ Ankunft gerechnet, denn am Anlegekai wartete eine Abordnung des Statthalters, um die Einladung in den Palast zu überbringen. Achilleus hatte dazu keine große Lust, aber er wollte nicht unhöflich sein, und so bedankte er sich. Er würde sich bei dem Koreter nur so lange aufhalten, wie das Eindecken der Schiffe mit Proviant dauerte. »Arbeitet zügig«, befahl er. »Wenn ich zurückkomme, möchte ich nicht noch warten müssen. Alle verfügbaren Männer sollen zum Markt gehen. Stellt für die Frauen nicht unnötig Männer zu ihrer Bewachung ab. Bindet sie einfach. Aber schön vorsichtig, ich will nachher keine Striemen sehen.«

Er zog sich frische Kleidung an und legte seine Königskette um, eine enganliegende Goldkette, von der lange, schmale Goldplättchen hingen. Als Geschenk für Nomion nahm er ein mit kostbaren Juwelen gefülltes Elfenbeinkästchen mit.

»Sehr beeindruckend«, sagte der Koreter und ließ die Smaragde, Saphire und Bernsteine aus dem Kästchen durch seine Finger rieseln. Er schien jedoch nicht im mindesten beeindruckt zu sein.

Sie saßen auf der Terrasse seines Palastes. Vor ihnen breitete sich ein prächtig angelegter Garten aus. Achilleus und Nomion waren die einzigen hier, wenn man von zwei Wachen an der Tür und einer ägyptischen Sklavin absah, die ihnen Wein nachzuschenken hatte. Der große Ebenholztisch, an dem sie saßen, hatte schier nachgegeben unter der Last der Speisen, trotzdem hatten beide fast alles verspeist. Achilleus konnte eine Menge essen, aber er hatte seinen Magen nach der schmalen Kost der letzten Monate gewaltig überschätzt. Nun fühlte er sich müde und benommen von dem üppigen Mahl. Der Koreter hatte ihn mühelos übertroffen und schien kein bißchen ermattet. Er war ein unglaublich fülliger Mann, mit den Schultern eines Stiers und einem gewaltigen Faßbauch, den er in schreiend bunte Gewänder gehüllt hatte. Doch sein flinker und wacher Blick aus dunklen Augen strafte die träge Masse seines Körpers Lügen. Ein in kunstvolle Locken gelegter, blauschwarzer Bart verriet seine karische Abstammung. Er hob den Goldkelch und prostete Achilleus zu.

»Große Siege habt Ihr da errungen«, schmeichelte er. »Seit Wochen erzählt man entlang der Küste von nichts anderem. Es ist mir eine große Ehre, mit dem berühmten Eroberer an einem Tisch zu sitzen und gemeinsam mit ihm zu trinken.« Die salbungsvollen Worte klangen leicht amüsiert. »Was sind Eure weiteren Pläne? Oh, entschuldigt, natürlich werdet Ihr mir Geringem sie nicht anvertrauen, doch zweifelsohne werden es ruhmreiche Vorhaben sein.« Er trank seinen Kelch in einem Zug aus. Sofort war die Ägypterin an seiner Seite, um nachzufüllen.

»Na, sagt schon, daß Troia noch steht«, brummte Achilleus mit weinschwerer Stimme. Sein Magen rebellierte, und er mußte gegen eine aufkommende Übelkeit ankämpfen. Er überlegte, wann er wohl gehen konnte, ohne den Koreter vor den Kopf zu stoßen.

»Darauf wollte ich wahrhaftig nicht anspielen«, widersprach Nomion nicht sehr überzeugend. »Ich werde mich hüten, die Könige zu kritisieren und ihren Zorn auf mein unwürdiges Haupt herabzubeschwören. Im übrigen sind mir die Umstände gar nicht so unrecht. Wie Ihr seht, fehlt es mir an nichts. Man kann sehr gut an diesen Zeiten – ah, verdienen. So ein Krieg bringt den Handel in Schwung, vorausgesetzt, man packt es richtig an.«

Schwätzer, dachte Achilleus und verfluchte seinen vollen Magen. »Ich möchte Wasser.«

Nomions Augen wurden groß. »Schmeckt Euch etwa der Wein nicht? Ihr machtet bisher nicht den Eindruck. Er ist aus Messenien, der beste, den ich habe. Bring Wasser«, befahl er der Sklavin, ohne sie anzusehen. »Selbst einen so ausgefallenen Wunsch kann ich erfüllen.«

»Ich möchte mich nicht lange bei Euch aufhalten«, sagte Achilleus und bemühte sich um eine gefestigtere Haltung. »Sicher gibt es noch etwas, das Ihr mir sagen wollt, sonst hätte ich mich über den wahren Grund Eurer Einladung getäuscht.«

»Das ist richtig«, bestätigte Nomion. »Es geht um das kizzawatnische Theben, das Ihr geplündert habt. Es könnte ein Fehler gewesen sein, sich an dieser Stadt vergriffen zu haben.«

»Ein Fehler? Unsinn. Was versteht Ihr schon davon?«

»Nicht annähernd so viel wie Ihr«, gab Nomion leicht spöttisch zu. »Doch war es notwendig, eine Stadt anzugreifen, auf die die Hethiter Anspruch erheben? Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie das so einfach hinnehmen werden.«

Achilleus erstarrte kurz. »Was haben die Hethiter mit diesem Theben zu tun? Kizzawatna ist doch nicht ...«

»Sie haben es ihrem Herrschaftsbereich einverleibt. Mir scheint, diese Kunde ist noch nicht bis in die Troas gelangt. Hier erfährt man so manches früher.«

Wenn das der Wahrheit entsprach, überlegte Achilleus, konnten daraus ernste Schwierigkeiten entstehen. Bisher waren sich Achaier und Hethiter aus dem Weg gegangen. Er hatte ganz bewußt nur die Küstenlinie Asiens überfallen, denn sie gehörte nicht zu dem gewaltigen Hethiterreich. Ein Unternehmen ins Landesinnere hätte ohnehin zuviel Zeit gekostet. Und nun sollte dieses kleine, bedeutungslose Theben ...? Die Ägypterin erschien mit einem Krug Wasser und schenkte ihm ein. Achilleus trank in großen Schlucken und fühlte sich sogleich etwas besser.

»Ich erwähne das nur, weil Milet der erste achaiische Vorposten sein könnte, an dem sie sich rächen«, hörte er den Koreter sagen. »Ich frage Euch, da Ihr es wart, der Theben überfallen hat: Könnt Ihr für die Sicherheit Milets garantieren?«

»Ich kann«, antwortete Achilleus ohne Zögern. Er hatte nicht die Absicht, sich von dieser Nachricht, die in seinen Augen nicht mehr als eine Vermutung war, beunruhigen zu lassen. Was scherten ihn jetzt die Hethiter oder Milet? Mit Genugtuung bemerkte er Nomions Verblüffung über seine schlichte Antwort. »Ich gehe jetzt zurück auf mein Schiff.« Sein Tonfall brachte deutlich zum Ausdruck, daß er zu diesem Thema nichts mehr sagen würde. »Gibt es sonst noch etwas?«

»Oh ja«, sagte Nomion und verlagerte schwerfällig sein Gewicht auf dem gepolsterten Sessel. »Ich möchte Euch bitten, meinem Herrn Agamemnon etwas zu geben. Etwas für ihn sehr Wertvolles.« Eine bedeutungsvolle Pause folgte seinen Worten. »Einen Sohn des Königs von Troia. Ein Freund aus Arisbe machte ihn mir zum Geschenk. Er kaufte ihn auf Lemnos. Das ist erst einige Wochen her, aber ich bin den Jungen schon leid. Obwohl er wirklich ein Schmuckstück ist!« Nomion lachte. Achilleus hätte das unverhohlen lüsterne Grinsen am liebsten mit dem Schwert aus des Koreters Gesicht gewischt.

»Grundsätzlich scheint es mir vernünftiger, ihn meinem König zu überlassen – es würde Agamemnon gewiß nicht gefallen, behielte ich ein so wertvolles Geschenk. Denn was mir gehört, gehört ihm, ist es nicht so? Wenngleich ich auch erwogen habe, mit dem König von Troia selbst ins Geschäft zu kommen«, gab er mit unverblümter Offenheit zu. »Aber so weit reichen meine Verbindungen nicht. Ich finde, es ist nicht zuviel verlangt, wenn ich angemessen entschädigt werde?!«

»Ihr scheint nicht gerade lange um die Dinge herumzureden«, erwiderte Achilleus. Seine Züge verhärteten sich. »Ich denke nicht daran, für Euch den Goldeintreiber zu spielen. Ich werde den Priamiden natürlich mitnehmen und ihn den Königen übergeben. Den Königen, hört Ihr? Und nicht Agamemnon. Was Ihr dafür von ihm haben wollt, das handelt gefälligst mit ihm selber aus!«

Abrupt erhob er sich. Er hatte genug von der Gastfreundschaft des Statthalters. Die Ägypterin brachte ein Tablett mit einem feuchten, dampfenden Handtuch. Achilleus säuberte sich die fettigen Finger und warf es auf den Boden. »Ich fahre noch in dieser Stunde ab«, erklärte er. »Sorgt dafür, daß die Geisel sofort zum Hafen gebracht wird, denn ich werde nicht warten!« Er ging, ohne Nomions Verbeugung abzuwarten. Leider hatte er keine Handhabe, um diesen widerwärtigen Mann in seine Schranken zu weisen. Sollte Nomion seinem Befehl nachkommen, konnte er noch froh sein. Milet war mykenisches Gebiet, und er verdankte es nur den Umständen, die der Krieg mit sich brachte, halbwegs respektvoll empfangen worden zu sein. Achilleus würde sich nicht darum kümmern, ob man den Priamiden tatsächlich an Bord seiner Schiffe brachte oder nicht. Das mochte ihm zwar wieder Ärger mit Agamemnon einbringen, aber die Zeiten waren längst vorbei, in denen er einer Auseinandersetzung mit dem König von Mykene respektvoll aus dem Weg ging und dessen Anordnungen ausführte in der Meinung, ein Mann wie dieser müsse zwangsläufig von Königtum und Kriegsführung mehr verstehen. In dem Maße, wie Achilleus von Agamemnon gelernt hatte, durchschaute er auch dessen Unzulänglichkeiten. Er hielt ihn jedoch noch immer für einen hervorragenden Mann, was die Führung dieses Krieges betraf. Er selbst verspürte dazu keine allzu große Lust – der Wunsch nach Macht war es nicht gewesen, weshalb er der achaiischen Allianz beigetreten war. Nach wie vor würde er Agamemnon Folge leisten, trotz der Spannungen zwischen ihnen; und auch, wenn er nicht verstand, warum sich dieser solche Statthalter wie Nomion hielt.

Achilleus’ Schiff stach als erstes der verbliebenen acht in See. Der Wind wehte immer noch günstig, und so schossen sie pfeilschnell immer in Sichtweite der Küste nach Norden. Auf seinen Befehl ging ein Myrmidone in das Zelt, um die Fesseln der Frauen zu lösen. Sofort trat die Hethiterin heraus und wankte auf Achilleus zu, der hinter dem Zelt am Heck stand. Sie mußte sich an der Reling abstützen. Das schwankende Schiff hatte ihr verräterische Blässe ins Gesicht gejagt.

»Ich würde nicht ausgerechnet Euch fragen«, sagte sie schwach, »wenn mir nicht so elend wäre, und ich diesen merkwürdigen Dialekt Eurer Männer verstehen würde, aber ... Wann sind wir endlich da?« Seufzend ließ sie sich auf einer Truhe nieder.

Achilleus bemerkte lächelnd, daß sie ihren anfänglichen Stolz ihrer Übelkeit hatte opfern müssen. »Wenn alles gutgeht, in zwei Wochen – spätestens«, fügte er hinzu, als sie entsetzt aufstöhnte. »Du machtest bisher nicht den Eindruck, als sei eine Schiffsreise für dich beschwerlich.«

»Was glaubt Ihr, warum ich immer draußen sitze? Im Zelt ist es so stickig, daß ich es kaum aushalte«, sagte sie gequält. »Wir sind nun einmal kein Seefahrervolk.« Schweiß glitzerte auf ihrer Stirn. Trotzdem legte sie ihren Mantel nicht ab, vielleicht um sich vor dem Fahrtwind zu schützen. Plötzlich hielt sie sich die Hand vor den Mund und würgte. Ihr ohnehin schon bleiches Gesicht wurde aschfahl. Tränen traten in ihre Augen.

»Ich denke, ich kann dir helfen.« Achilleus ließ sich einen seidenen Schal bringen, warf ihn über die Reling ins Wasser und zog ihn wieder heraus. Abwehrend wich sie zurück, als seine Hand sich ihrer Stirn näherte, ließ es dann aber zu, daß er ihr mit dem nassen Tuch über das Gesicht strich. Augenblicklich kehrte ihre normale Wangenfarbe zurück, und ihre zuvor trüben Augen wurden klar. Ihre Reaktion darauf war jedoch eine andere, als er sich erhofft hatte. War sie zuvor schon abweisend, so zeigte sie nun auch noch deutliche Furcht. Sie wollte aufstehen, aber Achilleus stellte sich so, daß sie ihn zwangsläufig auf dem Weg ins Zelt berühren mußte. Wollte sie das nicht, mußte sie sitzen bleiben. Unschlüssig sah sie sich um.

»Wie habt Ihr das gemacht?« fragte sie schließlich.

»Ich habe nichts gemacht. Es war die Göttin, der ich geopfert hatte.«

Ihre Augen weiteten sich. »Eine Göttin? Ja, ich glaube Euch. Man erzählt sich viele Geschichten über Euch.« Achilleus zuckte nur mit den Achseln.

»Jedenfalls bin ich froh, daß ich dieser Göttin Dank schulde und nicht Euch. Ich kann es noch gar nicht fassen. Ich habe sogar wieder Hunger.«

Erfreut schlug er den Zelteingang auf und befahl die Dienerin heraus. »Deine Herrin möchte essen!« Die Frau holte eilig getrocknetes Obst und Brot aus einer Kiste und reichte es der Hethiterin, die beinahe gierig Zugriff. Vermutlich hatte sie während der ganzen bisherigen Reise nur sehr wenig gegessen.

»Wie ist eigentlich dein Name?« fragte Achilleus, als sie satt war und sich Wasser reichen ließ.

»Briseis.«

»Und wie kommt eine Hethiterin nach Lyrnessos?«

»Ich stamme aus Alischar«, antwortete sie bereitwillig. »Das ist eine Stadt im Land der Hatti. Mein Vater ist dort Statthalter und gehört zur Tulia, dem Rat des Großkönigs. Vor einigen Jahren brachte er mich ins Assuwaland, um mich dort mit dem König von Lyrnessos zu verheiraten. Mynes, der König, bezahlte viel für mich. Er hoffte, sich mit dieser Verbindung des Schutzes und der Unterstützung der Hethiter zu versichern.« Sie lachte bitter. »Wie man sieht, hat es ihm nichts geholfen! Ich selbst bedeutete ihm kaum etwas. Er behandelte mich nicht gut und nicht schlecht: Er ließ mich fast immer allein. Ich kann ihm deswegen nicht einmal einen Vorwurf machen. Er sprach kaum ein Wort Hethitisch wie fast alle in seinem Haushalt; und ich verstehe seine Sprache nicht. Mynes lebte nur in seiner Angst vor den Ahhiyawa. Wie auch immer, dort war ich Königin, jetzt bin ich Sklavin. Ich habe mich nicht unbedingt verschlechtert, auch wenn es sich so anhören mag.« Sie warf ihre roten Haare zurück und sah ihn herausfordernd an. »Jetzt gehöre ich eben dem, der meinen Mann erschlagen hat. Zumindest kann er mich heilen, sollte es mir einmal schlechtgehen – auch wenn er ein Mörder ist!«

Achilleus zuckte unmerklich zusammen. Sein erster Gedanke war, sie scharf zurechtzuweisen. Doch er beherrschte sich. Immerhin war sie wahrscheinlich das Ehrengeschenk für Agamemnon. Und es gefiel ihm, daß ihr Stolz stärker war als ihre Furcht. Er hatte genug von den unterwürfigen Dingern, die von Zuneigung faselten und ihm jederzeit zu Willen waren. Noch nie hatte er sich eine Frau erst erobern müssen; schon in Phthia nicht, wo ihm Dienerinnen und Adlige gleichermaßen vielsagende Blicke zugeworfen und eindeutige Angebote gemacht hatten. Seit er in der Schiffsstadt war, mußte er sich mit Sklavinnen zufriedengeben. Ihnen zog er manchmal sogar noch die Schankdirnen vor, die sich angesichts klingenden Goldes nicht darum scherten, wer er war oder was er getan hatte.

»Du irrst dich, wenn du meinst, du gehörst mir«, sagte er. »Du und Chryseis, ihr seid eine besonders kostbare Art von Kriegsbeute. Ein Geras – ein Geschenk.« Er suchte nach einem passenden hethitischen Wort, fand jedoch keines. »Es ist die größte Auszeichnung, die sich ein Krieger erwerben kann. Ein Preis, der ihm verliehen wird, eine Ehrbezeugung. Es ist das Wertvollste, das seine Eroberungen und Plünderungen eingebracht haben.«

»Eine Frau?«

»Nicht einfach eine Frau. Eine einzigartige Frau, schön wie der Mond und wertvoll wie die Sonne. Eine Königin. Eine Prinzessin.«

»Und wenn er diese Frau nicht findet?«

»Findet er sie nicht, verdient er sie auch nicht.«

Briseis schüttelte verständnislos den Kopf. »Solche Bräuche können nur einem kriegerischen Volk einfallen. Wenn ich nicht Euch gehören soll, wem dann?«

»Agamemnon von Mykene.« Mit großer Sicherheit, fügte er in Gedanken hinzu. Irrte er sich, oder sah er eine Spur von Enttäuschung in ihrem Gesicht aufflackern?

»Ich weiß, wer das ist«, sagte sie gedehnt. »Aber wenn ich das richtig verstanden habe, muß man sich sein Geschenk verdienen?«

»Ja, das ist wahr. Ich bekomme ein Geras, weil ich es mir in diesem Feldzug erarbeitet habe. Agamemnon bekommt eines, weil ich unter seinem Kommando handelte. Die Könige von Achaia haben ihn zu ihrem Anführer gewählt, ihn zum Großkönig gemacht.« Es fiel ihm selbst auf, daß er nicht ›wir‹ sagte, wenngleich er daran den gleichen Anteil hatte. Als er dem Bund beigetreten war, hielt Agamemnon diese unverschämte Macht zwar bereits in den Händen. Aber Achilleus hatte sich mit der Wahl der Könige einverstanden erklärt, indem er seinen Namen unter die Verträge gesetzt hatte. Es widerstrebte allerdings seinem achaiischen Verständnis, daß ein Mann, der tatenlos in der Troas zurückgeblieben war, die gleiche Ehre bekommen sollte wie er. Ja, eine höhere noch.

»Und da er als Großkönig zuerst wählen darf ...«

Briseis wischte sich angewidert mit dem Handrücken über den Mund. »Weshalb sollte er mich Chryseis vorziehen?« fragte sie trotzig. »Ich bin nicht von edlerer Herkunft als sie. Und sie ist hübsch und jünger als ich.«

»Aber sie hat einen Makel: Ihr Vater ist nicht nur König von Killa, sondern zugleich Hohepriester des dortigen Apollon-Heiligtums. Agamemnon wird nicht den Schlangengott herausfordern wollen, indem er mit der Tochter des Priesters schläft.« Achilleus überlegte, Chryseis nach einer angemessen Zeit der achaiischen Apollon-Priesterschaft zu überlassen. Daß sie eine angehende Priesterin war, vermutete er ohnehin. Aber es war unwürdig, ohne Ehrengeschenk dazustehen. Dies war eine heikle Sachlage. Briseis fragte nichts weiter, doch die Verwirrung war ihr deutlich anzusehen. Achilleus hielt es für besser, sie jetzt in Ruhe zu lassen. Und da sie ihm nicht gehörte, würde er sich auch für den Rest der Fahrt von ihr fernhalten, so schwer ihm das auch fallen mochte. Etwas verstimmt griff er sich eine Decke, suchte sich ein einigermaßen ruhiges Plätzchen und legte sich schlafen.

»Steh auf, du Held!«

Achilleus spürte einen Schlag gegen seine Waden, dann einen festeren gegen die Rippen. Er rührte sich nicht. Wer immer da gekommen war, ihn zum Aufstehen zu bewegen, er würde keinen Erfolg haben. Er hatte lange geschlafen, doch nicht lange genug. Niemand konnte ihn daran hindern, sich wieder der wohligen Schwärze zu überlassen. Niemand – aber die Stimme versuchte es wieder. »Kaum zu glauben«, spottete sie, »daß man sich an Achilleus so einfach anschleichen kann! Sollte der große Krieger nicht sofort hellwach sein, wenn sich ihm jemand nähert?«

Die Stimme hat recht, dachte Achilleus verdrossen; normalerweise konnte man das nicht. Aber die Anstrengungen der letzten Monate hatten ihren Tribut gefordert. Laß mich in Ruhe, wollte er sagen, aber seine Lippen dachten nicht daran, sich zu öffnen. Ich werde hier liegenbleiben, bis wir angekommen sind. Und wenn es Wochen dauern sollte. Er rollte sich noch fester in die Decke und wollte an nichts mehr denken. Aber da war diese Stimme. Achilleus fiel auf, daß sie eigentlich nicht hier sein durfte. Hatte er nicht den, dem sie gehörte, gar nicht auf diese Reise mitgenommen? Um dieses Rätsel zu lösen, würde er wohl oder übel die Augen öffnen müssen.

Über ihm schwebte das Gesicht eines Mannes, der ihn aufmunternd anlachte. Er hatte freundliche braune Augen und ebenso braunes, nach Art der lokrischen Achaier im Nacken zu drei Zöpfen geflochtenes Haar. Er besaß die gleiche hochgewachsene, schlanke Gestalt wie Achilleus – nur wirkte er fast schwarz in seiner dunklen Kleidung, die nur die schwieligen, von kleinen Narben durchzogenen Hände frei ließ. Achilleus erkannte ihn, war aber noch nicht wach genug, um sich seine Anwesenheit auf dem Schiff erklären zu können.

Da half ihm der Lokrer weiter. »Willkommen in der – Heimat!« rief er gutgelaunt, wenngleich er das letzte Wort voller Hohn aussprach. »Ihr seid vor Stunden angekommen. Die Schiffe sind längst entladen und die Männer zurück in ihren Häusern. Die Könige warten nur noch auf dich, und ihre gute Laune wächst nicht mit der Zeit, die du sie warten läßt. «

»Nein!« Achilleus fuhr auf. »Das kann nicht wahr sein! Ich bin da? Ja, habe ich so fest geschlafen, daß ich meine eigene Ankunft nicht bemerkte? Das ist niederschmetternd«, murmelte er und rieb sich die Stirn. »Da male ich mir in den schönsten Farben meine Rückkehr aus, und dann so etwas ...«

Der Lokrer lachte, packte Achilleus bei den Händen und zog ihn hoch. Sie umarmten sich und schlugen sich auf die Schultern.

»Ich bin jedenfalls froh, dich wiederzusehen, Patroklos«, sagte Achilleus. Die Enttäuschung über die verschlafene Ankunft vergaß er bereits.

»Ich auch.« Der Lokrer grinste. »Vor allem, weil ich die dummen Pflichten eines Königs wieder bei dir loswerden will. Ich glaube, du weißt gar nicht, wie die anderen an deinen Nerven zerren können. Allen voran Agamemnon. Diese aufdringlichen Fragen!« Er stemmte die Arme in die Hüften und sagte mit übertriebener Stimme: »Wann kommt Achilleus zurück? – Als ob ich das wissen könnte. – Warum stimmen die Getreidelieferungen nicht mit den Tafeln überein? Was wird Achilleus mitbringen? Warum ist das Südtor in einem so erbärmlichen Zustand? Wo will Achilleus überall hinfahren? Und ich antworte immer: Das weiß ich nicht. Davon habe ich keine Ahnung. Das kann ich mir nicht erklären.« Er wollte sich ausschütten vor Lachen. »Aber nun komm endlich!«

Achilleus sah sich um. Tatsächlich waren alle Schiffe bis auf seines vollständig gelöscht. Schon zogen die Myrmidonen unter Alkimedons lautstarken Anweisungen die Schiffe an Land. Sie hoben sie auf die riesigen, tief im kiesigen Sand verankerten Holzbohlen, welche die Schiffsrümpfe einige Handbreit über dem Boden hielten, damit die Luft darunter zirkulieren konnte. Nur seines dümpelte noch im Wasser. Am Ufer warteten die Männer darauf, daß ihr König endlich an Land ging.

»Ich werde die Könige sofort aufsuchen«, sagte Achilleus. »Wirst du mitkommen?«

»Ganz sicher nicht. Hol dir dein Lob nur schön alleine! Hier gibt es genug Arbeit.«

Achilleus lief über die Planke ans Ufer und schlüpfte zwischen den Schiffen hindurch auf die breite Straße, mitten hinein in die Menge der hin- und herflutenden Menschenmassen. In den Häusern konnte sich kaum noch jemand aufhalten, so dicht drängten sie sich draußen; und ständig spuckten die Gassen weitere aus. Hier, am südlichsten Ende der Stadt, befand sich sein eigenes Haus. Dort wollte er sich umziehen, um angemessen und mit den königlichen Würdezeichen, dem Zepter und der Kette, vor Agamemnon zu erscheinen. Dann überlegte er es sich anders und ging, wie er war, mit durchgeschwitztem Leinenhemd und staubiger Hose. Agamemnon sollte sehen, daß die Beute, die sicher schon in der großen Lagerhalle verstaut lag, durch seiner Hände Arbeit errungen war.

Die meisten Krieger, denen er begegnete, erkannten ihn trotz seiner abgetragenen Kleidung, denn mit dem leuchtend blonden Haar und den unnatürlich grünen Augen fiel er auch im Gedränge auf. Sie neigten ehrerbietig die Köpfe oder hoben zum Gruß ihre Speere. Allerdings waren die wenigsten mit mehr als ihrem Schwert gerüstet, denn an Tagen wie diesem wurde nicht gekämpft, und das Heerlager verwandelte sich dann in eine scheinbar normale Stadt. Da standen das Nord- und Südtor weit geöffnet, und niemandem in der umliegenden Gegend konnte es entgehen, daß man sich ihnen gefahrlos nähern durfte.

Die Priester hielten es nicht für nötig, ihn zu grüßen, denn sie waren die Vertreter ihrer Götter und trugen deren Symbole mit sich, um sie jedem zu zeigen. Priesterinnen sah er fast noch häufiger, mit hornartigem Kopfputz und ausladenden Röcken. Mit ihren engen Ledermiedern und den kleinen dreieckigen Bronzemitren über hüftkurzen Röckchen fielen die Priesterinnen der Pallas Athene ganz besonders ins Auge. Sie bewegten sich so selbstsicher in dieser Kriegerwelt, als seien sie die Gemahlinnen der Könige. Wenn sie so mit hoch erhobenem Kinn durch die Menge schritten, fühlte er sich unwillkürlich daran erinnert, daß dies auch ein Krieg der Götter war, und nicht nur der Menschen.

Athene, die kluge, gerissene Kriegsgöttin, begünstigte die Achaier, während Apollon, der strahlende Lichtgott, die Troianer schützte. Viele Geschichten rankten sich um diese beiden Götter und ihre Motive, sich in diesen Krieg einzumischen. Sie klangen jedoch alle mehr oder weniger absonderlich. Achilleus hielt die simpelste Erklärung für die wahrscheinlichste: Sie hatten ganz einfach ihren Spaß daran. Auch Chryseis hatte Apollon einmal den Lichtgott genannt, erinnerte er sich. In Wahrheit hat er ein dunkleres Herz als der Kriegsgott, dachte er erschauernd.

Der Lärm um ihn herum schwoll an zu einer Kakophonie von Geräuschen, an die er sich erst wieder gewöhnen mußte: Stimmen, helle und tiefe, die sich anlachten, fluchten und keiften, feilschten oder sangen. Ihr Geschrei vermischte sich mit Tonfetzen von Klappern und Flöten, dem Brüllen der Ochsen vor den Karren und dem erbärmlichen Gequieke unsanft angepackter Schafe und Ziegen. Dazu kam noch der peinigende Gestank von Schweiß, Exkrementen, von Gewürzen und Duftstoffen, verbrannten Scheiterhaufen und Weihrauch. All das vermochte der laue Abendwind nicht zu lindern, zumal die Hitze nicht abnahm.

Seine Myrmidonenkrieger hatten sich bereits unter die Zurückgebliebenen gemischt und erzählten ihnen von dem Feldzug. Überall standen die Dirnen mit ihrem auffälligen Schmuck herum. Händler boten hinter Ständen aus Schilfrohrgeflecht den Vorüberkommenden Waren an. Da wechselte manche Kostbarkeit ihren Besitzer: Talismane vor allem, winzige Anhänger verschiedenster Gottheiten aus Kupfer oder Silber, Amulette aus Pferdehaar und Golddraht, oder kleine Farbtiegelchen – alles zum Schutz vor den Dämonen der erschlagenen Feinde und den Todesgöttinnen der Schlacht. Auch billigen Schmuck kauften die Krieger, kleine Silberkettchen oder Bronzeringe mit Halbedelsteinen besetzt, um sie kaum länger als bis zur nächsten Nacht zu besitzen. Wertvolle Duftstoffe, die nach den blumigen Berichten der Kaufleute aus den exotischsten Ländern stammten, waren für ihre Zwecke ebensogut.

»Kauft, Leute, kauft! Schutzamulette für die männermordende Schlacht!«

»Edle Achaierkrieger, die ihr von den Königen – mögen ihre Ahnen gepriesen und ihre Nachkommen gesegnet sein! – eine Sklavin erhalten habt zum Lohn für euren starken Arm! Hörnerpulver aus den schwarzen Ländern des Südens, damit ihr ohne Reue in den Genuß kommt!«

»Figuranhänger zu eurem Schutz! Figurinen von Apollon, dem strahlenden Gott mit dem silbernen Bogen! He! Was soll das?

Meine Ware! Herrin, ich mache ohnehin schon Verluste, laßt mir meine Ware, ich bitte Euch!«

Die schrille Stimme des Händlers ließ Achilleus aufhorchen. Er hatte nicht viel mehr als den Namen dieses verhaßten Gottes gehört. Nur ein paar Schritte entfernt sah er eine Athene-Priesterin vor dem Schilfrohrtisch eines abantischen Kleinschmieds stehen. Sie hatte offensichtlich mit einem Handstreich etwa zwei Dutzend bronzene Figurinen, keine größer als der Finger eines Kindes, auf den staubigen Boden der Straße gefegt. Mit funkelnden Augen, die mit den schwarzen Kohleumrandungen geradezu riesenhaft wirkten, starrte sie den Händler an. Sie reckte ihren Kopf hoch, um sich größer zu machen. Ihre zierliche Figur verriet ihre Jugend. Sie konnte kaum älter als dreizehn sein.

Das Mädchen war noch eine Adeptin, wie Achilleus an den herabwallenden schwarzen Haaren erkannte, denn nur die ausgebildeten Priesterinnen trugen turmhohe Frisuren. Ihre noch zarten Brüste wirkten größer durch das enge Ledermieder, das sie anhob. Eine kupferne, mit eingeritzten Ornamenten verzierte Mitra hing an dünnen Goldfäden über einem winzigen Röckchen. Dies war ihre einzige Kleidung. Was sie sagte, konnte Achilleus nicht verstehen, aber ihre dazugehörige Geste war unmißverständlich. Der Abanter, ein rotgesichtiger dürrer Mann, schwitzte nicht nur wegen der Hitze, sondern auch aus Furcht. Ehrerbietig wischte er seine feuchten Hände an seinem verstaubten Hemd ab, wodurch sie eher noch schmutziger wurden.

»Verzeiht mir meine Unverschämtheit«, keuchte er unterwürfig, »in dem Lager des edlen und hochgeschätzten Achilleus den Namen Ap– dieses Gottes in den Mund genommen zu haben! Ich verschwinde. Ich verschwinde augenblicklich!« Ächzend ließ er sich auf die knochigen Knie fallen und raffte seine Figürchen zusammen. Die wenigen, die um ihre kleinen, weißen Füße verstreut lagen, nahm er sich mit allergrößter Vorsicht. Als er wieder den Kopf hob, entdeckte er Achilleus. Das gerötete Gesicht wurde von einem Moment zum anderen aschfahl – er hatte den König erkannt.

Während Achilleus überlegte, ob er den Händler aus dem Lager jagen oder einfach weitergehen sollte, drehte sich die Priesterin stirnrunzelnd zu ihm um. Sie hatte bemerkt, daß der ängstliche Blick des Abanters nicht mehr ihr allein galt. Abschätzig musterte sie Achilleus. Sie hatte blaue Augen, wie alle Athene-Priesterinnen. Sie bewegte sich auffällig ungelenk; Achilleus nahm an, daß sie irgendein Rauschmittel inhaliert hatte. Das war bei vielen Priesterorden üblich. Auf diese Weise versuchten sie, Kontakt zu ihren Göttern herzustellen. Fast spürte er Mitleid beim Anblick dieses Mädchens, das wohl – kaum doppelt so alt wie jetzt – infolge der Dämpfe wahnsinnig werden und sterben würde. Sie ging mit federnden Schritten auf ihn zu und blieb so dicht vor ihm stehen, daß das Kupferblech gegen seine Schenkel schlug. Dann stellte sie sich auf ihre Zehenspitzen, um ihm herausfordernd ins Gesicht zu lachen. Ihr Atem roch nach Kassia. Achilleus verwünschte sein Pech oder was es war, das ausgerechnet ihn an diese Priesterin geraten ließ.

»Laß mich in Ruhe«, bat er so sanft und vorsichtig, wie er nur konnte. »Ich will nichts von dir, und ich achte die Göttin ...« Unwillkürlich brach er ab, als sie die Mundwinkel verächtlich herunterzog und das zarte Oval ihres Gesichtes zu einer Fratze wurde. Sie antwortete in einem ihm unbekannten Dialekt und mit schriller Stimme. Ihm entging nicht, daß sie die Aufmerksamkeit der Leute auf sie beide zu ziehen begann. Es sah nicht sehr gut für einen Mann aus, wenn ihn eine Athene-Priesterin beschimpfte. Und wenn er dieser Mann war, noch schlechter. Die Händler an den Nachbarständen reckten die Hälse, um sich ja nichts entgehen zu lassen, ebensowenig die Fremden, die darauf warteten, etwas Lohnendes zu sehen.

»... hat sie in ihrem heiligen Rausch gestört ...«

»... ein Krieger.«

»Nein, der König!«

Achilleus war schon dabei, etwas Unerhörtes zu tun: Er wollte sie fassen, um sie von sich zu schieben. Bevor es aber dazu kam, sah er einen Mann in einem weißen Priestergewand, das keinerlei Attribute einer Gottheit aufwies. Kalchas erfaßte sofort die Situation. Er war mit zwei schnellen Schritten bei der Priesterin und berührte ihre Stirn, dazu murmelte er Worte, die Achilleus nicht verstand. Sie wollte Kalchas wegstoßen, doch dann beruhigte sie sich. Der Seher trat zurück, und sie rannte an ihm vorbei in die Lücke hinter ihm. Die Menschen wichen ehrfürchtig vor ihr zurück, um sie nicht zu berühren. Dann war sie in der Menge derer, die von allem nichts mitbekommen hatten, verschwunden, und nur noch der schwache Hauch von Kassia bewies Achilleus, daß sie kein Traumbild gewesen war.

»Seid gegrüßt, o König von Phthia«, sagte Kalchas und verneigte sich flüchtig. »Wie ich sehe, ist Eure Rückkehr auch von der Athene-Priesterschaft nicht ... unbemerkt geblieben.«

»Ich konnte nichts dafür«, wehrte Achilleus ab. »Ich habe das Mädchen mit nichts provoziert, weder mit Blicken noch mit Worten.«

»Euch glaube ich das besonders gerne«, sagte Kalchas lächelnd. »Die Könige schicken mich, Euch zu holen. Sie brennen darauf, Eure Berichte zu hören, die sicher sehr interessant sein werden. Ich bedaure, nicht dabeisein zu können, aber das erlaubt meine Zeit nicht. Wenn Ihr mir folgen wollt.«

»Was war in meiner Abwesenheit?« fragte Achilleus, während sie durch die sich zerstreuende Menge gingen.

»Es gab keine Schwierigkeiten mit den Troianern, falls Ihr das meint. Es wurde kaum gekämpft. Der Waffenstillstand in der Zeit des Sphagianesfestes verlief ohne Störungen. Ansonsten verbrachten die Achaier ihre Zeit damit, die Schäden des Winters zu beheben und ab und zu einen Angriff abzuwehren. Troia hat es nicht verstanden, Eure Abwesenheit auszunutzen.« Das war alles, was er dazu sagte, und Achilleus genügte es auch.

»Etwas war noch ...« fiel Kalchas ein. » Ein schlechtes Omen während eines Opfers. Agamemnon opferte Zeus Metietes einen Widder, als sich zwei Falken auf das Tier stürzten und um das Fleisch kämpften, bis sie blutig waren. Es vermochte jedoch niemand zu deuten.«

»Auch du nicht?«

»Ich war nicht dabei. Wie auch immer, es kann viel bedeuten, es kann wenig bedeuten. Es hat keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Die Zukunft wird es schon zeigen.«

Achilleus beunruhigte diese Nachricht nicht – es hatte schon viele Zeichen gegeben, und schlecht waren sie meistens. Viel interessanter fand er die Tatsache, daß Agamemnon es für nötig befunden hatte, Zeus Metietes zu opfern, dem beratenden Gott. Vermutlich hatte ihn eine wachsende Unsicherheit zu diesem Opfer bewogen, und nicht nur die Ungeduld über den bisher erfolglosen Feldzug.

Sie benötigten viel Zeit, um das mykenische Lager zu erreichen. Ohne Notwendigkeit den Schutz der Walle zu verlassen, um mit einem Kampfwagen zu fahren, war streng verboten. Daran hielten sich auch die Könige. Die Mykener hatten ihre Häuser in der Mitte der Schiffsstadt. Ihr Lager grenzte an einen weitläufigen Platz, auf dem sich die Altäre der wichtigsten Götter befanden. Hier war auch die große Halle, in der das Beutegut gelagert wurde. Kalchas verabschiedete sich von Achilleus vor Agamemnons Haus, einem selbst für die Verhältnisse dieses Kriegslagers großen Gebäude. Eine Sklavin wartete vor der Tür, sicher schon seit Stunden, um ihn ins Innere zu führen. Sie zögerte bei seinem Anblick. Es schien ihr unmöglich, daß dieser ungepflegte Mann, dem noch dazu jeglicher Goldschmuck fehlte, der König sein konnte, auf den hier alle warteten. Aber er mußte es wohl sein, denn er ging einfach an ihr vorbei ins Haus. Achilleus betrat einen großzügig mit Sesseln und Truhen ausgestatteten Wohnraum. Kostbare Teppiche, die es wert gewesen wären, in einem Thronraum zu hängen, bedeckten die stumpfen Bretterwände. An einem Tisch saßen etwa ein Dutzend Männer, die überrascht aufstanden, als sie ihn sahen. Sie hatten natürlich erwartet, daß er sich von der Sklavin ankündigen lassen würde.

Nestor ging auf ihn zu und drückte ihm die Hand. »Komm«, sagte er freundlich und rückte ihm einen Stuhl zurecht. Die Könige schüttelten nacheinander seine Hände und beglückwünschten ihn zu seinem erfolgreichen Feldzug. Aias von Salamis ließ es sich nicht nehmen, ihn zu umarmen. Er war ein riesenhafter Kerl, der jeden mühelos um einen halben Kopf überragte. »Mein Vetter sieht ein wenig mitgenommen aus«, sagte er lachend. »Du hättest dich wenigstens rasieren können!«

Achilleus strich sich über die hellen Bartstoppeln. »Ich wollte euch nicht noch länger warten lassen. Ich wäre längst hier, wenn ich nicht ...«

»Du mußt dich nicht entschuldigen«, sagte Agamemnon katzenfreundlich und hob seinen Kelch. Die anderen folgten seinem Beispiel. Nestor reichte Achilleus einen goldenen, mit schwerem roten Wein gefüllten Becher.

Wahrend Achilleus trank, sah er sich die Anwesenden genauer an. Daß von den siebenundzwanzig Königen gerade die Hälfte gekommen war, enttäuschte ihn ein wenig. Immerhin waren all diejenigen hier, die zum engen Kreis um Agamemnon zählten. Nur einen der Männer hatte er noch nie gesehen: einen jungen Argiver mit hellbraunem Haar und dunklen Augen, die arrogant auf ihn herabsahen. Er schätzte ihn auf zwanzig Jahre, dasselbe Alter, mit dem er selbst seinerzeit hier angetreten war.

»Die Götter haben deinen Beutezug gesegnet«, begann Agamemnon in fast feierlichem Ton. »Alle wollen hören, wie es dir ergangen ist. Ich zugegebenermaßen weniger, wenn ich das sagen darf. Denn natürlich wirst du gekämpft haben, wie wir es in all den Jahren stets und ausgiebig bewundern konnten. Mich interessiert vielmehr, was du uns Schönes mitgebracht hast. Ich konnte mich kaum beherrschen, einen Blick vorweg in die Lagerhalle zu werfen. Die Schreiber warten schon darauf, alles zu katalogisieren. Sie brauchen nur noch die Informationen über die Herkunft der einzelnen Stücke. Du mußt ihnen ein paar von deinen Leuten schicken.«

»Soll ich das auf der Stelle veranlassen, oder gibst du mir ein wenig Zeit, den Königen zu erzählen, was sie hören wollen?« Achilleus konnte sich eines spöttischen Tons nicht enthalten. Er suchte aus seinem Gedächtnis die interessantesten Begebenheiten seiner Reise zusammen, die er selbst als recht belanglos empfand, und gab sie zum besten. Daß er einige Städte ohne Gegenwehr eingenommen hatte, versetzte die Zuhörer in Erstaunen. Allerdings wußten sie, weshalb Agamemnon gerade ihn damit beauftragt hatte, das Gold des Ostens zu holen. Das beunruhigende Ende des Feldzuges verschwieg er indes – die Prophezeiung Eetions und die Warnung des Statthalters von Milet behielt er einstweilen für sich.

»Eine Stadt ohne Kampf einzunehmen ist einfach unehrenhaft«, erklärte der fremde Argiver selbstgefällig. »Ich hätte von Achilleus von Phthia Heldenhafteres erwartet.«

Achilleus lachte ihn aus. »Das höre ich nicht zum ersten Mal. Aber ich denke nicht daran, mit einem Grünschnabel über Ehre zu reden, der es nicht einmal für nötig hält, sich vorzustellen.«

Der Argiver sprang empört auf. »Ich bin Diomedes, Koreter von Tiryns, zu dem niemand so beleidigend sprechen darf, nicht einmal Ihr!« Er griff zu seinem Schwert.

»Ich hacke dir die Hand ab, bevor du es auch nur einen Fingerbreit herausziehen kannst!« herrschte Achilleus ihn an. »Also weg damit!« Diese Drohung brachte Diomedes so aus der Fassung, daß er anstandslos gehorchte und sich wieder setzte.

»Das muß ich schon sagen, Agamemnon, du hast wirklich hervorragende Stellvertreter«, sagte Achilleus verächtlich. »Wahre Prachtstücke.«

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, daß mir dein Koreter von Milet eine Geisel für dich übergeben hat – falls er es überhaupt getan hat. Er wollte eine Bezahlung dafür haben, die ich ihm natürlich verweigerte. Es handelt sich um einen Sohn des Priamos, mit dem er sich schon eine Zeitlang ... vergnügt hatte. «

»Was? Ein Priamide?« Agamemnon setzte seinen Kelch so heftig ab, daß der Wein herausschwappte. »Und was soll das heißen: falls? Hat er oder hat er nicht?«

»Keine Ahnung, ich habe mich nicht weiter darum gekümmert. Mir war nicht danach, Bote für ihn zu spielen. Überlege gefälligst vorher, ob du korrupte Schwachköpfe oder aufgeblasene Burschen, die nichts anderes tun, als von einer Aristie zu träumen,« – das galt Diomedes – »als Koreter einsetzt.«

Nestor mischte sich begütigend ein. »Ihr wollt Euch doch nicht wirklich streiten, kaum daß ihr euch wiedergesehen habt. Achilleus, du tust Diomedes unrecht. Er hat gute Fähigkeiten, wie sein Vater Tydeus. Diomedes übernahm erst vor kurzem dessen Amt. Er ist vor wenigen Tagen hier angekommen, mache ihm die erste Zeit also nicht unnötig schwer. Außerdem ...« Er zögerte kurz. »Ein klein wenig erinnert er mich an dich. Ich meine natürlich an den Achilleus, der vor neun Jahren hierherkam ...« Nestor war klug, er ließ die anderen so lange nicht zu Wort kommen, bis die Gemüter beruhigt waren.

Achilleus sah Diomedes durchdringend an. »Es tut mir leid«, sagte er unumwunden. »Normalerweise ist es nicht meine Art, jemanden vorschnell zu beurteilen. Da habe ich mich mal wieder hinreißen lassen.« Deine Hand hätte es dich trotzdem gekostet, fügte er in Gedanken hinzu.

Agamemnon drängte nun darauf, die Beute und die Frauen zu besichtigen. Achilleus erhob sich und ging mit ihm hinüber zum Lagerhaus. Dabei blieben beide unter sich, denn es war ihr Vorrecht, sich ihren Beuteanteil zuerst auszuwählen.

Die Lagerhalle hatte keine Fenster, und so mußten sie die Schätze im Schein einer rußenden Öllampe begutachten, die ein Diener vor ihnen hertrug. Da stapelten sich schwere Teppiche neben Bergen glänzender Stoffe und Kleider, Perlen und Juwelenkästchen. Truhen und zierliche Möbel mit Einlegearbeiten aus Elfenbein und Lapislazuli standen neben Götterbildern aus Onyx und Alabaster. Kannen, Töpfe und Kelche aus Gold bedeckten den Boden, so daß sie kaum Platz für ihre Füße fanden. Weiter hinten lagen die Waffen bereits sortiert, von einfachen, abgenutzten Schwertern, die erst aufbereitet werden mußten, um wieder in einer Schlacht Verwendung zu finden, bis hin zu Prunkdolchen mit edelsteinbesetzten Griffen; Hornbogen, Speere, Äxte und Schilde verschiedenster Formen, einfache Laiseion- und silberbeschlagene Rundschilde.

Achilleus sah sich kaum weniger neugierig als Agamemnon um, denn er hatte bis zu diesem Zeitpunkt die Beute in ihrem ganzen Ausmaß selbst noch nicht gesehen. Da entdeckte er zwischen den Schilden eine große kreisförmige Scheibe aus Eisen, die augenscheinlich nicht dazugehörte, denn wer vermochte schon einen eisernen Schild zu tragen? Er befahl dem Diener, die Lampe näher zu halten. Die Scheibe maß eine Armlänge und war fingerdick. Weder er noch Agamemnon hatten jemals einen so großen Gegenstand aus Eisen gesehen.

»Erstaunlich«, murmelte Agamemnon beinahe ehrfürchtig. »Was sind das für Schriftzeichen?« Er deutete auf die fremdartige Schrift, die den Rand der Scheibe bedeckte.

»Hethitisch«, vermutete Achilleus.

»Und? Was bedeuten sie? Du kannst doch Hethitisch.«

»Aber nicht lesen ...«

Nicht die nutzlosen Zeichen erregten seine Aufmerksamkeit, sondern das Bild in der Mitte der Scheibe. Es schien zu pulsieren, zu leben und mit kalten Fingern nach seinem Innersten zu greifen. Achilleus war bewußt, daß nicht das unruhig flackernde Lampenlicht die Linien vibrieren und zittern ließ. Er wollte wegsehen, sich davor verschließen, doch es gelang ihm nicht, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Da gab es nichts mehr außer diesem Bild.

Typhon kam in Kizzawatna zur Welt. Sie war die Schlange, größer und stärker als alle Kinder der Ge. Streckte sie sich, konnte sie über die Berge ragen und die Sterne erreichen. Ihr Kopf berührte den Sonnenaufgang, ihre Schwanzspitze den Sonnenuntergang. Sie vermochte so laut zu brüllen, daß die Gestirne erzitterten. Ein goldenes Halsband glänzte an ihrem Kopf; am ganzen Körper war sie beflügelt. Feuer schwelte in ihren Augen, die zu ihrem Herrn aufblickten. Der Herr der Typhonschlange. Er war nackt, und um sein Haupt brannten die Strahlen der Sonne. Er führte die Sonnengöttin von Arinna an der Hand, die mit der Berührung ihrer Finger sein Gesicht leuchten ließ. »Lichtgott Asiens«, sagte sie, »Phoibos Apollon. Geh nach Westen und mache Dir Ahhiyawaland Untertan. Die Typhonschlange wird Dein Helfer sein.«

Du hast dir die Schlange auf dein Schiff geholt! Und sie wird vernichten!

Ihr verschlungener Körper schien sich zu winden und in Wellen zu bewegen. Sie wuchs und wallte auf Achilleus zu, reckte ihm ihren keilförmigen Schädel entgegen. Abwehrend streckte er die Hand aus und stieß dabei einen Speer um, der klirrend auf die Gerätschaften am Boden fiel. Der Lärm riß ihn aus dem Bann der Alptraumkreatur. Noch leicht benommen sah er auf das Durcheinander, das er angerichtet hatte. Er wußte, jetzt war ein guter Augenblick, um Agamemnon von der Prophezeiung des thebanischen Königs zu erzählen; ein besserer kam vielleicht nicht mehr. Doch er brachte kein Wort davon heraus. »Laß uns gehen«, bat er mit heiserer Stimme. »Ich möchte nichts mehr sehen. Auch die Frauen nicht, dazu haben wir heute abend noch Zeit.« Ohne eine Antwort Agamemnons abzuwarten, der nichts von seiner Verwirrung zu bemerken schien, wandte er sich um. Er wagte es, noch einen Blick auf die Eisenscheibe zu werfen, bevor er ging. Aber da war nur noch das eingeritzte stilisierte Bildnis einer Schlange, eines Mannes und einer Frau zu sehen.

Hektor von Troia stand am Fenster des Frauenmegarons und löste den Riegel der Zedernholzläden. Die Flügel schwangen auf und ließen die laue Wärme der Sommernacht in das Gemach. Die Luft war stickig hier im dritten Stock des Königspalastes, aber immer noch besser als in der Stadt selbst, wo die Ziegelbauten der einfachen Leute, die Handwerksstätten und Läden dichtgedrängt und ohne jede Ordnung standen und noch die Hitze des vergangenen Tages in den verwinkelten Gassen klebte. Von dem bunten Wirrwarr der Innenstadt, den höhergelegenen Tempeln im Ostviertel oder den bewaldeten Hängen des Idagebirges dahinter konnte er nichts sehen. Statt dessen blickte er auf einen kleinen, mit Kübelpflanzen geschmückten Hof und auf die Steinquader der riesigen Stadtmauer. Bei ihrem Anblick fragten sich wahrscheinlich die meisten, wie viele Jahre und wie viele Sklaven ihr Bau wohl gekostet hatte, nicht ahnend, daß sie von Göttern errichtet worden war.

Geradeaus, dort wo das silbrige Meer begann, glitzerten Tausende von winzigen Leuchtpunkten und ließen die Weitläufigkeit der Schiffsstadt erahnen. Selbst aus dieser Entfernung ließ sie sich kaum mit einem Blick erfassen. In der Brise blinkten ihre Lichter unentwegt.

»Als ob sie sich mit den wenigen Sternen unterhielten«, raunte eine Stimme neben Hektor. »Ein angeregter Dialog. Sicher besprechen sie gerade die Verteilung der Beute – der Beute von Troia.«

»Rede nicht solche Dinge.« Hektor wandte sich der Frau zu, die an seine Seite getreten war. »Sie können noch so lange am Strand kleben wie Harz, sie packen uns doch nicht.«

Die Frau lächelte milde. Wohlwollend betrachtete sie ihren Sohn. Ihre zahllosen Augenfältchen und ihr graues Haar wiesen auf ihr hohes Alter. Auf der Stirn trug sie das aus Golddraht geflochtene und mit Perlen besetzte Diadem der Königin. »Ich bin für deinen Optimismus nicht so empfänglich wie die unbedarften Kerle, die du ausbildest«, sagte sie nachsichtig. »Und dies ist kein schöner Anblick für deine Frau.« Mit einem Kopfnicken deutete sie auf den Strand, an dem einstmals nur der Zollhafen gestanden hatte und den die Achaier in eine lärmende, schmutzige Stadt verwandelt hatten.

»Wie geht es ihr?« Hektor sah zu der schlafenden Gestalt hinüber, die auf einem Bett neben dem Herd in der Mitte des Gemachs lag. Die Glut des abgebrannten Feuers erleuchtete den Raum schwach und ließ ihre Haut unnatürlich blaß erscheinen. Schweiß glänzte auf ihrem ausgezehrten Gesicht, das dennoch seine Schönheit nicht verloren hatte. Ihre Hände lagen auf der leichten Wölbung des Bauches und hoben und senkten sich mit ihrem unregelmäßigen Atem.

»Ich glaube nicht, daß du dir noch Sorgen machen mußt«, sagte Hekabe. »Der Arzt sagt zwar, das Kind sei noch nicht außer Gefahr, aber zum einen ist Andromache stark, und zum anderen verstehen die Ärzte sowieso nichts davon. Ich bin sicher, sie wird das Kind nicht verlieren.«

»Wenn du es sagst.« Hektor drückte die Hand seiner Mutter. Er wußte, ihrer Erfahrung konnte er mehr vertrauen als jedem Heiler. Hekabe wirkte mit ihrer zierlichen Gestalt sehr zerbrechlich. Wer sie sah und nicht kannte, vermutete kaum, daß sie mehr als zwanzig Kindern, darunter allein neunzehn Söhnen, das Leben geschenkt hatte. Darum vielleicht hatte sie der König bis zum Einbüßen der Gebärfähigkeit in Anspruch genommen, denn keine seiner Konkubinen hatte so viele männliche Nachkommen geboren. Und natürlich war Hekabe vielfache Großmutter. Nur darum kreiste ihr Leben und das der Nebenfrauen. Die Geburt des ersten Sohnes von Hektor, ihrem eigenen Erstgeborenen, wurde von der königlichen Familie freudig erwartet.

Hektor ging zu seiner Frau, setzte sich auf die Bettkante und streichelte ihre Hand. Andromache öffnete die Augen und zuckte zusammen, als sie direkt in sein von braunen, kurzen Haaren umrahmtes Gesicht sah. Er lächelte über ihre Reaktion.

»So fest geschlafen?« murmelte er und hob ihre Hand an seine Wange. »Hekabe sagt, daß alles gut ist und du wegen einer Fehlgeburt keine Angst mehr haben mußt.«

»Nichts ist gut«, sagte Andromache tonlos. »Es wäre für das Kind weit besser, hätte ich es verloren.«

»So etwas darfst du nicht einmal denken.« Hekabe setzte sich auf einen Stuhl am Ende des Bettes. »Kinder sind ein Geschenk der Götter; das größte, das sie dir machen können. Das wirst auch du noch feststellen, wenn du viele Söhne geboren hast.«

Hektor sah seine Mutter zweifelnd an. Sie glaubte, was sie sagte, obwohl sie in diesen Jahren oft den Klagegesang über einen ihrer toten Söhne hatte anstimmen müssen. Nicht selten trug sie das schwarze Kredemnon der Trauer. Um so mehr klammerte sie sich mit ihrer Hoffnung an ihre noch verbliebenen, und ganz besonders an ihn, den das Volk als den Beschirmer der Stadt verehrte – Hektor, der Erstgeborene des Königs, der Heerführer und der beste Krieger ganz Asiens. Er fragte sich, ob ein Achaier an einer fremden Küste, ohne Familie nicht besser dran war als er, auf dessen Schultern eine Verantwortung lastete, um die er nie gebeten hatte.

»Warum ist Helenos noch nicht hier?« fragte Andromache.

»Ich war vorhin bei ihm im Tempel«, erwiderte Hektor. »Er wird kommen, sobald er kann, vielleicht morgen schon. Er hat sich eine kleine Vergiftung zugezogen beim unvorsichtigen Hantieren mit Weihrauchgefäßen, in denen es noch kokelte. Er weiß selbst nicht genau, wie.«

»Warum weiß ich nichts davon?« rief Hekabe überrascht. »Eines meiner Kinder ist krank, und man sagt es mir nicht?«

»Mutter, es ist nichts Ernstes. Er hat sich erbrochen und ihm ist übel, das ist auch alles. Helenos ist mit den Weihrauchdämpfen zu vertraut, um sich ernstlich an ihnen zu vergiften. Außerdem muß er selbst am besten wissen, wie weit er gehen kann. Er dürfte der am wenigsten gefährdete von uns allen sein! Helenos wußte schon, weshalb er kurz vor Beginn des Krieges die Laufbahn eines Apollon-Priesters einschlug und den Waffengebrauch zurückwies. Im übrigen geht es ihm schon bedeutend besser, sonst hätte er ja abgesagt.«

»Ich habe das Recht, so etwas zu erfahren«, beharrte die Königin.

Hektor stieß ungehalten den Atem aus. Hätte er doch nur den Mund gehalten! »Er wollte nicht, daß ich es dir erzähle, weil er weiß, wie leicht du unnötig in Sorge gerätst.«

»Unnötig?« wiederholte Hekabe erbittert. »Du meinst wohl, in diesen Zeiten darf eine Mutter noch dankbar sein, wenn sich eines ihrer Kinder nur vergiftet, statt einen Speer in den Bauch zu bekommen. Aber da irrst du dich!«

»Du kannst Helenos nicht helfen, indem du zu ihm gehst und ihn bemitleidest. Deine Gedanken sind halb bei ihm und halb bei Andromache. Und bei noch ein paar anderen, die mit kleinen Kratzern herumlaufen.« Er schwieg, als er in das enttäuschte Gesicht seiner Mutter sah. Sie starrte ihn mit halb geöffnetem Mund an und wandte sich ab. Ihr betroffenes Schweigen schmerzte ihn.

Sie begreift nichts, dachte er. Seit neun Jahren begreift sie nicht, was für Strandgut das Meer angeschwemmt hat. Und was auf dem Schlachtfeld geschieht, versteht sie schon gar nicht. Vielleicht muß sich ihr Verstand einfach den Tatsachen verschließen, da sie so viele kampffähige Söhne hat. Und Tochter, die möglicherweise irgendwann für die achaiischen Eroberer die Schenkel öffnen müssen. »Ich wollte nicht taktlos sein«, entschuldigte er sich. Hekabe griff nach seiner Hand, die sie mit ihren kleinen runzligen Fingern kaum umfassen konnte, und nickte nur.

Mühsam stützte Andromache ihren Kopf auf ihre Hand und strich sich die verschwitzten Haare aus der Stirn. »Warum muß Helenos überhaupt das Orakel stellen?« fragte sie. »Tut man das hier nicht, wenn ein Kind geboren ist? So ist es Sitte bei meinem Volk in Kizzawatna.«

»Wir befragen die Götter auch, wenn eine Schwangerschaft nicht so verläuft, wie sie sollte«, erklärte Hekabe geduldig. »Schließlich muß man den Grund herausfinden, warum sie den Göttern nicht gefällt, und was zu tun ist, um sie zu besänftigen.«

»Wozu?« Andromaches Kinn bebte. »Ich weiß, wer Schuld daran hat, ihr wißt es auch, und es war kein Gott.«

»Ja, das wissen wir. Trotzdem ist es nötig. Bedenk doch, wir können die Götter nicht verstehen, sie brauchen keine Rechtfertigung. Wir wissen über sie nur, was uns die Priester sagen. Apollon ist der Beschützer unserer Stadt. Troia gehört ihm. Wenn wir in dieser wichtigen Sache seinen Rat mißachten, würden wir ihn beleidigen.«

»Ich mag kein Zukunftsorakel hören! Das ist doch ohnehin Unsinn.« Andromache strich sich die Tränen aus dem Gesicht. »Warum sollte Apollon sich beleidigt fühlen? Die Achaier entziehen ihm ihre Verehrung immer mehr, wie man sagt. Sie schmähen ihn ungestraft, warum sollte er sich darum kümmern, ob wir dieses Orakel stellen lassen? Ach Hektor, hätte ich doch nur meine kizzawatnischen Götter behalten können, als ich dich heiratete!«

Hekabe holte hörbar Luft und sah Hektor auffordernd an, seine Frau zurechtzuweisen. »So darfst du nicht sprechen«, sagte er. »Und nur einer von den Achaiern schmäht ihn wirklich. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie alle –«

»Eben!« schrie Andromache unbeherrscht. Sie zitterte am ganzen Körper. »Du mußt keine Rücksicht auf mich nehmen. Nimm seinen Namen ruhig in den Mund! Ihm hat Zeus scheinbar für alles die Erlaubnis gegeben, selbst Apollon zu beleidigen. Wie könnte der Gott mir so etwas Geringes übelnehmen. Habe denn nicht gerade ich das Recht dazu? Nach allem, was er mir angetan hat?« Das Weinen raubte ihre letzte Kraft. Beruhigend strich er über ihr langes, ungekämmtes Haar, bis sie sich in seinen Armen entspannte. Als ihre Atemzüge regelmäßiger wurden, legte er sie sanft zurück in die Kissen und deckte sie zu. Fast augenblicklich schlief sie ein.

Hekabe stand auf und entschuldigte sich, sie wollte in den Tempel zu Helenos. Hektor war froh, daß sie ihn allein ließ und er sie nicht erst darum bitten mußte. Sie ließ sich von einer Sklavin ihren Umhang umlegen und verabschiedete sich. Er trat wieder ans Fenster. Zwei Tage vorher war die Nachricht über die Eroberung Thebens nach Troia gelangt. Das Entsetzen über den gewaltsamen Tod ihres Vaters, König Eetion, hatte bei Andromache beinahe die Fehlgeburt ausgelöst. Indessen wußte sie noch nichts vom Schicksal ihrer Mutter. Wie man Hektor berichtet hatte, war sie lebend in die Hände des Feindes gefallen. Er würde dafür sorgen, daß Andromache erst dann davon erfuhr, wenn er die Königin freigekauft hatte. Zumindest in dieser Hinsicht durfte er zuversichtlich sein, denn nur Lösegeld konnte der Grund sein, weshalb sie verschleppt worden war.

Mit den Fingerspitzen rieb er sich die Schläfen, um das bleierne Gefühl aus seinem Kopf zu vertreiben. Er spähte in die Schwärze zwischen den Lichtpunkten am Strand. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, und er erkannte schemenhaft die feindlichen Schiffe und Häuser. Er streckte den Arm aus und griff eine Handvoll trockener Luft aus der Dunkelheit. Ich könnte sie mir nehmen, ihre Schiffe, ihre Beute, ihre Leben. Könnte sie vom Strand fegen wie Abfall. Allen dort bin ich überlegen! Allen ... außer ihm.

Seine Hand zuckte zurück, als hätte er in glühende Kohlen gegriffen. Diese Ausnahme hatte ihm Handfesseln angelegt, ihn erbärmlich schwach gemacht und seinen Anspruch verwirkt, der Beschützer Troias zu sein, auch wenn ihn das Volk voller Hoffnung noch immer auf Händen trug. Achilleus zu besiegen ..., dachte er. Ist das wirklich nicht mehr als pure Illusion?

Er konnte die Antwort haben, jederzeit. Die Voraussetzung dafür hieß: Zweikampf. Für Troia – und für Theben. Theben, Troia – Hektor fragte sich, ob zwischen beiden Städten noch ein großer Unterschied bestand. Theben, die Heimatstadt seiner Frau, war bereits erobert, Troia noch nicht. Das war alles. Würden die Menschen in spätestens einigen Jahren beginnen, diese Namen zu verwechseln? Würden sie sich daran erinnern, daß Troia neun Jahre und wer weiß, wie lange noch, belagert wurde, und Theben aufgrund seiner schlechten Befestigungsanlagen überhaupt nicht? Nein, werden sie nicht, dachte er düster. Nur eines werden sie sich merken: den Namen des Städtezerstörers. Ja, so nennen sie ihn jetzt. Weiß dieser Mensch eigentlich, was er anrichtet? Hätte er noch mehr gewütet, wenn er geahnt hätte, daß die Nachricht von Eetions Tod meinen Sohn noch nicht das Leben kostet?

Hektor wußte, daß ein Zweikampf letzten Endes unvermeidlich sein würde. Doch er zögerte ihn immer wieder hinaus. Achilleus war wie ein fauler Zahn, der heraus mußte, weil er schlimme Schmerzen bereitete. Aber Hektor wußte auch, wie schmerzhaft diese Behandlung werden würde, und so schob er es immer wieder hinaus, und das seit neun Jahren. Bei diesen düsteren Gedanken ballte er die Fäuste, bis sich die Knöchel weiß abhoben. Er löste dieses Problem nicht durch Warten. Wie oft hatte er sich schon zu diesem Zweikampf durchgerungen, nur um dann doch wieder einen Rückzieher zu machen. Aber es war nur noch eine Frage der Zeit ...

Eigentlich waren sie sich schon öfter nahe genug gekommen, um die kretischen Langschwerter, die sie beide bevorzugten, miteinander kreuzen zu können. Hektor rief sich die wenigen Begegnungen ins Gedächtnis. Sie alle waren mehr oder minder nur Zufallstreffen, denn er ging Achilleus möglichst aus dem Weg. Jedesmal wieder mußte er sich seine Mutlosigkeit eingestehen – und Achilleus machte sich auch nicht gerade Mühe, ihn zu suchen. Kam es doch zum Kampf, ob aus Zufall oder Unvorsichtigkeit (er hoffte stets, daß es Mut war), bezahlte er mit ein paar Schrammen und der bangen Frage an die Kriegsgöttin, wie lange sein Glück wohl noch anhielt. Hektor begriff hinterher nie genau, wie er dem Verderben eigentlich entronnen war – ob ihn seine Leute, die einen klaren Kopf behalten hatten, in ihre Reihen gezogen hatten, ob er selbst geflohen war, oder ihn ein Gott mitleidig in einen Nebel gehüllt und hinter die Linien getragen hatte (was er sich am wenigsten vorstellen konnte. Manche behaupteten, derartiges erlebt zu haben). Doch eines vergaß er nie: diese Augen, diese schwelenden Augen, die ihn bannen konnten wie eine Schlange ihr Opfer.

Und dann erst diese Bewegungen. Sie waren so unbeschreiblich schnell, flüchtig wie ein Lidschlag; blitzartige Bewegungen, die in ihrer Geschicklichkeit nur wenig Kraft zu beanspruchen schienen. Und Achilleus traf immer, er schien nicht einmal zu zielen oder darauf zu achten, ob sein Schlag tödlich war oder nur verletzte. So konnte sich nie ein Ring von Getöteten um ihn bilden, der ihn schließlich behindert hätte. Wen es doch endgültig erwischte, der fand den Tod immerhin sehr schnell. Da war keine Zeit mehr für einen Blick in die Zukunft, von dem Andromaches Volk ebenso wie die Priester Apollons glaubten, daß er dem Sterbenden gewährt wurde, um den Sieger vor Hochmut zu warnen. Wer sollte auch zuhören? Achilleus in seinem Geschwindigkeitsrausch? Wie konnte ein Mensch nur so irrsinnig schnell sein? Achilleus hatte es nicht einmal nötig, einen Schild zu benutzen. Selbst seinen Helm gab er oftmals seinen Männern, und manchmal trug er noch nicht einmal einen Harnisch zu seinem Schutz. Wozu auch, fragte sich Hektor. Achilleus war nicht so ohne weiteres zu treffen. Er vollführte einfach zur richtigen Zeit die richtige Körperdrehung, die ihn außer Gefahr brachte und zu einem neuen Angriff führte. Das war es. Das machte seine Überlegenheit aus, nicht seine physische Kraft.

Lag Hektors Chance dagegen in seiner Stärke? War es im Bereich des Möglichen – natürlich nur während einer Aristie und mit Hilfe aller Götter –, Achilleus ernstlich in Verlegenheit zu bringen? Berechtigte Hoffnung oder doch nur Illusion? Solange ich ihn scheue, dachte er, werde ich es nie herausfinden.

Seine Gedanken wanderten an den Anfang zurück. Seine Brüder und Kampfgefährten, allen voran Deiphobos, hatten sehr viel schneller begriffen, daß dieser neue König von Phthia weit gefährlicher war als Agamemnon oder Aias von Salamis. Als Hektor ihm dann endlich begegnete, es waren wohl Monate seit der Ankunft der Achaier vergangen, blieb es um so nachhaltiger in seinem Gedächtnis. Gelegentliche Beobachtungen von der Mauer herunter oder die gestammelten Berichte verwundeter Männer hatten ihm lange nicht so viel vermitteln können. Auch nicht die Berichte vom Tod des Kyknos, dem ersten Verbündeten Troias. Insgeheim war er erleichtert gewesen, diesen unheimlichen Thraker los zu sein, der mehr ein steinernes Wesen zu sein schien als ein Mensch. Man hatte sich erzählt, er sei ein Sohn des Erdenerschütterers Poseidon und von diesem völlig unverwundbar gemacht. Seine Haut solle hart wie Bronze sein. Kein Vernünftiger gab zu, den phantastischen Gerüchten zu glauben, die bereits tagelang vor dessen Ankunft in Troia die Runde machten. Auch Hektor lachte darüber. Doch als er diesen vermeintlichen Poseidonsohn mit seinen spitz zugefeilten und mit Metall überzogenen Fingernägeln – mehr Klauen denn Nägel – zum ersten Mal sah, fiel ihm das Lachen nicht mehr ganz so leicht.

Kyknos kämpfte noch am selben Tag mit Achilleus und fiel. Wie es der Achaier angestellt hatte, erfuhr Hektor nie ganz genau. Zu widersprüchlich waren die Erzählungen. Er hat ihn erwürgt, sagten die einen; andere wiederum, er habe ihn mit einem Stein erschlagen. Zumindest letztere Version konnte nicht stimmen, fand Hektor, nachdem er Achilleus besser kennengelernt hatte. Es paßte nicht zu seinem Kampfstil, der ja nicht auf Körperkraft beruhte. Überhaupt klang alles zu unwahrscheinlich. Manche wollten gesehen haben, wie Kyknos ihm mit seinen Nägeln die Hüfte aufgerissen habe.

Daß Kyknos tatsächlich unverwundbar gewesen war, bezweifelte spätestens beim Anblick der nackten Leiche, die ohne jede Wunde war und wie eine Skulptur wirkte, niemand mehr. Und Hektor begann, sich über dessen Gegner Gedanken zu machen. Er, der von allen Verehrte, den man den besten Krieger Asiens nannte, brauchte am längsten, um zu akzeptieren, daß ihm da plötzlich ein gänzlich Unbekannter überlegen sein sollte

Habe ich jemals wirklichen Haß in seinen Augen gesehen? Ich wünschte, es wäre so: Würde er uns doch wenigstens von ganzem Herzen hassen. Doch das tut er nicht, und demnach ist er noch gar nicht an der Grenze seiner Möglichkeiten angekommen. Wozu wäre er erst imstande, wenn er uns haßte?

Achill. Held und Frevler

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