Читать книгу Das gläserne Tor - Sabine Wassermann - Страница 10

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Wenn man nichts zu tun hatte, konnte man auf merkwürdige Gedanken kommen. Das hatte Anschar in jenem Moment festgestellt, als er sich bei einem weiteren Versuch, sich von der Fessel zu befreien, tief in den Fuß geschnitten hatte. Jetzt prangte an der Felswand das rote Fingerbild des sagenhaften Schamindar. Anschar beschloss, Argads heiliges Tier mit der nächsten Essenslieferung zu verschönern. Der weiße, pappige Brei eignete sich sicher sehr gut für die Reißzähne und Krallen. Probehalber versuchte er mit dem Stein Muster in die Wände zu ritzen. Das gelang, aber die Striche waren blass. Nun, er hatte Zeit. Möglich, dass die Wüstenmenschen ihn endlich töteten, wenn sie feststellten, dass er drauf und dran war, den Verstand zu verlieren. Ob er dann ebenfalls anfing, unverständliches Zeug zu brabbeln wie diese Frau?

Aber sie war nicht verrückt. Sie war nur fremd. Sein Volk und das der Wüste, sie waren sich ebenfalls fremd, aber sie sprachen dieselbe Sprache. Die ganze Welt, soviel er wusste, sprach gleich. Zwar gab es feine Unterschiede. Die Bauern der Hyregor-Gebirgskette im Osten des Hochlandes redeten eine Zunge, die ungewohnt klang, und auch in Praned weit im Nordwesten war es so. Aber niemand hatte Schwierigkeiten, sie zu verstehen.

Kam sie vielleicht aus Temenon, jener Hochebene, die so weit entfernt lag, dass es seit Beginn des Fluches nur wenigen Menschen gelungen war, die Strecke zurückzulegen? Nein, diese Frau war viel fremdartiger, sie kam offenbar von woanders her. Ganz woanders.

Knirschende Schritte verrieten, dass sich mehrere Leute näherten. Anschar stand auf, entfernte sich vom Eingang und starrte abwehrbereit durch die Lücke. Es wurde dunkel, der Stein zur Seite bewegt. Fünf starke Männer waren dazu nötig. Sie machten schnaufend einem sechsten Platz, der geduckt hereinkam und einen Spieß vor sich hielt. Hinter ihm kam die Dorfherrin herein. An der Hand hielt sie die Rothaarige.

»Wir können uns nicht mit ihr verständigen«, fing Tuhrod ohne Umschweife an. »Wo sie herkommt, weiß niemand.«

»Ich auch nicht, das sagte ich bereits. Ich kenne diese Sprache nicht.«

»Ja, ich weiß.« Tuhrod wies auf die Frau, die in sich gekehrt dastand. »Sie ist verzweifelt. Wir müssen mit ihr sprechen, um herauszufinden, wer sie ist und woher sie stammt. Kein Mensch ist einfach plötzlich da.«

Anschar bemerkte, dass die Stirn der Rothaarigen in hilflosen Falten lag. »Sie war einfach da? Was soll das heißen?«

»Eine halbe Wegstrecke in nördlicher Richtung, am Fuß der Felsen, wurde sie gefunden, in seltsamer Kleidung. Dort, wo wir dem Herrn des Windes Gaben darbringen. Mehr wissen wir nicht.«

»Vielleicht hat euer Gott sie ja hingelegt, damit ihr sie opfert.«

Tuhrods Miene verhärtete sich. »Wir kämen nicht einmal auf den Gedanken, den Göttern einen Menschen zu opfern! Tut man das etwa im Hochland?«

»Nein. Ist das Gespräch damit beendet?«

»Sind alle deines Volkes so überheblich?«, fauchte sie mit hörbarem Ärger, was er befriedigt zur Kenntnis nahm. Sie musste den Kopf zurücklegen, um ihn ansehen zu können, was sie mit einem Stolz tat, den er für eine Wüstenfrau unangemessen fand. »Es geht um sie, nicht um dich, du argadischer Sturschädel! Und nun höre endlich zu. Wie es aussieht, ist sie gewillt, sich mit uns zu verständigen. Wir müssen ihr unsere Sprache beibringen – das heißt, du.«

»Ich? Seid ihr zu dumm, es selbst zu tun?«

»Niemand hier hätte dafür Zeit. Bald werden wir weiterziehen, bis dahin hat jeder hier alle Hände voll zu tun. Und bis dahin wirst du diese Frau so weit haben, dass man sich mit ihr verständigen kann. Wie du es anstellst, bleibt dir überlassen.«

»Warum sollte ich das tun? So oder so werde ich wohl nicht dabei sein, wenn ihr hier verschwindet. Und überhaupt: Wie lange willst du mich noch im Ungewissen lassen, was mit mir geschieht?«

»Wir erwarten den Ältesten unserer Sippe etwa in fünfzig Tagen zurück. Er wird dann über dich richten. Vielleicht ist er ja gewillt, milde mit dir zu verfahren. Aber bis dahin tue, was ich dir sage. Es ist nur zu deinem Besten. Bist du einverstanden?«

Er wollte seine Verachtung Tuhrod ins Gesicht spucken, aber dann nickte er widerwillig.

»Du wirst ihr nichts tun«, sagte sie. »Du wirst bei deinen Göttern schwören, dass du dich ruhig verhältst.«

»Was sollte ich ihr ... Ja, bei Inar!«, schrie er. »Ich schwöre. Und jetzt verschwinde, du wirst mir lästig.«

Tuhrods Nasenflügel blähten sich. Sie tat einen tiefen Atemzug. Dann wandte sie sich der Fremden zu und drückte gegen ihre Schultern. Die Frau brauchte eine Weile, bis sie begriff, dass sie sich setzen sollte.

Widerwillig tat sie es und strich dabei das unförmige Gewand unter den Schenkeln glatt. Mit gestrecktem Rücken saß sie da, ein hilfloses Häufchen Elend. Ihre Augen waren verweint. Es schien, als habe sie der unverhohlene Hass erschreckt, den Anschar und Tuhrod einander entgegengeschleudert hatten. Aber die Menschen der Hochebene und die der Wüste hassten sich seit jeher.

Tuhrod strich ihr beruhigend übers Haar und gebot ihr mit Gesten, die Ruhe zu bewahren. Dann ging sie hinaus. Die Männer folgten ihr und rollten den Stein vor. Die Rothaarige starrte ihnen beunruhigt hinterher, hatte aber anscheinend begriffen, dass ihr nichts Böses drohte.

»Ist kein angenehmer Aufenthaltsort.« Betont gleichmütig hockte Anschar sich zu ihr. »Ich nehme allerdings nicht an, dass sie dich erst dann wieder hinauslassen, wenn ich meine Aufgabe erledigt habe. Das würdest du nicht aushalten.«

Sie deutete zum Stein und stieß unverständliche Worte aus, mit harten Zisch- und Knacklauten. Er hob den Finger an die Lippen, und sie schwieg.

»Wie heißt du?« Wie, bei Hinarsyas fruchtbaren Brüsten, sollte er sich mit ihr verständigen? »Streng dich an. Mein Leben könnte davon abhängen, wie es aussieht. Obwohl ich ja eher glaube, dass es keinen Unterschied machen wird. Aber was soll’s, es ist immerhin etwas, womit man sich die Zeit vertreiben kann. Dafür sollte ich den Göttern wohl danken. Also? Wie heißt du? Dein Name!«

Als Antwort brach sie in Tränen aus. Es schien ihr schwer zuzusetzen, dass sie sich nicht verständlich machen konnte. Anschar bedauerte ihre Not, und sanft berührte er ihre Wange. Die Haut war zart, die Flecken ließen sich nicht ertasten. Er versuchte sich an dem aufmunterndsten Lächeln, dessen er derzeit fähig war, und ließ die Finger an ihrem Hals hinabwandern. Ob der Rest ihres Körpers wohl auch so befleckt war? Langsam schob er den Ausschnittsaum ein Stück hinunter. Nach den Monaten des Darbens genügte das schon, ihm das Gefühl zu geben, zwischen den Beinen platzen zu müssen. Und wenn er Glück hatte ...

Ihre Hand flog auf sein Gesicht zu, er konnte sie gerade noch abfangen. Ein Wortschwall ergoss sich über sein Haupt. Bei der Dreiheit, er hatte ja mit einer Abfuhr gerechnet, schließlich bot er einen arg verwahrlosten Anblick, aber nicht mit solcher Empörung! Er hatte doch noch gar nichts getan.

Die Frau war gegen den Stein gerückt und schien sich in ihrem Gewand unsichtbar machen zu wollen. Selbst die Füße hatte sie daruntergesteckt.

»Ganz ruhig, Feuerköpfchen.« Beschwichtigend hob er die Hände. »Es tut mir leid! Ich werde es nicht wieder versuchen.«

Sie schniefte und zitterte, rührte sich aber nicht, als er sich noch einmal, jetzt mit unendlicher Vorsicht, nach ihr streckte. Mit dem Daumen strich er über ihre Wange und hielt ihn ihr vor die Nase.

»Tränen. Verstehst du? Tränen.«

Gebannt starrte sie auf seinen Finger.

»Trä-nen«, stammelte sie.

»Ja.«

»Ja?«

Er nickte. »Ja.« Inar steh mir bei, dachte er verdrossen. Erst jetzt ging ihm auf, wie mühsam es werden würde.

Grazia fand das Erlernen der Sprache leichter als das Körbeflechten. Gleich am ersten Tag hatte Tuhrod ihr ein Bündel Gras in die Hände gedrückt und gezeigt, was sie daraus machen sollte. Doch selbst Wochen danach hatte sie es erst zu einer unförmigen Tasche gebracht, in der sie ihre wenigen Habseligkeiten aufbewahrte.

Stattdessen versuchte sie sich nun am Weben von schmalen Bändern, für die es hier reichlich Verwendung gab. Die Tätigkeit lenkte sie wenigstens ab. Immer noch kam sie sich vor wie in einem Traum. Immer noch kamen ihr Zweifel, ob das alles wirklich geschehen war – der Sturz in die Havel, das Abtauchen in eine fremde Welt.

Wenn sie an ihre Familie dachte, kamen ihr die Tränen, und manchmal fragte Anschar sie, was sie plagte. Manchmal auch nicht, er hatte seine eigenen Sorgen. Er redete nicht darüber, aber jemand, der gefangen gehalten wurde, sah sich gewiss nicht auf der Sonnenseite des Lebens. Meistens hockte er in der Höhle, und sie sprachen durch den schmalen Spalt miteinander; nur ab und zu ließen sie ihn hinaus und banden ihn an wie einen Hund. Er ließ es stoisch über sich ergehen, doch sein Blick indes sprühte vor Zorn. Dann spannte sich sein Körper an, als wolle er seinen Peinigern an den Hals gehen. Einmal war es auch geschehen, da hatte er einem der Wüstenmänner, der ihn leichtsinnig gereizt hatte, den Ellbogen ins Gesicht geschlagen. In den folgenden Tagen hatte er in der Höhle an Händen und Füßen gefesselt ausharren müssen, und seine Laune war unerträglich gewesen.

Grazia gegenüber zeigte er sich zumeist friedlich. Sie spürte, dass ihm etwas an ihren Fortschritten lag.

»Argad ist das mächtigste der vier Länder der Hochebene. Es ist so mächtig, dass oft die ganze Hochebene gemeint ist, wenn man von Argad spricht. Hersched, das kleinste Vasallenkönigreich, ist seit jeher Argad Untertan, Scherach und Praned erst seit der Herrschaft des Meya. Sie sind schwieriger zu bändigen, denn man benötigt ein halbes Jahr, um diese Länder zu erreichen. Hast du das verstanden, Feuerköpfchen?«

Grazia krauste die Stirn. Sie saß im Schatten der Felswand, unter einem schützenden Kapuzenumhang, während er mit verschränkten Armen dastand. Das Grasseil, das eng um seinen Hals lag, verlor sich irgendwo über seinem Kopf in einer natürlichen Öse des Felsens.

»Na, was ist?«

Sie gab die Worte stockend wieder. Verstanden hatte sie fast alles. Die Sprache zu lernen, war ihr zur wichtigsten Beschäftigung geworden, war es doch das Einzige, was sie tun konnte, um sich Klarheit zu verschaffen. Sie gierte danach, also lernte sie schnell. Tuhrod hatte ihr gesagt, dass bald der Stammesälteste käme, ein angeblich weiser Mann. Wenn ihr jemand etwas erklären konnte, dann er.

Anschar brummte unzufrieden. »Hersched, nicht Herschett. Deine Aussprache ist noch ziemlich übel.«

Als ob es darauf ankäme! Aber sie gab sich Mühe und wiederholte den Namen, bis er nickte.

Eine Frau trug einen großen Wasserkrug heran und stellte ihn in gebührender Entfernung in den Sand. Grazia musste ihn für Anschar holen. Er trank geräuschvoll, goss sich ein wenig Wasser über den Kopf und verteilte es auf seinem Gesicht. Es rann durch seinen dichten Bart und tropfte auf die zerschlissene Kleidung – ein ärmelloses Hemd mit geschlitztem Ausschnitt und ein mit Fransen besetzter Wickelrock, der ihm bis zu den Knien reichte. Beides war wohl schwarz gewesen, jetzt aber zu Grau gebleicht. Er ging in die Knie und wischte sich mit dem Saum des Rocks das Gesicht trocken.

Sie hob den schweren Krug, um daran zu nippen, und sah zu, wie er mit dem Finger ein Oval in den Sand malte. Ein Oval mit einer Spitze, wie ein Tropfen.

»Das ist die Hochebene.« Sein Finger teilte die Spitze ab. »Und dies ist Hersched. Es ist von den anderen durch eine Schlucht und eine Bergkette getrennt. Als das Götterpaar Inar und Hinarsya Hochzeit feierte, wollten sie allein sein, unbeobachtet von den anderen Göttern. Sie gingen nach Hersched, das damals die schönste und fruchtbarste Ecke Argads war. Inar zog sein Schwert und trennte es mit einem Hieb vom Rest der Hochebene ab. Und weil er von unten nach oben schlug, flogen die Felsen in hohem Bogen heraus und türmten sich östlich der Schlucht zu dem Gebirge auf, das man den Hyregor nennt. Heute liegt der Fluch der Götter auf dem Land, aber ganz besonders auf Hersched.«

»Der Fluch der Götter?«

Sein Blick war für einen Atemzug in sich gekehrt. »Keine schöne Geschichte. Du willst sie hören?«

»Ja.«

»Später.« Er tupfte Kuhlen in den Sand, beidseits der Linie, die das Oval zerschnitt. »Am Rande der Schlucht liegt die Stadt Heria und ihr gegenüber Argadye, die Hauptstadt des Königreichs Argad. Ohne die Schlucht wären beide Städte wie eine einzige. So aber sind sie nur mit einer Brücke verbunden.«

»Nur mit einer?«

»Es gab drei Brücken, aber die anderen wurden in früheren Kriegen zerstört. Ich kann dir nicht sagen, warum sie nicht wieder aufgebaut wurden. Es dürfte wohl nicht gerade einfach sein, eine Brücke über einer Schlucht zu errichten. Jedenfalls nicht über dieser Schlucht. Wenn du sie siehst, verstehst du, was ich meine.«

Ja, wäre ich nur dort!, dachte sie. Ob es in Argad jemanden gab, der ihr helfen konnte? Sie brannte darauf, endlich verstanden und nicht nur als eine Art exotisches Findelkind betrachtet zu werden. Ungeduldig nahm sie wieder ihr lästiges Handarbeitszeug auf und fuhr fort, krumme Bänder zu weben.

»Musst du auch kämpfen? Wenn Krieg ist?«

»Weshalb sollte ich?«, fragte er sichtlich verwundert. »Bauern werden in die Schlacht geschickt. Ich bin einer der Zehn.«

»Zehn?«

»Habe ich dir das noch nicht erklärt?« Anschar hob die rechte Faust vor sein Gesicht und ballte sie, sodass die schwarze Tätowierung darauf zum Leben erwachte. Es war eine schlangendicke, vielfältig verzierte Linie, die sich von seinem Ellbogen ausgehend um den Arm wand und auf seinem Handrücken in vier dünneren Linien auslief. Sicher hatte er es schon erklärt, gleich zu Anfang, denn sie hatte ihn neugierig nach dieser auffälligen Zeichnung gefragt. Aber verstanden hatte sie damals nur wenig. »Die Aufgabe der Zehn ist es, den König zu schützen.« Er öffnete die Faust und hielt ihr die Handfläche hin. Auf den Ballen unterhalb der Finger waren vier winzige Tätowierungen zu sehen, wie Spuren von Vogelfüßen. »Das ist sein Zeichen: die Krallen des Schamindar, der Großen Bestie, Argads heiligem Tier.«

Das war wohl so etwas wie der Reichsadler. Grazia fand es barbarisch, den Arm eines Mannes derart zu verunstalten, obwohl es interessant aussah.

»Vor langer Zeit wurden Schlachten auch durch Zweikämpfe entschieden«, redete er weiter. »Seit der König – der Meya – über ganz Argad herrscht, gab es solche Kämpfe nicht mehr. Niemand fordert ihn heraus. Wer würde sich auch gegen einen der zehn besten Krieger von Argad stellen?«

»Und wer ist der beste?«

»Das wissen die Götter, Feuerköpfchen«, gab er zurück und hob lächelnd die Brauen. Für den schlechtesten der Krieger hielt er sich offenbar nicht. Er verwischte die Zeichnung im Sand. »Nun aber etwas anderes. Geh zu Tuhrod und bitte sie um ein Rasiermesser.«

»Ra-sier-messer

»Ja.« Er zupfte an seinem Kinn. »Mir geht der Wald auf die Nerven. Argaden sind keine Bartträger.«

»Sie wird dir nicht ... kein Rasiermesser geben.«

»Dann überrede sie.«

»Ich kann das nicht.«

»Natürlich kannst du.« Er tippte ihr so heftig gegen die Schulter, dass es wehtat. »Du willst den Weg zurück in deine Heimat finden und zögerst bei einer so kleinen Hürde? Gib dir Mühe! Natürlich rückt sie es nicht einfach so heraus. Wie du es anstellst, ist mir egal. Und jetzt geh.«

Grazia legte das Grasband beiseite und machte sich auf den Weg in Tuhrods Zelt. Die Dorfherrin war mit ein paar weiteren Frauen damit beschäftigt, die Vorratskrüge zu prüfen. Lautstark schnatterte sie ihre Anweisungen und bemerkte Grazia erst, als diese an ihrem Gewand zupfte. Unter dem Geplapper der Frauen fiel es ihr noch schwerer, Anschars Wunsch zu wiederholen; wie erwartet schüttelte Tuhrod den Kopf und bedachte sie mit einem grimmigen Wortschwall. »Argadischer Hund« war noch das Mildeste, was Grazia heraushörte. All ihre unbeholfenen Überredungsversuche scheiterten schon im Ansatz, und so kehrte sie unverrichteter Dinge zu Anschar zurück.

»Sie gibt dir kein Rasiermesser.«

»Du hast dich nicht genug angestrengt«, knurrte er.

»Doch, habe ich«, erwiderte sie, hockte sich missmutig wieder hin und nahm das Band zur Hand. Hatte er wirklich geglaubt, man werde ihm etwas in die Hand geben, mit dem er seine Fessel durchschneiden konnte? »Und ich will nicht mehr lernen ... heute!«

»Warum gehst du dann nicht ins Zelt?«

Sie ärgerte sich über ihre Bockigkeit ebenso wie über seine Strenge. Er schlang eine Hand um das Seil, zog sich auf die Füße und kehrte ihr den Rücken zu. Dann band er seine Haare im Nacken zusammen und begann, sie zu mehreren fingerdicken Zöpfen zu flechten.

Ihre Hände hörten auf zu arbeiten, während sie das Muskelspiel seiner bloßen, mit einigen feinen Narben versehenen Arme betrachtete. So etwas ... Archaisches hatte sie noch nie leibhaftig zu Gesicht bekommen. Es erinnerte sie an die Abbildungen griechischer Kouroi in den Büchern ihres Vaters. Am linken Ohrläppchen saß ein eng sitzender, flacher Bronzering mit einer Öse daran, die vermutlich dafür gedacht war, weiteren Schmuck einzuhängen. Zu gerne hätte sie gewusst, wie argadische Männer aussahen, wenn sie nicht zerlumpt und dreckig waren. Als sie glaubte, Anschar wolle sich umdrehen, fuhr sie hastig mit dem Weben fort und kämpfte darum, nicht zu erröten. Vielleicht war es tatsächlich besser, sich ins Zelt zurückzuziehen und in ihrem Fontane zu lesen, statt über Männerkörper nachzudenken. Bislang hatte sie ihr Buch nicht wieder aufgeschlagen, denn sie befürchtete, dass ihr Heimweh dann übermächtig werden würde. So wie jetzt ... Schniefend drückte sie das Felsengrasknäuel an ihr Gesicht.

»Warum heulst du, Feuerköpfchen?«

Grazia zog die Nase hoch. »Ich dachte an Theodor Fontane.«

Er wandte sich ihr zu. »Was ist das?«

»Nicht was. Ein Mann. Er hat gemacht ... erzählt. Geschichten. So wie deine Bilder in der Höhle.«

»Dein Mann?«

»O nein!« Manchmal, so fand sie, kam er wirklich auf seltsame Gedanken. »Ich kenne ihn nicht.«

»Versuch sie zu erzählen«, forderte er sie auf.

Grazia zögerte, aber schließlich rief sie sich in Erinnerung, was sie zuletzt gelesen hatte. Ein rätselvolles Eiland, eine Oase, ein Blumenteppich inmitten der Mark. Aber so war es nicht immer hier. All das zählt erst nach Jahrzehnten ... »All das ist seit Jahren – zehn Jahre. Am Ende der – der Jahre war diese ... sie war eine Wildnis. Die Insel

»Insel?«

»Ein Land im Wasser, klein. Da war ich, davor ... bevor ich durch das Wasser – irgendwie – herkam.« Aufstöhnend ließ sie das Geflecht sinken. »Ich kann nicht!«

»Du lernst sehr schnell.« Er hockte sich wieder hin, seine Züge hatten sich entspannt. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich für so etwas einen passablen Lehrer abgebe. Erzähl etwas in deiner Sprache.«

Der Aufforderung kam sie nur zu gern nach. »Ich erzähle von einem Mann. Er stammt aus meinem Land. Er heißt Herr von Ribbeck.« Sie räusperte sich.

»Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,

Ein Birnbaum in seinem Garten stand,

Und kam die goldene Herbsteszeit

Und die Birnen leuchteten weit und breit,

Da stopfte, wenn’s Mittag vom Turme scholl,

Der von Ribbeck sich beide Taschen voll,

Und kam in Pantinen ein Junge daher,

So rief er: ›Junge, wiste ’ne Beer?‹

Und kam ein Mädel, so rief er: ›Lütt Dirn,

Kumm man röwer, ick hebb ’ne Birn.‹

So ging es viel Jahre, bis lobesam

Der von Ribbeck auf Ribbeck zu sterben kam.«

Anschar unterbrach sie mit einem belustigten Schnaufen. »Was ist das nur für eine harte Sprache? Überall zischt und spuckt sie, schauderhaft.« Plötzlich wurde sein Blick finster – sehr finster. Doch er galt nicht ihr, denn sie hörte die Frauen aufschreien. Die Tage waren friedlich gewesen, aber von einer Sekunde auf die andere schien das ganze Dorf in Aufruhr zu geraten. Die Männer stürzten aus den Zelten, alle strebten in eine Richtung, fort von der Felswand. Nur die Kinder und ein paar ältere Frauen blieben zurück, um die unruhig meckernden Ziegen einzusammeln und in ein Gatter zu sperren.

Grazia sah in der Ferne eine Staubwolke.

»Was ist das?«, fragte sie, mehr zu sich selbst, doch Anschar erwiderte düster:

»Wahrscheinlich der Mann, den Tuhrod angekündigt hat. Er kommt, um ihrem Gott zu opfern. Hoffentlich nicht mich.«

Er flog regelrecht auf die Füße, als fünf Männer herangestürmt kamen. Grazia machte, dass sie außer Reichweite kam. Sie umringten ihn in gebührendem Abstand, und erst, als er sich überwand, ihnen den Rücken zu zeigen und die Hände über dem Gesäß zu verschränken, wagten sie es, ihn anzufassen. Rasch waren seine Hand- und Fußgelenke gefesselt, ebenso rasch der Felsblock beiseitegerollt. Dann erst schnitten sie sein Halsband durch. Anschar verschwand in seinem dunklen Gefängnis, und als der Stein wieder an Ort und Stelle saß, liefen die Männer zu den Zelten zurück.

Grazia lugte durch den Spalt. Wie immer hatte er sich dicht neben dem Block niedergelassen, als wolle er sich verstecken.

»Die schwachsinnigen Tiere haben vergessen, die Handfesseln zu entfernen!«, schrie er in die Düsternis. »Inar verfluche sie dreimal!«

Grazia wandte den Blick von dem Felsen, raffte sodann ihr lästiges Gewand und folgte dem Lärm. Alles drängte sich auf der anderen Seite des Dorfes. Als sie das äußerste Zelt hinter sich gelassen hatte, stieß sie beinahe gegen eine Gruppe Frauen, die ausgelassen winkten. Noch sah sie nichts als die sich nähernde ockerfarbene Wolke, aber dann lichtete sich diese und gab den Blick auf ein zotteliges Reittier frei. Es trug einen Mann, der von einem Baldachin beschirmt und von bewaffneten Männern begleitet wurde. Krumm saß er im Sattel, als habe ihn die lange Reise all seiner Kräfte beraubt. Tuhrod eilte ihm entgegen, streckte sich zu ihm hoch und berührte seine Hände. Unter der Kapuze war ein freundliches Gesicht zu erkennen. Seine Begleiter lenkten das Tier zur Dorfmitte. Die Menschen machten eine Gasse für ihn frei, Frauen brachten Matten und warfen sie eilends auf den Boden. Er winkte einen seiner Männer heran, der ihn aus dem Sattel hob und vorsichtig auf die Füße stellte.

Allem Anschein nach musste es sich um den Stammesältesten handeln, dachte Grazia. Tuhrod verbeugte sich tief vor ihm und berührte auffordernd seine rechte Hand, die er in einer segensreichen Geste auf ihre Schulter legte. Über sie hinweg ließ er den Blick schweifen, bis er an Grazia hängen blieb. Vor Staunen stand ihm der Mund offen.

Er klopfte Tuhrod auf die Schulter, sodass sie sich aufrichtete und beiseitetrat. Als Grazia sich zögernd näherte, wedelte sie abwehrend mit den Händen.

»Verzeih«, sagte Grazia und machte unwillkürlich einen Knicks. »Darf ich sprechen dich?«

Er streckte die Hand nach ihren Haaren aus, konnte sich aber nicht überwinden, sie zu berühren. Auf seiner Miene spiegelten sich Neugier und Abwehr.

»Ich bin müde«, sagte er, als verdanke er dies erst der Tatsache, einer solch ungewöhnlichen Frau zu begegnen. Tuhrod umfasste seinen Arm und gab ihr zischend zu verstehen, dass sie sich gedulden solle. Sie führte ihn zu ihrem Zelt, während zwei Frauen schwere Wasserkrüge hineintrugen. Der Rest des Dorfes scharte sich um die Männer und das Reittier. Kinder zupften an den langen Zotteln des Tieres und rannten schreiend davon, als es ihnen den massigen Kopf zuwandte.

Es war so groß wie drei Ochsen und von Fell überwuchert wie ein Kamel. Auf dem dicken Hals saß ein nashornähnlicher Kopf, aus dem ein abgesägtes Horn ragte; ein ähnlich dicker Schwanz, sicherlich an die zwei Meter lang, reckte sich in die Höhe, als das Tier mitten auf den Dorfplatz kotete. Die Kinder zögerten nicht, die feuchten Äpfel mit bloßen Händen aufzusammeln und zum Trocknen fortzutragen. Inzwischen wurde Grazia von dem Anblick nicht mehr übel, aber sie schüttelte sich unwillkürlich.

Das Geschrei der Kinder und die mahnenden Rufe der Frauen waren zu viel für Grazia. Die Neuankömmlinge störten sich nicht daran, sie genossen es sichtlich, von freundlichen Händen umsorgt zu werden, tranken an Ort und Stelle ein Dutzend Wasserkrüge leer und ließen sich in die Zelte fuhren. Jeder Zeltbesitzer schien geradezu begierig, einen der Fremden beherbergen zu dürfen. Einige der Männer hatten Grazia natürlich entdeckt und starrten sie an, aber glücklicherweise näherten sie sich ihr nicht. Währenddessen scharten sich die Frauen emsig um die Kochstelle, um die Gäste bewirten zu können. Grazia überlegte, ob sie ihre Hilfe anbieten sollte, aber die Frauen würden sie nicht bei sich haben wollen, und der Lärm bereitete ihr Kopfschmerzen. Oder war es die Hitze? Es war so ein schreckliches Land!

Sie beschloss, zu Anschar zurückzugehen und ihm etwas vorzujammern. Da sah sie Tuhrod aus dem Zelt treten und sie heranwinken.

Würde sie jetzt Erklärungen bekommen? Voller Hoffnung folgte Grazia dem Wink und ging in Tuhrods Zelt. Der Stammesälteste saß auf einem Bett aus Fellen und Kissen und lächelte selig, denn eine Frau massierte seine Füße. Tuhrod futterte ihn mit Graswurzelbrei. Nun, da er sich seines alles verdeckenden Umhangs entledigt hatte, sah Grazia, wie klein er war, fast wie ein Kind. Sein Gesicht war von unzähligen Falten durchzogen, in denen Sandkörner hafteten, als seien sie eingewachsen. Haare besaß er kaum noch, aber ein paar gelbe Zähne, die er entblößte, als er Grazia eintreten sah. Er klopfte neben sich auf ein Kissen.

»Setz dich, fremde Frau. Tuhrod hat mir von dir erzählt. Verstehst du mich?«

Grazia hockte sich im Schneidersitz auf das Kissen und sortierte das Gewand, damit es ihre Beine bedeckte. »Ja, aber nicht gut. Bitte sprich langsam.«

Er nickte träge. »Ich bin Tuhram. Wie ist dein Name?«

»Grazia Zimmermann.«

»Sehr ungewöhnlich.« Er verzichtete darauf, den Namen zu wiederholen. »Du stammst in der Tat von weit her. Von woher?«

Das hatte sie schon Anschar und Tuhrod zu erklären versucht, aber es war hoffnungslos, dazu fehlten ihr zu viele Wörter, für die es in dieser Sprache womöglich gar keine Entsprechung gab. Hilflos schüttelte sie den Kopf. »Es ist anders ... als hier.«

»Wie anders?«

Sie rutschte auf den Knien zu der Ecke, wo sie ihre geflochtene Tasche aufbewahrte, nahm das Handtäschchen heraus und schüttelte den Inhalt auf das Kissen.

»So anders.«

Seine dunklen Augen wurden groß. Er schob Tuhrods Schale beiseite und neigte sich vor, um nach dem Buch zu greifen, doch dann zog er die Hand zurück. »Das sind Dinge, die nicht hier sein sollten. Ebenso wenig wie du.« Er lehnte sich in die aufgehäuften Kissen zurück. »Tu das wieder weg und erzähle, wie du hergekommen bist.«

Vielleicht war er abergläubisch. Auch Tuhrod hatte diese Sachen nur ungern angefasst. Grazia fragte sich im Stillen, ob Anschar wohl mutiger wäre als die beiden. Sie verstaute ihre harmlosen Habseligkeiten wieder in der Tasche und setzte sich zurück auf ihren Platz. Mit Gesten und umständlichen Umschreibungen versuchte sie wiederzugeben, was ihr widerfahren war. Auf Tuhrams zerfurchter Miene breitete sich Fassungslosigkeit aus.

»Eine Landschaft voll Wasser?«, fragte er und sah dabei Tuhrod an.

»So hat sie es mir auch erzählt«, erwiderte die Dorfherrin, während sie ihm den Rest des Breis in den Mund schob. Er leckte sich die Mundwinkel und schien darüber nachzusinnen, ob Grazia nicht bloß verrückt war.

»So etwas gibt es in der Hochebene. Du bist gefallen – vielleicht von dort herunter? Wohl kaum! Kein Mensch überlebt so einen Sturz. Und selbst wenn, wie bist du dann hergekommen? So tief in die Wüste dringen die Hochländer nicht vor.«

Tuhrod räusperte sich. »Einige haben es getan. Sechs Männer. Den letzten, der am Leben war, verschonten wir.« Sie trug die Schale weg und brachte einen Wasserbalg, den sie ihm an den Mund hielt. Er schob ihn jedoch weg.

»Ein Mann aus dem Hochland ist hier?«

»Ja. Du sollst entscheiden, was mit ihm geschehen soll.«

»Hier jagt eine Überraschung die andere!« Er wandte sich wieder Grazia zu und klopfte an seine Stirn. »Erklären kann ich es mir nicht, außer dass du tatsächlich gefallen bist und etwas bei dir durcheinandergeraten ist. Oder bist du eine Nihaye? Nein, sicher nicht.«

»Eine ... Nihaye?«, fragte Grazia. »Was ist das?«

»Die Menschen der Hochebene glauben an Halbgötter. Ob das stimmt, wer kann das sagen? Vielleicht nicht einmal dieser Mann, den Tuhrod erwähnte. Hat er nichts darüber gesagt?«

Ihr schwirrte der Kopf. Sie verstand Tuhram nur, weil Anschar inzwischen einiges von seiner Religion erzählt hatte. Viele der Worte kannte sie bereits, nur an die Nihaye konnte sie sich nicht erinnern. Halbgötter. »Er hat erzählt. Viel erzählt. Aber ich habe nicht immer verstanden. Vieles nicht. Es ist mühsam.«

»Du sprichst schon sehr gut. Der Rest kommt mit der Zeit.«

»Mit der Zeit? Ich möchte zurück nach ... wo ich herkomme!«

»Vielleicht hat der Herr des Windes dich hergetragen. Es gibt so viele Möglichkeiten.«

Die Gelassenheit des Stammesältesten machte sie unruhig. Sie musste an sich halten, nicht unfreundlich zu klingen. »Das hilft mir nicht. Was soll ich tun?«

»Hierbleiben, einen Mann suchen, der es wagt, sich mit dir einzulassen, ihm Kinder schenken und warten«, antwortete er, und das schien er ernst zu meinen. »Irgendwann kommt die Zeit, wo du verstehen wirst.«

»Und was tue ich bis ... bis dahin?«, rief Grazia und sprang auf. »Gras flechten?« Ärgerlich stapfte sie aus dem Zelt. Kaum war sie draußen, schämte sie sich für ihr Benehmen. Ihre Mutter würde ihr einiges erzählen! Sie stellte sich vor, wie Luise Zimmermann mit diesem Wüstenmann zu reden versuchte, und musste, trotz ihres Heimwehs, lachen.

»Ach, das ist doch alles zu dumm«, schnaufte sie auf Deutsch und stapfte zur Höhle zurück. Ins Zelt wollte sie nicht, und anderswo gab es für sie keinen halbwegs erträglichen Platz. Sie blickte durch die Öffnung und sah Anschar zusammengerollt auf dem Sandboden liegen. Als sich die Höhle verdunkelte, richtete er sich sofort auf.

»Und?«, fragte er. »Bist du klüger?«

»Nein. Nur ich weiß jetzt, er sagte, ich sei vielleicht eine Halbgöttin.«

Er prustete. »Du? Nihayen wurden vor langer Zeit gezeugt, als die Götter noch auf dem Hochland weilten. Dort streiften sie oft herum und beschliefen Menschenfrauen. Wärst du eine Nihaye, müsstest du eine uralte verschrumpelte Vettel sein. Nein, es gibt sie nicht mehr, und so ein schreckhaftes Mädchen wie du ist ganz bestimmt keine Nihaye.«

Schreckhaft? Sie? Stimmte das? Sie verkniff es sich, nachzuhaken; er würde sie nur weiterhin auslachen. »Bitte erzähl das Geschichte von den zehn Männern. Kriegern. Vielleicht verstehe ich sie besser jetzt.«

»Die Geschichte. Wie du willst«, sagte er ergeben und kroch näher. Grazia ließ sich an der Felswand nieder, deren Schatten mittlerweile das ganze Dorf erfasst hatte. Es war merklich kühler geworden, zu dieser Stunde wurden die Temperaturen angenehm. Wenn sie nicht an ihr Zuhause dachte, an ihre Familie und das lebhafte Berlin, ihre Lieblingsbücher und den frischen Sommerregen am Wannsee, die Spaziergänge im Grunewald oder auf der Pfaueninsel, dann konnte sie die Schönheit der Wüste würdigen. So war es selten, denn das Heimweh nagte beständig an ihr. Sie konnte hier nicht bleiben, keiner von diesen Wüstenleuten vermochte ihr zu helfen. Aber vielleicht verhielt es sich in dieser sagenumwobenen Hochebene anders. Vielleicht konnte ihr dort jemand sagen, wie sie den Weg zurück durch diese ... Schleuse fand.

Und warum sie überhaupt hindurchgefallen war.

In der Nacht wurde sie geweckt. Tuhrod befahl ihr, das Zelt zu verlassen. Schläfrig tastete Grazia nach einer Wolldecke und wollte aufstehen. Doch da war es Tuhram, der ihr mit der Hand bedeutete, sitzen zu bleiben, und Tuhrod anwies, für Licht zu sorgen. Kaum hatte Tuhrod die Deckenlampe entzündet, betraten mehrere Männer das Zelt. Argwöhnisch musterten sie Grazia, aber keiner von ihnen wandte etwas gegen ihre Anwesenheit ein.

»Hab keine Angst«, sagte Tuhram, der sich aufgesetzt hatte und wie ein kleiner König inmitten des Zeltes thronte. »Ich will über den Fremden richten. Hör dir das ruhig an, vielleicht ist es ja nützlich für dich. Aber misch dich nicht ein und bleib unsichtbar. Das ist eine Angelegenheit der Männer. Nur Tuhrod darf reden.«

Wenigstens das ist nicht viel anders als daheim, dachte Grazia spöttisch und rutschte bis zu den Decken zurück, die Tuhrods Schlafbereich begrenzten. Die Männer ließen einen Lederbalg kreisen, der den Geruch von vergorenem Wurzelsud aussandte. Noch warteten sie und unterhielten sich leise. Sie wirkten entspannt, Grazia hingegen kaute vor Aufregung an ihrem Daumennagel. Als am Eingang die Zeltplane hochflog und Anschar mit kleinen Schritten hereinkam, war ihr danach wegzulaufen. Oder sich wenigstens in den hinteren Wohnraum zu verkriechen.

Vier Männer führten ihn vor die Versammelten, die ihn feindlich, aber auch neugierig musterten. Sein Blick streifte Grazia. Sie las darin flüchtiges Erstaunen.

Seine Hände waren wieder im Rücken gefesselt. Er wirkte müde. Vierundsechzig Tage war er nun schon Gefangener der Wüstenmenschen. Für Grazia waren es zehn Tage weniger. Inzwischen wusste sie, dass ein Monat vierzig Tage hatte und im Hochland in vier zehntägige Wochen eingeteilt wurde, was in der Wüste bekannt, aber unüblich war. Nach seiner Zeitrechnung war er also seit anderthalb Monaten gefangen, aber er gab sich Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen. Aufrecht blieb er vor den Versammelten stehen.

»Knie dich hin«, sagte Tuhram.

Was sich auf diesen Befehl hin in Anschars Gesicht abspielte, konnte Grazia nur als heilige Empörung bezeichnen. »Hinknien? Vor euch!«

»Ich will nicht, dass mir der Nacken steif wird, wenn ich dich ansehe.«

»Was schert mich das!«

Die Männer packten seine Schultern und zerrten an ihm herum. Er drückte die Knie durch.

»Du sollst dich hinknien!«, keifte Tuhrod.

Hasserfüllt sah Anschar sie an. Mit einem Mal sank der Wächter, der hinter ihm stand, zu Boden. Anschar hatte ihm die Schulter ins Gesicht gerammt, und zwar so schnell, dass Grazia kaum begriff, was geschehen war. Die Männer wollten ihn fluchend niederwerfen, doch er wehrte sich trotz seiner Fesseln so geschickt, dass sogleich der nächste zu Boden ging. Dabei brüllte er seine Wut hinaus. Sein Gesicht war gerötet, und die Armmuskeln spannten sich, als habe er endlich die Kraft, die lästige Fessel zu zerreißen.

Das gelang ihm nicht, aber er schaffte es, stehen zu bleiben. Einige Männer hatten sich erhoben. Auch Grazia war aufgesprungen. Einer hatte plötzlich einen Wurfspieß in den Händen.

»Anschar!«, schrie sie. »Bitte hör auf!«

Er hielt still. Die gehärtete Spitze des Spießes drückte gegen die Kuhle seines Schlüsselbeins. Und doch war sie sich sicher, dass es ihr Ruf gewesen war, der ihn zur Besinnung brachte. Die Männer setzten sich wieder, bis auf zwei, die hinter ihn traten, um die beiden verletzten Wächter zu ersetzen. Anschar starrte auf den Mann, der den Speer hielt.

»Bitte«, sagte sie, nun leiser. »Bitte lass dir nicht töten.«

Seine Brust hob und senkte sich schwer. Stoßweise kam sein Atem und verriet die Wut, die noch in ihm tobte. »Lass dich nicht töten.«

»Ja, ist gut«, presste sie heraus.

»Deinetwegen, Feuerköpfchen.« Er ließ sich auf die Knie fallen. Nur langsam vermochte er sich zu beruhigen; er hielt den Kopf gesenkt und war in den nächsten Minuten ganz mit sich und seiner Demütigung beschäftigt. Fast sah es so aus, als kämpfe er mit den Tränen. Aber da täuschte sie sich gewiss. Anschar heulte, weil er knien musste? Undenkbar.

»Tuhrod«, sagte Tuhram, nachdem sich alle wieder beruhigt hatten. »Berichte uns, was der Fremde getan hat.«

Die Dorfherrin brachte ein Schwert, stellte sich vor Tuhram auf und hielt es, mit der Spitze nach unten, von sich.

»Damit hat er acht unserer Männer erschlagen. Ihre Familien sind in Trauer.«

Anschars Nasenflügel blähten sich. Es war seine einzige Reaktion auf ihre Worte.

»Er sagte, er habe sich und seine Leute verteidigt, das ist wohl richtig«, fuhr sie fort. Die Klinge blitzte im Licht der Öllampe, als sie sie drehte. »Aber sie kamen in feindlicher Absicht her. Das jedenfalls glaube ich. Wir alle glauben das. Da er es bestreitet, habe ich ihn verschont. Entscheide du.«

Tuhram nickte und rieb sich das Kinn. »Es geschieht selten, dass unser Volk einen von ihnen in die Finger bekommt. Sie sind nicht stärker, aber besser bewaffnet. Unsere Männer taugen zum Jagen, aber wenig zum Kämpfen. In der Hochebene weiß man, was Krieg ist. Dort gilt das Leben eines Wüstenmannes nichts.« Er ließ sich das Schwert in die ausgestreckten Hände legen und neigte den Kopf darüber. »Wirklich erstaunlich. Hier gibt es wenige Männer, die sich auf Metallbearbeitung verstehen, und diese kämen nie auf den Gedanken, so etwas anzufertigen.«

Grazia fragte sich, was er wohl sagen würde, könnte er die Waffen ihrer Zeit sehen. Wahrscheinlich würde er angesichts eines Kanonengeschützes in Ohnmacht fallen.

Er legte es beiseite und wandte sich an Anschar. »Bist du ein Sklavenhändler?«

»Nein.«

»Das ist unglaubwürdig, das weißt du?«

»Ja.«

Grazia japste und schlug sich die Hand vor den Mund. Die Männer warfen ihr missbilligende Blicke zu. Sklavenhändler? Dieses Wort hatte sie bereits in den ersten Tagen gelernt, denn die Wüstenmenschen fürchteten sich vor den Sklavenfängern aus dem Hochland. Nicht einen Augenblick lang war sie jedoch auf den Gedanken gekommen, Anschar könne einer sein.

»Was bist du dann?«, fragte Tuhram.

»Ein Krieger.« Anschars Miene wurde noch finsterer. »Einer der zehn besten Krieger des Hochlandes.« Er spuckte es den Männern geradezu vor die Füße. Sie murrten, einige sprangen auf und zogen Messer, die sie in seine Richtung stießen. Tuhram forderte sie mit erhobenen Händen auf, sich wieder zu setzen.

»Mit denen rede ich nicht«, sagte Anschar, jetzt etwas ruhiger, als habe er sich wieder unter Kontrolle. »Nur mit dir und meinetwegen mit Tuhrod. Und die Rothaarige soll auch bleiben.«

»Wer bist du, hier Forderungen zu ...«, schrie einer der Männer, doch Tuhrams Handbewegung brachte ihn zum Schweigen.

»Ihr geht alle hinaus. Bis auf die Frauen.«

Fassungslosigkeit machte sich auf den bärtigen Gesichtern breit. Die Augen der Männer funkelten wie schwarz lackiert. Doch sie gehorchten. Einer nach dem anderen verließ das Zelt. Grazia spürte, wie ihre Anspannung wich.

»So, jetzt sind wir allein. Das da brauchen wir wohl nicht mehr.« Tuhram berührte den Schwertgriff und blickte auffordernd zu Tuhrod, die die Waffe zurück hinter die herabhängenden Decken brachte. »Warum bist du gekommen?«

»Um den letzten Gott zu finden«, antwortete Anschar ohne weiteres Zögern. »Den letzten Gott, der in dieser Welt weilt.«

Sie schwiegen sich an. Tuhram und Tuhrod wechselten einen Blick, der besagte, dass sie mit allem gerechnet hatten, nur damit nicht.

»Er ist nicht unser Gott, wie alle eure Götter nicht die unsrigen sind«, sagte Tuhram nach einer Weile. »Aber wir kennen die Geschichten, die sich um ihn ranken. Er hat eine Schwäche für die Menschen des Hochlandes, und so blieb er bei ihnen, als die anderen Götter es verließen, weil sie es leid waren, euch kämpfen zu sehen. Ihr versteht es, Waffen zu schmieden und zu gebrauchen, aber ihr versteht es nicht, eure Götter zu besänftigen. Sie sind vermutlich so abscheulich wie ihr.«

»Und du verstehst es nicht, deine Abneigung zu verbergen«, erwiderte Anschar unbeeindruckt. »Nun gut, das tue ich auch nicht.«

Tuhram machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das gestehe mir zu, so sehr, wie dein Volk das meine quält. Aber sprich weiter. Weshalb wolltest du diesen Gott finden?«

»Um ihn meinem König zu bringen. Der Gott wurde von seinen Eltern vor langer Zeit an einen Ort tief in der Wüste verbannt, zur Strafe, weil er ihnen nicht folgen wollte. Dort entstand eine Oase. Ein Priester begleitete uns. Er sagte, sie sei hier irgendwo.« Anschar zuckte mit den Schultern, und Grazia malte sich aus, wie er verächtlich abwinkte, hätte er die Hände frei. »Er ist jetzt tot. Jedenfalls ... der Grund, ach ja.« Er schnaufte, als müsse er sich jedes Wort abringen. »Seit einigen Jahrzehnten breitet sich auf der Hochebene Trockenheit aus. Es ist heißer als üblich, es regnet weniger.

Es gibt ständig Missernten, die Flüsse fuhren kaum noch Wasser, der Pegel des Großen Sees sinkt. Die letzte Missernte hätte fast eine Hungersnot verursacht. Danach schickte mein König mich los.«

Tuhram hatte aufmerksam zugehört. Nun wandte er sich an Tuhrod, die mit den Schultern zuckte. Sogar zu Grazia drehte er sich um, doch sie konnte erst recht nichts Erhellendes dazu beitragen. Sie war sich nicht einmal sicher, alles verstanden zu haben.

»Dieser Gott, der angeblich hier irgendwo eine Oase geschaffen hat, soll die Hochebene wieder fruchtbar machen?«, fragte Tuhram den Gefangenen. »Darum geht es?«

»Ja.«

»Wie könnt ihr glauben, einen Gott zu befreien, den andere Götter gefangen gesetzt haben?«

»Diese Frage hat man sich natürlich auch gestellt. Man sagt, dass dem Gott ab und zu die Flucht gelingt. Im Grunde weiß ich darüber aber nichts, für dieses Problem hatte ich ja einen Priester bei mir – den ihr abgeschlachtet habt. Der wusste zwar auch nicht viel mehr, aber ich allein kann gar nichts tun. Glaubst du jetzt, dass ich kein Sklavenhändler bin?«

Tuhram wiegte das kahle Haupt. »Was ist wohl wahrscheinlicher? Dass diese krude Geschichte stimmt? Oder dass du eben doch nur ein verirrter Sklavenfänger bist, der Zeit genug hatte, sie sich auszudenken?«

»Ich hatte Zeit, ja«, brummte Anschar. »Genug, um mir etwas Glaubwürdigeres einfallen zu lassen. Sie ist wahr.«

»Und das ist so bestechend an ihr.« Tuhram entblößte die Zahnstummel zu einem heiteren Lächeln. »Dass sie zu verrückt ist, um gelogen zu sein. Aber sie ist auch zu verrückt, um wahr zu sein. Sie ist irgendetwas dazwischen, und daher weiß ich nicht, was ich mit dir tun soll. Nun, da es hier weit und breit keine Oase gibt, die eines Gottes würdig ist, bist du gescheitert, gleichgültig, was mit dir geschieht. Hm, was tue ich nun mit dir? Dich freilassen? Das hilft dir nicht, denn allein kannst du nie die Wüste überwinden, um in deine Heimat zurückzukehren. Du könntest aber hier bleiben und uns ein wenig für das entschädigen, was deine Leute uns antun.«

»Du willst, dass ich euch ... diene?« Anschar spuckte die Worte aus und verzog angewidert das Gesicht. »Glaubst du, ich wollte hier alt werden? Bei Inars Zunge, welch ein abscheulicher Gedanke! Du hast nur zwei Möglichkeiten: mich freizulassen oder zu töten.«

Schweigen breitete sich aus. Anschar blickte zum Zelteingang, als habe er hiermit alles gesagt. Grazia schlug das Herz bis zum Hals. Als Sklaven konnte sie sich ihn wahrhaftig nicht vorstellen. Tot schon gar nicht. Ob er seine Geschichte tatsächlich selbst glaubte? Sie passte immerhin zu den Geschichten und Legenden, die er bisher erzählt hatte.

Es ist nur eine Sage, überlegte sie. Er glaubt sie, weil er in dieser Kultur aufgewachsen ist. Das ist alles.

Sie holte tief Luft. Irgendetwas musste sie für ihn tun. Sie wusste nur nicht, was.

»Kann ich ihn haben?«, platzte sie heraus. »Wenn du ihn ... zum Sklaven machst, kann ich ihn kaufen.« Sie kramte in ihrer Tasche und förderte die Uhr ihres Bruders zutage. Justus würde den Verlust verschmerzen, wenn sie ihm erzählte, was sie damit getan hatte. Wenn er ihre Geschichte hörte, würde er gar keine Gelegenheit haben, die Uhr zu vermissen. »Hier. Das gebe ich für ihn.«

Tuhram beugte sich über ihre ausgestreckte Handfläche. »Metall. Dort, wo man feste Häuser baut, meint man, damit alles bewerkstelligen zu können. Kein Werkzeug ist nützlicher als Felsengras.«

»Aber das ist nützlich! Es ist ...«

»Schweig!«, donnerte Anschar. Er schüttelte den Kopf und starrte sie so böse an, dass ihr vor Schreck fast die Uhr aus der Hand fiel.

Tuhram schmunzelte. »Die Hochländer halten sich zwar Sklaven, aber selbst einer zu werden, das erscheint ihnen natürlich undenkbar. Nimm das Ding weg. Habe ich nicht deutlich gemacht, dass ich deine Sachen nicht anfassen will?«

Grazia zog sich hastig zurück und stopfte die Uhr in die Tasche. Sie wagte kaum, noch einmal zu Anschar hinüberzusehen.

»Morgen früh entscheide ich«, sagte Tuhram. »Tuhrod, hole die Männer, damit sie ihn wieder einsperren. Ich will schlafen.«

Tuhrod sprang auf und streckte den Kopf aus dem Zelt; sofort kehrten die Männer zurück und packten Anschar, der schon aufgestanden war, an den Oberarmen. Er ließ sich widerstandslos wegfuhren. Noch eine Nacht in der scheußlichen Höhle, dachte Grazia. Vielleicht die letzte.

Sie rutschte rückwärts in die hinterste Ecke und kauerte sich unter einer Decke zusammen, da sie fror und der Älteste sie ohnehin nicht mehr beachtete. Die Tasche hielt sie an sich gepresst. Hinter sich hörte sie Tuhram stöhnen, als er sich erhob und in Tuhrods Schlafbereich geführt wurde. Wenige Minuten später schnarchte er. Tuhrod löschte die Lampe und legte sich in der Nähe hin.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Nicht seinetwegen. Er ist nicht wichtig für dich.«

War er das nicht? Immerhin hatte er Grazia die Sprache gelehrt und sich dabei viel Mühe gegeben, ohne dass es ihm selbst von Nutzen war. Mit keinem anderen Menschen hatte sie hier mehr Zeit verbracht. Da sollte ihr egal sein, wenn er starb?

Grazia setzte sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Durst plagte sie, also schälte sie sich aus den Decken. Ihr eigener Schweißgeruch stieg ihr in die Nase, während sie zu den Vorräten wankte und sich Wasser aus dem Tonkrug schöpfte. Anfangs hatte sie gar nicht mehr daran gedacht, dass sie das trübe, warme Wasser nicht zu trinken brauchte. Zu sehr hatte der Anblick der zwei Monde sie erschreckt. Erst nach mehreren Tagen hatte sie sich wieder Wasser gemacht, und es war ihr so leicht gefallen wie zuvor. Dennoch behielt sie es bei, ab und zu einen Becher aus dem Krug zu schöpfen, denn andernfalls wäre es wohl aufgefallen.

Sie kroch auf ihren Schlafplatz zurück, holte das Buch aus ihrer Tasche und steckte die Nase zwischen die Seiten. Nie zuvor war ihr aufgefallen, dass es duftete; erst jetzt, da sie ständig von fremden Gerüchen umgeben war. Nichts von dem, was sie als Erinnerung an ihr Leben bei sich trug, hatte einen eigenen Geruch, nur dieses Buch. Und vielleicht die Uhr. Wie spät mochte es sein? Sie war erst mit den ersten Morgengeräuschen eingenickt, so sehr hatte sie die Verhandlung beschäftigt. Müde kramte sie nach der Uhr und klappte sie auf. Während der letzten Wochen hatte sie festgestellt, dass ein Tag in dieser Welt fünfundzwanzig Stunden dauerte. Wenn man das berücksichtigte, ließ sich die Uhr dennoch gebrauchen, und daher wusste sie nun, dass sie den halben Tag verschlafen hatte. Ihr Finger strich über den Rand. Wäre es ihre Uhr, befände sich jetzt ein Bild von Friedrich darin. Sie versuchte ihn sich vorzustellen, aber es wollte ihr nicht so recht gelingen. Da waren seine blonden Haare, der Schnauzbart. Die hochgekrempelten Hemdsärmel. Der Schlamm an seinen Armen. Mehr sah sie nicht. Stattdessen schoben sich dunkle Augen unter ebenso dunklen Brauen vor ihr inneres Auge. Sie waren so viel deutlicher, hatte sie doch erst in der Nacht ihren Blick darin versenkt. Und jetzt? Mit einem leisen Aufschrei kam sie auf die Füße. Das Leben mochte schon aus ihnen gewichen sein – und sie hockte hier herum!

»Tuhrod!«, rief sie. Niemand war hier, nur die Ziege, die es sich auf dem besten Kissen gemütlich gemacht hatte. Grazia ließ die Uhr fallen und stürzte ins Freie. Ihr erster Blick galt der Höhle, die im nachmittäglichen Schatten lag.

Der Eingang war frei.

»Nein! O Gott, lass es nicht wahr sein.«

Grazia raffte das Gewand und stolperte über den Sand. Der Gestank, der aus der Höhle drang, war schwächer als sonst, der Stein musste vor einiger Zeit auf die Seite geschoben worden sein. Sie fiel auf die Knie und blickte ins Innere. Vielleicht hatten sie ihn ja angebunden? Nein, er war nicht zu sehen. Sie schob sich hinein und drehte sich auf den Fersen, während ihr Blick die Zeichnungen an den Wänden streifte.

»Anschar?«, fragte sie leise. Da war noch die hintere Höhle, in der er seine Notdurft verrichtet hatte. Dort nachzusehen, kostete sie große Überwindung, und das nicht nur, weil es so stank. Allein die Vorstellung, ihn mit hochgezogenem Rock zu überraschen, schüttelte sie.

Aber natürlich war er nicht hier, sie sah in der Düsternis nur einen aufgeschichteten Sandberg. Hastig kehrte sie ins Freie zurück, wo sie Tuhrod in die Arme lief.

»Er ist fort«, sagte Tuhrod. Hinter ihr hatten die Frauen neugierig die Köpfe gehoben.

»Was heißt das?«, schrie Grazia, sich an sie klammernd. »Habt ihr ihn ... verscharren? In der Wüste?«

»Beruhige dich.« Tuhrod löste ihre Hände, führte sie zur Feuerstelle und nötigte sie zum Hinsetzen. Von einem Stapel nahm sie eine Schale und füllte sie mit dem üblichen Brei. Diesmal jedoch goss sie aus einer hölzernen Flasche eine scharf riechende Flüssigkeit dazu. Es handelte sich wohl um den Schnaps, den man hier aus den Graswurzeln gewann.

Tuhrod rührte ihn mit einem Stück Brot unter und reichte Grazia die Schale. »Iss, das wird dich beruhigen. Derweil erzähle ich dir, was geschehen ist.«

Sie ließ sich Zeit dabei, schöpfte für sich selbst ein wenig von dem Brei und setzte sich nieder. Grazia aß etwas, auch wenn ihre Kehle viel zu eng war.

»Er ist tot, ja?«

»Nun, jetzt vermutlich noch nicht. Tuhram konnte sich nicht dazu durchringen, ihn zu verurteilen. Er sagte, er kenne die Wahrheit nicht, und daher wolle er nicht die Schuld auf sich laden, falsch zu entscheiden. Er hat es dem Herrn des Windes überlassen. Die Felsenkette dort am Horizont, siehst du sie? Dorthin hat man ihn gebracht. Ohne etwas zu essen, ohne Wasser. Wenn der Herr des Windes ihn retten will, wird er es tun.«

Grazia stellte die halb geleerte Schale auf den Boden. Ihr war übel, ihre Kehle brannte. Dieser Wurzelschnaps war schlimmer als alles, was sie je zu sich genommen hatte. Außerdem schmerzte ihr Rücken, da sie ihr Korsett nicht trug. Stotternd erklärte sie, dass sie sich wieder hinlegen wolle, und Tuhrod brachte sie zurück ins Zelt.

»Kann er leben? Überleben?«, flüsterte sie, während sie sich unter den Decken verkroch. »Dass euer Gott ihn rettet ... das glaube ich nicht. Glaubst du das?«

»Ich wüsste nicht, wie man da draußen überleben soll. Soviel ich weiß, hat Tuhram die Anweisung gegeben, seine Fußfessel nicht zu entfernen, damit es ihm nicht gelingt, hierher zurückzulaufen und uns womöglich im Schlaf zu überfallen. Wir haben ihn nicht getötet – aber er ist schon tot, auch wenn er noch leben mag.«

Kurz darauf war Grazia allein im Dämmerlicht. Die Zeltbahnen knisterten in der Brise, draußen herrschte das übliche Treiben, so als sei nichts geschehen. Die Geräusche hüllten sie ein. Doch bei dem Gedanken an Anschar schwand ihre Müdigkeit. Vielleicht lebte er noch! Wie lange kam ein Mensch ohne Wasser aus? In dieser Hitze? Wenn er bei den Felsen war, fand er wenigstens Schatten. Fanden sich dort Quellen oder Brunnen? Wohl kaum, andernfalls hätte man ihn nicht dorthin gebracht. Gab es einen Pfad, einen Weg, vielleicht denselben, den er und seine Leute gekommen waren? Das war schon eher denkbar, nur, was half ihm das? Er konnte mit gefesselten Füßen kaum gehen, und dass jemand ihm über den Weg lief, war mehr als unwahrscheinlich.

Sie war die Einzige, die ihm helfen konnte. Sie allein.

Grazia setzte sich auf. Früher hatte sie immer bedauert, ein ereignisloses Leben zu fuhren. Nicht allzu streng, aber ereignislos. Die Zukunft an der Seite eines Archäologen versprach Abwechslung. Ja, das war ihre Hoffnung gewesen: dass sie an Friedrichs Seite ein wenig daran teilhaben könnte, die Geschichte zu erforschen. Wie aufgeregt war sie gewesen, als er von dem Fund auf der Pfaueninsel erzählt hatte! Dabei zu sein, wie er dort grub, war ihr als das Höchste erschienen, das sie bisher an Abenteuern erlebt hatte. Und jetzt? Jetzt war sie selbst Teil einer Welt, die aus der Vergangenheit zu stammen schien. Und nicht nur das, sie dachte daran, sich in Gefahr zu begeben, um einen Mann zu retten. Sie musste dort hinaus.

Grazia schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte auf. Dies hier war etwas ganz anderes, als sich aus dem Haus zu schleichen, um heimlich einen Ausflug zur Pfaueninsel zu machen. Dabei ging es nicht allein um Anschar: Es ging um sie. Inzwischen war ihr klar, dass sie von hier niemals den Weg zurück finden würde. Die Hochebene war ihre einzige Hoffnung. Dort gab es im Gegensatz zu den Wilden eine Art Hochkultur. Dort gab es Wissen.

Ihre Knie bebten vor Aufregung, als sie durchs Zelt huschte, um Anschars Schwert zu suchen. Sie fand es unter den Kissen, es steckte in einer hölzernen Scheide, die mit Goldblechen verziert war, die den Schamindar darstellten. Ortband, Scheidenmundstück und Knauf waren mit dicken Goldblechen verziert. Das goldreiche Mykene kam ihr in den Sinn, daher fand sie es nicht so erstaunlich, dass die Klinge, die sie vorsichtig ein Stück herauszog, aus Bronze bestand. Liebend gern hätte sie sich die Waffe genauer angesehen, doch es war Eile geboten. Also legte sie sie auf ihre Decke, dazu einen halb vollen Wasserbalg, ihre Tasche und ein paar ihrer geflochtenen Grasbänder. Dann knotete sie die Decke zusammen, verbarg sie in ihrer Schlafecke und legte sich hin.

Nach einer ganzen Weile kamen Tuhrod und Tuhram herein und legten sich zur Ruhe. Auch draußen verebbten die Gespräche, die Ziegen wurden in ihr Gatter gebracht, die Feuerstelle erlosch zischend. Grazia nickte ein, und als sie wieder aufwachte, herrschte Totenstille. Sie setzte sich auf und lauschte. Als sie sicher war, dass die Dorfherrin und ihr Gast schliefen, kleidete sie sich an und klemmte sich das Bündel unter den Arm. Am Zelteingang blickte sie zurück, obwohl sie kaum mehr als Schatten sah. Die kleine Ziege fiepte leise, Grazia beugte sich hinab und streichelte sie. Es tat ihr leid, klammheimlich verschwinden zu müssen, aber anders ging es nicht. Tuhrod würde sie niemals in die Wüste laufen lassen, und eine Rückkehr gab es nicht.

An der Feuerstelle stopfte sie Reste des gekochten Breis in einen Brotfladen und verstaute ihn in der Decke. Dann schlich sie zwischen den Zelten hindurch zum Rand des Dorfes. Es war nicht schwer, ungesehen davonzukommen, denn nur ein einziger Mann zog nachts seine Runde. Sie wartete, bis er am anderen Ende des Dorfes war, dann lief sie hinaus, den Blick auf die schwarze Felsenkette am Horizont geheftet, die zu erreichen vermutlich die ganze Nacht dauern würde.

Der größere der beiden Monde beleuchtete die sandige Ebene. Es wehte kein Wind, alles war traumgleich still. Grazia fühlte keine Angst, nur Sorge um Anschar. Der Gedanke, ihn tot vorzufinden, wenn sie zögerte, machte ihre Schritte fest.

Das gläserne Tor

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