Читать книгу Das gläserne Tor - Sabine Wassermann - Страница 9

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Felsengras war das zäheste Material, das er kannte. Es war geschmeidig und gleichzeitig so fest, dass man es nur mit einer scharfen Klinge durchtrennen konnte. Zum vermutlich hundertsten Mal in diesen zehn Tagen, seit ihn das Wüstenvolk gefangen genommen hatte, versuchte Anschar mit einem scharfkantigen Stein die Grasfessel an seinen Füßen zu durchtrennen, die ihm nur winzige Schritte erlaubte. Doch außer Blasen an den Händen brachte es ihm nichts ein. Die Knoten zu lösen, hatte er aufgegeben; sie waren zu klein und zu fest, seine Fingernägel längst gesplittert.

Mit einem Aufschrei schleuderte er den Stein, der von der Wand seines Gefängnisses abprallte. Es war eine Felsenhöhle, ein kleiner runder Raum mit einer niedrigen Öffnung, vor die seine Wärter einen Felsbrocken geschoben hatten. Ob er hier drinnen gefesselt war oder nicht, machte keinen Unterschied, aber irgendwann würden sie den Steinblock beiseiteschieben, und dann musste er sich bewegen können, wollte er die Gelegenheit zur Flucht nutzen.

Obwohl der Gedanke sinnlos war. Er konnte schließlich nicht kopflos in die Wüste rennen, das wäre sein Tod. Zuerst musste er ein Reittier stehlen, Proviant, ausreichend Wasser.

Eine Waffe. Die Wüstenmenschen waren zwar einfältig, aber sie würden ihm kaum die nötige Zeit für derlei Vorbereitungen lassen.

Einfältig, ha!, dachte er grimmig. Immerhin war es ihnen gelungen, ihn, einen der zehn besten Krieger Argads, einzufangen. Er errötete vor Scham, wenn er nur daran dachte. Dass es mehr als hundert Wüstenmänner gewesen waren, die seine kleine Reisegruppe überfallen hatten, änderte daran nichts, obgleich es ihm als Einzigem gelungen war, zu überleben. Die anderen – vier weitere Krieger, die seinem Befehl unterstanden hatten, und dazu der Priester, den sie hätten schützen sollen – lagen irgendwo dort draußen und verrotteten in der Sonne. Manchmal wünschte er sich, ihr Schicksal geteilt zu haben; dann wieder fragte er sich, ob es nicht doch einen Grund gab, dass er noch lebte. Einen tieferen Grund als den, welchen die Wüstenmenschen haben mochten, ihn zu verschonen. Einen göttlichen Grund. Aber das war unsinnig. Die Götter hatten die Welt ja längst verlassen.

Anschar kniete vor der Öffnung. Der hüfthohe Felsblock verschloss sie nicht ganz, ein handbreiter Streifen ließ Licht und ein wenig frische Luft herein. Draußen, nur wenige Schritte entfernt, sah er die Wüstenfrauen um einen kupfernen Kessel beisammensitzen, unter dem ein Dungfeuer brannte. Allesamt hatten sie ledrige, tief gebräunte Gesichter und waren in einfach geschnittene Gewänder gehüllt, die ihre mageren Gestalten umflatterten. Während eine der Frauen im Kessel rührte, flochten die anderen das Felsengras zu Körben und wanden es zu Seilen. Sie scheuchten die Kinder und schnatterten unentwegt auf eine schrille Art, die das Gehör ermüdete. Die Männer ließen sich selten blicken.

Das Dorf war recht groß, Anschar schätzte es auf vierzig oder fünfzig schäbige, vielfach geflickte Zelte, auch wenn er bei seiner Gefangennahme nicht alles hatte überblicken können. Die Wüstenmenschen waren Nomaden, aber es gab auch feste Siedlungen, die seines Wissens nicht viel anders aussahen. Diese Menschen hier, so glaubte er, würden irgendwann weiterziehen. Was geschah dann mit ihm, wenn sie sie verließen? Würden sie ihn hier drinnen verrecken lassen? Beständig kreisten seine Gedanken um Flucht und die Verachtung, die er wie jeder Mensch des Hochlandes für das Wüstenvolk empfand. Würde er doch wenigstens in den Händen eines ehrbareren Gegners sterben!

Eine Greisin, noch faltiger und verschrumpelter als die anderen Frauen, schöpfte etwas aus dem Kessel in eine Tonschale, bedeckte sie mit einem Fladenbrot und stapfte auf wackligen Beinen in seine Richtung. Anschar wandte sich ab und lehnte sich an die Wand, damit sie ihn nicht sah. Diese Leute sollten nicht denken, er warte auf das Essen. Sein Magen knurrte längst. Sie brachten ihm unregelmäßig seine karge Ration; manchmal bekam er mehrere Male am Tag eine bis zum Rand gefüllte Schale, dann wieder nur einmal oder gar nicht, je nachdem, ob sich jemand seiner erinnerte.

Die tönerne Schale kratzte über den Stein. »Der Herr des Windes möge dich daran ersticken lassen«, brummte die Frau.

»Und dich schrundige Alte schicke dein Wüstengott recht bald in die Unterwelt«, gab Anschar zurück.

»Das tut er«, kicherte sie. »Aber bestimmt erst nach dir.«

Der Sand unter ihren bloßen Füßen knirschte, als sie sich entfernte. Anschar nahm die Schale und klemmte sie zwischen die Knie. Wie erwartet, war es der übliche Brei, den die Wüstenmenschen aus den Wurzeln des Felsengrases kochten. Das Gras wuchs auch in der Hochebene reichlich, und es war vielfältig zu verwenden. Dort jedoch verfutterte man die Wurzeln an Nutztiere, und nur, wer sich kein anständiges Essen leisten konnte, ernährte sich selbst davon.

Der Brei war ungewürzt und schmeckte bitter. Anschar riss ein Stück von dem Brotfladen ab und formte ihn zu einem Löffel. Als er ihn eintauchte, hörte er die Frauen aufschreien.

Rasch stellte er die Schale in den Sand und kniete sich vor den Stein, um durch die Spalte zu schauen. Die Frauen waren aufgesprungen, einige hatten achtlos ihre Arbeiten fallen lassen. Alle blickten sie mit aufgerissenen Augen in eine Richtung. Was immer sie derart in Aufregung versetzte, verbarg sich außerhalb seines Blickfelds. Eine Gefahr? Die Decken vor den Eingängen der Zelte wurden zurückgeworfen, Männer traten heraus, in den Händen einfache Wurfspieße.

Anschar hoffte auf einen Angriff – von wem auch immer. Doch es war nur ein einzelner Mann, der auf den Dorfplatz lief, hinter sich ein Schweif von aufgeregt plappernden Menschen. Er trug eine Frau auf den Armen. Deutlich war eine schlanke Hand zu erkennen, die leblos herabbaumelte; lange, rötlich schimmernde Haare, ein helles Gesicht. Der Rest ihres Körpers war in ein weißes Gewand gehüllt. Kinder sprangen neben ihr her, versuchten nach ihren Haaren zu haschen und wurden von ängstlich kreischenden Frauen fortgejagt. Dann verschwand der Mann mit ihr irgendwo zwischen den Zelten, gefolgt von einigen der Frauen.

Anschar ließ sich wieder in den Sand sinken und hob die Schale auf die Knie. Das war keine Wüstenfrau gewesen. Dazu war ihre Haut viel zu hell, ganz zu schweigen von der Haarfarbe, die es, soviel er wusste, weder in der Wüste noch in der Hochebene gab. Wie Feuer. Höchst eigenartig. Er aß langsam und fragte sich dabei, wer sie wohl war und woher sie kam. Und warum sie hier war. Eigentlich kümmerte es ihn nicht, aber er war für alles, was seine Gedanken ablenkte, dankbar.

Der Tumult verebbte, die Frauen versammelten sich wieder um den Kessel und nahmen ihre Flechtarbeiten auf. Das Gespräch drehte sich um die Frau. Der Wüstenmann hatte sie offenbar irgendwo dort draußen in der Wildnis gefunden.

Plötzlich wurde ein Lederbalg durch die schmale Öffnung geworfen. »Das wurde auch Zeit«, rief Anschar. »Oder wollt ihr, dass ich hier verdurste, ihr Hunde?« Er wickelte die Schnur ab und hob die Öffnung an die Lippen. Das Wasser schmeckte abgestanden und war zu warm für den Geschmack eines Argaden, aber anderes gab es hier nicht. Viel zu schnell ging das Wasser zur Neige, sein Durst war noch lange nicht gelöscht. Wollten sie ihn quälen? Oder war das nur Nachlässigkeit? Er kniete vor der Öffnung, um mehr zu verlangen, als er die Dorfherrin in Begleitung einiger Männer näher kommen sah. Abwartend hockte er sich neben den Stein. Die Höhle verdunkelte sich.

»Anschar von Argad? Ich will etwas von dir.«

Ihre Stimme war rau und schroff. In den ersten beiden Tagen seiner Gefangenschaft war sie oft hergekommen, um ihn zu fragen, wer er sei. Er hatte geduldig geantwortet – zumindest fand er, dass er geduldig gewesen war.

»Was immer das ist, warum sollte ich es dir geben, wenn ich nicht einmal ausreichend Wasser bekomme?«, erwiderte er, ohne sich zu der Öffnung umzudrehen.

»Das bekommst du. Ich lasse dich jetzt herausholen und ermahne dich, keinen Widerstand zu leisten. Hast du das begriffen?«

Ihr herablassender Ton ärgerte ihn. Aber er war bereit, ihn hinzunehmen, wenn er nur für ein paar Augenblicke aus diesem Loch herauskam.

»Ja.«

»Stell dich hinten zur Wand und lege die Hände auf den Rücken.«

Sie misstraute ihm. Nun, das war verständlich, also gehorchte er, so sehr es ihm missfiel. In seinem Rücken knirschte der Sand und ächzten die Männer, als sie den Felsen beiseiterollten. Er hörte, wie der Schaft eines Spießes gegen die Felswand klapperte. Sie hatten Grund, sich ihm vorsichtig zu nähern, und das erfüllte ihn mit Stolz, auch wenn dies angesichts seiner Lage lächerlich war. Eilig schlangen sie ein Grasseil um seine Handgelenke, dann drehten sie ihn um und bedeuteten ihm, hinauszutreten. Er musste sich tief bücken, um durch die niedrige Öffnung zu gelangen. Das ungewohnte Licht stach in seine Augen. Er blinzelte, straffte den Körper und blickte nicht weniger hochmütig auf die Frau herab, wie sie es tat.

Ihr Name war Tuhrod, und für eine Wüstenfrau an der Schwelle des Alters war sie nicht gänzlich unansehnlich. »Folge mir«, befahl sie und schritt über den Dorfplatz. Die Frauen unterbrachen ihre Unterhaltung und glotzten. Mit hoch erhobenem Kopf und kleinen Schritten ging Anschar zu Tuhrods Zelt. Es war das größte Rundzelt, mit verblassten Stoffbahnen und quastenbesetzten Säumen geschmückt. Tuhrod hob die Decke an, die den Eingang verhängte, und schickte seine Begleiter mit einer Handbewegung fort.

»Geh hinein. Es droht dir keine Gefahr.«

Finster sah er sie an. Glaubte sie gar, er furchte sich? Er duckte sich und trat in das Zelt, in dem es um einiges kühler als in seiner Höhle war. Normalerweise hätte er es erbärmlich gefunden, jetzt schien es ihm ein angenehmer Aufenthaltsort zu sein.

»Warum hast du mich herausgeholt? Wegen dieser Frau? Oder willst du mir endlich sagen, was aus mir werden soll?«

Tuhrod verhängte den Eingang, trat zu ihm und legte nachdenklich einen Finger auf die Wange. »Wegen der Frau. Was dich betrifft, weiß ich noch nicht, was ich mit dir tun soll. Ich halte dich nach wie vor für einen Sklavenhändler.

Deinen Behauptungen, es sei nicht so, habe ich bisher keinen Glauben geschenkt, aber das muss ja nicht heißen, dass sie gelogen sind. Ich bin noch unschlüssig.«

Sie trat an die Zeltwand und nickte ihm zu. Dort lag die Frau, im Durcheinander bunter Stoffe, Kissen und Felle kaum auszumachen. Über ihren Körper war eine Decke gebreitet, die Tuhrod gerade so weit zurückschob, dass er die Schultern sehen konnte.

»Hast du so etwas schon einmal gesehen?«

Er trat näher. Das weiße Gewand, das den Körper der Rothaarigen vollständig bedeckt hatte, war verschwunden, stattdessen trug sie ein anderes, ebenso weiß, aber ärmellos. Ihre Haut war ungewöhnlich hell, was sie nicht gerade anziehend wirken ließ, zumal Gesicht und Arme, soweit er erkennen konnte, mit kleinen Flecken übersät waren. Unwillkürlich zuckte er zurück.

»Ist sie krank?«

»Ich weiß es nicht. Schorfig sind diese Flecken nicht. Sie sind eher wie Muttermale, nur viel kleiner. Aber hast du je so helle Haut gesehen?«

»Nein.«

»Und solche Haare?«

»Die erst recht nicht.«

»Das habe ich befürchtet.«

Neugierig geworden, kniete er neben der Frau und beugte sich über sie. Auch die Brauen waren hellrot. Sogar die Wimpern. Sie zitterten leicht. Ihr Mund war einen Spalt weit geöffnet, sie atmete entspannt.

»Sie hat im Schlaf gesprochen«, sagte Tuhrod. »Nur kurz, aber das war schon seltsam genug, denn es war völlig unverständlich. Meines Wissens spricht dein Volk nicht anders als wir. Ist das so?«

»Ja. Wahrscheinlich hatte sie Albträume, was nicht verwunderlich wäre. Kann man in dieser Gegend von angenehmeren Dingen träumen als Sand im Mund und Wurzelbrei in den Ohren?«

Mit einem ärgerlichen Schnauben bedeckte Tuhrod den Arm der Frau und richtete sich auf. »Spar dir deine Beleidigungen. Sie verbessern deine Lage nicht.«

»Ist das eine Drohung, Weib?« Er warf den Kopf zurück. »Aber womit drohst du denn? Dass ich in der Höhle gesotten werde? Das werde ich schon seit zehn Tagen. Dass ich sterben muss? Bei der heiligen Dreiheit, ja, allmählich fange ich an, mich danach zu sehnen! Allein der Gedanke, unter euch dreckigen Wüstenhunden zu sterben, hält mich davon ab, mit dem Kopf gegen die Felswand zu rennen.«

»Ich sollte dir auf der Stelle den Schädel einschlagen lassen«, erwiderte sie mit vor Empörung bebender Stimme. »Nur damit du den Mund hältst, du argadischer Grobschlächter!«

»Du stinkende Wüstenhure, versuch es!«

»Die Sandgeister mögen dich ersticken, du ...«

Ein schriller Schrei ließ sie verstummen. Die Rothaarige hatte die Augen aufgerissen und den Kopf gehoben.

»Achduheiljabimbam!«, stieß sie hervor.

»Das meinte ich«, sagte Tuhrod, die einen Satz rückwärts gemacht hatte und erschrocken die Hand auf die Brust presste. »Hast du je solche Laute gehört?«

»Nein.«

»Wir haben sie geweckt.«

»Es scheint so.« Oder träumte die Fremde noch? Sie hatte grüne Augen, eine Farbe, die so fremd war wie ihr rotes lockiges Haar.

»Ogottogott«, flüsterte Grazia. Der Albtraum wollte und wollte kein Ende nehmen. Dieser halb nackte Mann, der sich über sie beugte und entsetzlich stank, war doch ebenso wenig wirklich wie der auf dem Steg. Jedoch hatte sie noch nie von Gerüchen geträumt. Er schien geradezu in Schweiß zu schwimmen. Dunkelbraune Haare hingen in verschwitzten Strähnen an ihm herunter. Fast berührten sie ihr Gesicht. Sie versuchte seinem durchdringenden Blick auszuweichen und zog sich die Decke über das Gesicht. Was war das für eine Decke? Der Stoff fühlte sich rau an und verströmte ebenfalls einen strengen Geruch. Außerdem kratzte er auf der Haut. Grazia hielt erschrocken die Luft an, als ihr bewusst wurde, dass sie nur noch ihr Unterkleid und darüber das Korsett trug. Fast nackt und schutzlos, befand sie sich in einem Raum mit wildfremden Leuten.

War sie vielleicht in einem Krankenhaus? Vorsichtig schob sie die Decke bis zur Nase zurück. Der Mann war aufgestanden und hatte sich einer Frau zugewandt. Jetzt sah Grazia, dass seine Hände im Rücken gebunden waren. Womöglich war sie doch in einer Irrenanstalt gelandet, wo man die Verrückten fesseln musste. Ihre Geschichte klang ja auch verrückt genug! Aber das hier sah eher aus wie ein Zelt, und diese Leute wirkten selbst wie aus einer Geschichte entsprungen. Die Frau trug ein einfach geschnittenes und bunt besticktes Gewand, das sie wie eine Decke umflatterte, während sie auf Grazia deutete. Aufgenähte Muscheln klapperten an den Säumen. Der Mann sagte ein unverständliches Wort und schüttelte den Kopf. Ein Wortwechsel folgte, der feindselig klang, schließlich ging die Frau zu einem Korb, hob den Deckel und zog einen schwarzen Strumpf heraus.

Grazia glaubte wieder in Ohnmacht zu fallen. Wie konnte diese Frau ein so heikles Kleidungsstück einfach herzeigen, als sei es ein Küchentuch? Noch dazu einem Mannt Als Nächstes wurde der Inhalt ihrer Handtasche herausgeschüttelt. Tatsächlich, da lagen ihr Theodor Fontane, Justus’ Taschenuhr und ihre Geldbörse. Die Frau bedeutete dem Gefesselten, sich alles anzusehen. Er beugte sich darüber, schüttelte aber nur den Kopf.

»Das sind meine Sachen«, krächzte Grazia, setzte sich auf und wiederholte, diesmal lauter: »Die gehören mir!«

Die Frau neigte den Kopf, als höre sie genau zu. Dann stopfte sie alles mit spitzen Fingern zurück in den Korb und trug ihn zu ihr. Dicht neben ihrem Lager stellte sie ihn ab und machte eine Geste, als wolle sie zeigen, dass sie nicht vorhatte, ihr die Sachen streitig zu machen. Sie rief etwas, worauf zwei Männer ins Zelt kamen und den Gefesselten hinausführten. Im Hinausgehen blickte er über die Schulter und sagte etwas, von dem Grazia den Eindruck hatte, dass es ihr galt. Es hatte aufmunternd geklungen, als sähe er in ihr eine Leidensgenossin. Sowie er draußen war, atmete die Frau tief aus. Ob er gefährlich war?

Bei was für Leuten bin ich hier bloß?, fragte sich Grazia.

Die Frau kehrte zu ihr zurück und kauerte an ihrer Seite. »Tuhrod«, sagte sie, legte die Hand auf die Brust und streckte sie in einer fragenden Geste aus. Ob sie so hieß?

Grazia nannte ihren Namen.

»Frauleinsim...?«, wiederholte die Frau stirnrunzelnd.

»Fräulein Zimmermann. Grazia Zimmermann.«

Tuhrod spitzte die Lippen und versuchte es erneut, aber sie wirkte ungeduldig. Schließlich legte sie die Hände auf das Gesicht und schüttelte den Kopf. Dann stand sie auf, bedeutete ihr, sich auszuruhen, und verließ das Zelt.

Ausruhen? Wie sollte das denn gehen? Zuerst musste Grazia in Erfahrung bringen, was geschehen war. Sie war beinahe in der Havel ertrunken, vielleicht ein Stück abgetrieben und irgendwie, ohne es zu wissen, herausgefischt und in eine Art Nomadenzelt gebracht worden. Vielleicht gehörte es ja einem Zirkus, so durchdringend, wie es nach Stall roch. Dies war jedenfalls die einzige Erklärung, die ihr zu alldem einfiel.

Möglich, dass der nackte Mann auf dem Steg zu diesen Leuten gehört hatte.

Was würde Friedrich zu all dem sagen? Ihre Mutter? Wussten sie überhaupt davon? Wahrscheinlich nicht. Mit Glück – mit viel Glück – konnte sie noch das Schlimmste verhindern, indem sie sich jetzt anzog und schnell nach Hause ging.

Sie kramte in dem Korb. Tatsächlich, bis auf ihr Sommerjäckchen waren all ihre Sachen da, trocken, aber zerknittert, als seien sie nass gewesen. Ihren Sturz in die Havel hatte sie also keineswegs geträumt. Justus’ Taschenuhr zeigte sieben Uhr an. War es schon Abend? Grazia hielt die Uhr ans Ohr, die gottlob keinen Schaden genommen hatte, lauschte dem vertrauten Ticken und steckte sie zurück in den Korb. Plötzlich ertrug sie es nicht länger, hier herumzusitzen. Sie musste nachsehen, wo sie war. Fest schlang sie die Decke um sich und rutschte zur Zeltwand. Es war ein hölzernes Gestänge, an das etliche Stoffbahnen festgebunden waren. Sie löste ein Stück und zog es beiseite.

Heißer Sand wehte ihr ins Gesicht.

Grazia ließ erschrocken den Stoff los. Das da draußen war nicht die Pfaueninsel. Das war nicht einmal in der Nähe Berlins. Das da war ... irgendwo.

Verunsichert wagte sie einen weiteren Blick. Zwischen zwei Zelten erblickte sie eine ockerfarbene, sandige Fläche, durchbrochen von Feldern gelblichgrünen Grases, das sich im Wind wiegte. Keine Bäume, nur vereinzelte Sträucher, die aussahen, als müssten sie jeden Moment in Flammen aufgehen. Bis zum flirrenden Horizont erstreckte sich das trostlose Bild.

Sie war in einer Wüste.

Grazia kniff sich in den Arm. »Bleib bloß ruhig«, sprach sie sich Mut zu. »Das wird schon. Ich muss nur jemanden finden, der mir das alles erklärt.«

Sie drehte sich auf dem Gesäß um. Jetzt sah sie das Zelt, das ganz sicher keinem Zirkus gehörte, mit neuen Augen. Es war übersät mit Stoffen, Kissen, Teppichen und Fellen. Rot herrschte vor, die Webmuster wirkten fremdartig, vielleicht orientalisch. An den Zeltwänden standen geflochtene Körbe in vielerlei Formen und Größen. Würde es weniger streng riechen, wäre es ein durchaus gemütlicher Raum. Der hintere Bereich war durch herabhängende Decken abgeteilt. Sie stand auf, nahm ihr Kleid an sich und steckte den Kopf hindurch. Hier konnte sie es wagen, sich anzukleiden. Während sie ihr Korsett nachschnürte, entdeckte sie inmitten der Kissen ein kleines zotteliges Tier. Es glotzte sie an, wackelte mit den Ohren und erhob sich auf vier Stelzen.

Was war denn das? Eine Ziege? Es hatte ein grau meliertes Fell, das in Locken von einem wohlgenährten Bauch hing. Die Ohren reckten sich nach vorn, während es Grazia musterte. Vorsichtig streckte sie eine Hand aus, berührte eine zarte Nase und strich durch das Fell, das sich erstaunlich weich anfühlte. Das Verwunderlichste aber war das gedrehte Horn, das ihm aus der Stirn wuchs.

»Eine Einhornziege«, sagte Grazia verblüfft. Die Ziege, oder was immer es war, reckte den Hals. Da erklangen Frauenstimmen vom Zelteingang her. Sie wollte nach ihrem Kleid greifen, aber es anzuziehen, kostete Zeit, also raffte sie eilends ein herumliegendes Gewand auf. Es war nur ein Viereck, durch das man den Kopf stecken konnte. Wenigstens war es groß genug, alles an ihr zu verbergen.

Eilig kehrte sie in den Vorraum zurück. Die Ziege schlüpfte an ihr vorbei und drängte sich an Tuhrod, die Grazia misstrauisch musterte. Eine zweite Frau war bei ihr, starrte Grazia an, stieß unverständliches Zeug hervor und stapfte auf sie zu. Grazia zuckte zurück. Zwei runzlige Hände packten ihre Wangen und kratzten an ihr herum.

»Aua!«

Die Alte riss die Augen auf und machte einen Satz nach hinten. Grazia rieb sich über die Wange und schwankte zwischen Ärger und Schreck. Es musste wohl an ihren Sommersprossen liegen, vielleicht kannte man hier so etwas nicht. Die Gesichter dieser Frauen waren terrakottafarben und ledrig.

»Sie verstehen mich auch nicht, oder?«, fragte sie die Alte. Die glotzte nur. Nein, offensichtlich nicht. »Ist denn hier irgendjemand, mit dem ich mich verständigen kann?«

Grazia ging zum Eingang. Tuhrod schien sich nicht daran zu stören, dass sie eines der Wüstengewänder an sich genommen hatte. Sie hätte es vorgezogen, in ihrem eigenen Kleid hinauszutreten. Aber da sie nicht wusste, wie sie den beiden Frauen begreiflich machen sollte, dass sie zum Ankleiden allein sein musste, verzichtete sie darauf und hob die Plane an. Ein weitläufiges Zeltdorf tat sich vor ihr auf. Nun sah sie, dass die Gegend noch anderes bereithielt als nur Sand und Gras. Ein Teil des Horizonts war von einer niedrigen Bergkette begrenzt. Schroffe Felsen, so hoch wie fünfgeschossige Mietshäuser, ragten am Rande des Dorfes auf. In deren Schatten weidete eine ganze Herde dieser Einhornziegen das trocken aussehende Gras ab. Kinder hockten dazwischen und hoben die Köpfe. Auch die Frauen, die auf der freien Fläche zwischen den Zelten beisammensaßen und an einer Kochstelle irgendetwas zubereiteten, sahen auf, musterten sie und steckten tuschelnd die Köpfe zusammen. Sie alle sahen aus wie Nomaden oder Beduinenfrauen, steckten in ehemals bunt gefärbten, jetzt von der Sonne gebleichten Stoffen, mit Fransen und geflochtenen Schnüren verziert. Vor den Zelten hockten Männer, alte wie junge, in schlichtere Gewänder gehüllt, und schienen dem Nichtstun zu frönen.

Die Menschen wirkten mehr als misstrauisch. Grazia zögerte. Aber was blieb ihr anderes übrig, als auf diese Wilden zuzugehen?

Sie sog die Luft ein, als ihre bloßen Füße den Sand berührten. Tuhrod deutete mit herrischer Geste zurück ins Zelt. Grazia schüttelte den Kopf. Ärgerliche Worte flogen ihr entgegen, doch dann hielt ihr Tuhrod aus Bast gefertigte Schuhe hin.

»Danke«, murmelte Grazia. Es war nicht leicht, die Schuhe anzuziehen und gleichzeitig darauf zu achten, dass das Gewand nicht seitlich aufsprang und jedem ihre Wäsche darunter zeigte. Den Stoff fest um sich geschlungen, holte sie ihre Handtasche und stakste durch den Sand zu einem der Männer.

»Verstehen Sie mich?«

Die Blicke der Dorfbewohner stachen regelrecht in ihren Rücken. Kinder sprangen vor ihr fort und verkrochen sich in den Zelten oder im hüfthohen Gras. Aus ihrem Portemonnaie fischte sie ein Fünfmarkstück und hielt es dem Mann unter die hakenförmige Nase. »Ich bin nicht mittellos, sehen Sie?«

Vorsichtig nahm er die Münze und drehte sie zwischen den Fingern. Dann gab er sie zurück und hob eine der Fellschnüre an, die von seinem Gürtel hingen. Er deutete auf die Münze, dann wieder auf die Schnüre. Grazia begriff: Dies war die Währung, die hier üblich war. Fellstreifen! Immerhin waren ihm Münzen nicht fremd.

»Also, wenn ihr damit bezahlt, dann brauche ich wohl nicht zu fragen, ob es hier irgendwo ein Telephon gibt«, klagte sie. »Oder wenigstens eine Poststelle, wo ich telegraphieren kann. Aber ihr müsst mir doch sagen können, wo ich hier bin. Ist das Deutsch-Ostafrika? Ich habe eine Tante, die da wohnt. Sie heißt Charlotte. Ihr Mann ist bei der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft angestellt. Ist das hier Tansania? Versteht mich denn keiner? Kilimandscharo? Großer Berg?«

Nichts. Keine Reaktion.

»Are you subjects of the British Empire?« Sie drehte sich um die Achse und hob die zittrige Stimme. »Wer regiert dieses Land? Gibt es hier irgendwo Zeitungen? Irgendeine ... irgendeine Zivilisation? O Gott, ich weiß ja nicht einmal, wie ich hergekommen bin. Ist das verrückt!«

Gleich würde sie in Tränen ausbrechen. Sie wandte sich an die Frauen an der Kochstelle, die vor ihr zurückzuckten. »Ist denn hier niemand, der mich versteht?«, schrie sie, damit es das ganze Dorf hörte. Ein paar Frauen kicherten, andere schimpften leise. Mit einem Mal war Tuhrod bei ihr, fasste sie am Arm und brachte sie ins Zelt zurück, wo sie mit herrischer Geste auf den Schlafplatz deutete. Gehorsam sank Grazia in die Kissen und nahm einen Tonbecher entgegen, in dem eine grüne Brühe schwappte. Vielleicht war es ein Kräuterschnaps und somit genau das, was sie brauchte. Das Zeug schmeckte zwar nicht nach Alkohol, ansonsten aber fürchterlich. Es machte sie müde und beruhigte sie ein wenig.

»Was mir passiert ist, glaubt mir kein Mensch. Da war dieser nackte Mann ... und ich bin hier, das allein ist unfassbar. Aber das ist nicht alles, ich könnte diesen Becher mit Wasser füllen. Ja, wirklich. Doch woher kommt das alles? Und warum trifft es ausgerechnet mich? Diese Frage plagt mich mindestens genauso. Dass mich hier keiner versteht, macht alles nur noch schlimmer.« Sie nestelte an dem geliehenen Gewand herum und tupfte sich die Augen. »Aber ich muss wohl froh sein, dass man mich nicht in die Wüste hinausjagt.«

Tuhrod kauerte sich vor sie, streckte Grazias Arm aus und fing an, die Fransen unterhalb des Handgelenks zusammenzuknüpfen. Offenbar war ihr nicht entgangen, dass Grazia ihre liebe Not mit dem offenherzigen Kleidungsstück hatte. Als sie fertig war, tippte sie an ihren Mund. Essen? Grazia schüttelte den Kopf; in ihrem Magen lag ein Stein, da war kein Platz für Essen. Tuhrod klopfte auf die Felle. Aufseufzend gehorchte Grazia und legte sich hin.

Schlafen, ja, das war das Beste. Schlafen und daheim im eigenen Bett aufwachen.

Jemand nieste ihr ins Gesicht. Grazia riss die Augen auf und sah etwas Dunkles über sich, das sie unwillkürlich mit der Hand abwehrte. Es war die neugierig zitternde Nase der Einhornziege. Die großen schwarzen Augen schienen um Zuneigung zu betteln. Grazia wischte sich mit dem ausladenden Gewand übers Gesicht und sah sich um. Enttäuscht stöhnte sie auf. Nichts hatte sich verändert. Nur, dass es dunkel war.

Sie musste eine Weile geschlafen haben, ihre Blase drückte. »Wo geht man denn hier auf die Toilette?«, fragte sie leise die Ziege, die mit einem blubbernden Laut antwortete. »Dich verstehe ich fast besser als dein Frauchen. Ach, ich gehe wohl einfach vors Zelt.«

Sie streifte die Bastschuhe über und tapste vorsichtig zwischen den Kissen hindurch ins Freie. Es war tatsächlich Nacht, aber eine sehr seltsame, denn das Mondlicht erhellte die Wüste so stark, dass sich die rote Färbung erahnen ließ. Jede Einzelheit war erkennbar, die Zelte warfen scharfe Schatten. Von überall her ertönten Schnarchgeräusche. Nur ein Mann schlenderte zwischen den Zelten umher, einen Wurfspieß in der Hand. Er bemerkte sie, beachtete sie aber nicht weiter, sondern setzte seinen Rundgang fort. Grazia schlug die andere Richtung ein, denn das fehlte ihr noch, dass ihr jemand bei ihrem Geschäft zusah. Der Gefesselte kam ihr flüchtig in den Sinn. Er hatte nicht so ausgesehen, als gehöre er hierher. Seine Haut war gebräunt gewesen, aber glatt. Seine Haare und Augen waren von dunklem Braun, die der Leute hier allesamt schwarz. Die Männer trugen buschige Barte, seiner jedoch hatte ausgesehen, als wachse er erst seit kurzem. War er vielleicht auch ein auf seltsame Weise Gestrandeter, so wie sie? Kannte er des Rätsels Lösung?

Wieder begannen ihre Gedanken um die Frage zu kreisen, wie sie hierhergekommen sein mochte. Wie konnte jemand, der in Preußen in einen Fluss gefallen war, in einer Wüste aufwachen? Welche Möglichkeiten gab es überhaupt? Dass sie lange Zeit bewusstlos gewesen war und man sie hergebracht hatte? Wer hätte das tun sollen und warum? Sie hielt es für ausgeschlossen, für die Dauer einer so langen Schiffsreise geschlafen zu haben. Nein, es musste auf eine andere Weise geschehen sein ... eine Weise vielleicht, die sich mit dem Verstand nicht erfassen ließ. Eben so wie ihre plötzliche Gabe, Wasser herbeizuzaubern.

Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Der Boden bestand nicht nur aus Sand, vielmehr war er fest und stellenweise mit Geröll übersät. Beim näheren Hinsehen entdeckte sie überall kleine Pflanzen. Das war nicht überraschend, denn in einer gänzlich unwirtlichen Gegend hätte dieses Volk wohl kaum seine Zelte aufgeschlagen. Sie tappte durch ein hüfthohes Meer trockener Gräser, hockte sich darin nieder, hob das Gewand und streifte ihr Unterzeug herunter. Der Wind strich ihr ums nackte Gesäß.

Wüste. Wasser. Gab es da einen Zusammenhang? Sie dachte an die Muscheln an Tuhrods Gewand.

Mit den Händen formte sie eine Schale und konzentrierte sich darauf, sie zu füllen. Es war schwierig, vielleicht weil sie sich in einer trockenen Gegend befand, aber kurz darauf schüttelte sie die nassen Hände aus.

Gedankenverloren betrachtete sie die sich sanft wiegenden Gräser im hellen Mondlicht. Der Mond war groß und rötlich – so ganz anders als daheim. Fasziniert musterte sie seine Oberfläche. Auch die war anders. Die Sterne, alles wirkte hier fremdartig. Sie legte den Kopf in den Nacken, um ein vertrautes Sternbild zu finden. Offenbar befand sie sich in der südlichen Hemisphäre. Wo war das Kreuz des Südens? Sie drehte sich auf den Fersen um die Achse. Und erstarrte.

Ein zweiter Mond. Eine schmale, bläulich schimmernde Sichel.

Zwei Monde. Dies hier war nicht Deutsch-Ostafrika. Sie war weiter weg. Viel, viel weiter weg. Sie war in einer anderen Welt.

Grazia schlug die Hände vors Gesicht und schrie.

Das gläserne Tor

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