Читать книгу Das gläserne Tor - Sabine Wassermann - Страница 8

2

Оглавление

Er hatte mit ihr etwas getan, das war ihr jetzt klar. Grazia setzte sich auf und entzündete die Kerze auf dem Nachttisch. Mitternacht. Seit Stunden lag sie im Bett, wälzte sich von einer Seite auf die andere und grübelte darüber nach, was es mit dem Wasser auf sich hatte. Es musste mit dem Mann zu tun haben. Irgendetwas hatte er bewirkt, als er sie dazu gebracht hatte, Unmengen von Wasser zu schlucken. Durch einen Kuss. Sie berührte ihre Lippen, versuchte nachzufühlen, wie es gewesen war. Anders als bei ihrem ersten und einzigen Kuss mit Friedrich, ganz anders – selbst wenn nicht das Wasser durch sie hindurchgeflossen wäre. Allein bei dem Gedanken daran fühlte sich ihr Inneres kühl an, als schlucke sie es wieder. Wenn sie die Lider schloss, sah sie den Fremden sich über sie beugen. Nach ihr greifen. Dann wollte sie zurückzucken und doch auch nicht. Seine kalte Haut anfassen, um sie zu wärmen. Seine Finger ergreifen, die sich hilflos an den Steg geklammert hatten.

Aber das, was er in ihr bewirkt hatte, erschreckte sie. Hatte sie sich auch nicht getäuscht? Sie holte den Porzellanbecher von der Frisierkommode und schlüpfte wieder unter die Decke, den Becher zwischen den Knien. Wie war es geschehen? Wie hatte sie das gemacht? Sie hatte an den Fremden gedacht und dabei irgendwie das Trinkglas aufgefüllt. Starr hielt sie den Blick auf den Becher geheftet, rief sich die Begegnung ins Gedächtnis und stellte sich vor, wie er sich füllte.

Nichts geschah. Natürlich nicht. Das ist doch albern, dachte sie, dennoch legte sie die Hand auf den Becher und schloss die Augen. Sicher hatte sie sich getäuscht, und was sie hier versuchte, war nichts als Spielerei. Als Kind war sie auf einen Hocker gestiegen und herabgesprungen, im Glauben, mit genügend Willenskraft fliegen zu können. Das hier war genauso unsinnig, und doch – sie glaubte, dass es gelingen konnte. Sie spürte, wie ihr Atem regelmäßig ging und sie sich entspannte. An nichts versuchte sie zu denken, nur an den Moment, als das Wasser durch ihren Körper geströmt war. Ihre Finger über dem Rand des Bechers zitterten, und ein Kloß wand sich ihre Kehle hinauf. Was, wenn jetzt wirklich etwas passierte?

Kühl wurde es unter ihrer Hand. Sie riss die Augen auf. Wahrhaftig, der Becher war bis zum Rand gefüllt, das Wasser schwappte über. Mit einem Aufschrei warf sie ihn von sich, sodass er auf dem Boden zersprang, und hüpfte aus dem Bett.

»Das gibt’s doch nicht, das gibt’s doch nicht«, murmelte sie, während sie die Scherben auflas und dabei lauschte, ob jemand wach geworden war. Vom Stuhl am Bettende riss sie ihr Beinkleid und trocknete die Dielen. Das konnte es nicht geben! Sie musste träumen. Ja, das war die einzig denkbare Erklärung: Sie lag immer noch krank im Bett und schlief. Jedoch, wenn dies ein Traum war, dann war es auch der Mann selbst gewesen, und dann hätte es die drei müden Tage im Bett nicht gegeben. Nein, nein, all dies geschah wirklich!

Ich sollte es Vater erzählen, überlegte sie. Oder Friedrich?

Aber sie würden nur wieder den Doktor rufen und sie bis auf weiteres in ihrem Zimmer einsperren. Oder gleich in die Irrenanstalt. Grazia schüttelte sich vor Entsetzen. Nein, das taten sie natürlich nicht, aber sie wären sehr erschrocken. Nichts mehr würde sein wie zuvor. Grazia durfte es niemandem erzählen. Höchstens Justus, der hätte für derartige märchenhafte Vorgänge am ehesten Verständnis.

Sie löschte die Kerze und schlüpfte zurück ins Bett. Wenigstens war die Decke halbwegs trocken geblieben. Sie zog sie sich über den Kopf, aber an Schlaf war nicht zu denken. Was sollte sie tun? Vielleicht gar nichts, außer darauf aufzupassen, dass ihr so ein Malheur nicht wieder passierte. Doch wie konnte sie eine solche Fähigkeit ignorieren? Ständig würde sie daran denken müssen. Es kam ihr vor wie ein Fluch, der sie womöglich eines Tages den Verstand kosten würde.

»Er hat mich gebeten, ihm zu verzeihen«, flüsterte sie in die Stille. Deshalb? Weil er sie ... verändert hatte? Ihr Herz krampfte sich zusammen, und das nicht nur, weil sie sich vor dem, was sie unversehens zu tun imstande war, fürchtete. Angst hatte in seinen Augen gestanden, in diesen seltsamen silbernen Augen. Er hatte trotz seiner heftigen Umarmung so hilflos gewirkt, beinahe zart. War er überhaupt ein Mensch gewesen? Aber wenn er keiner war, was war er dann?

Grazia warf die Decke zurück und atmete tief auf. Hier zu liegen und die Gedanken kreisen zu lassen, machte alles nur noch schlimmer. Sie stieg aus dem Bett, schlüpfte in den Morgenmantel und tastete sich aus dem Zimmer. Glücklicherweise war niemand von dem Zerspringen des Bechers wach geworden, es herrschte tiefe Stille. Als sie am Schlafzimmer der Eltern vorbeiging, hörte sie den Vater schnarchen. Leise öffnete sie die Tür zum Jungenzimmer und schlich sich an Justus’ Bett. Auf seinem Bauch lag aufgeklappt ein Buch. Der Kurier des Zaren.

»Justus«, flüsterte sie und schüttelte ihn. Ihr Bruder grunzte, rieb sich die Augen und setzte sich widerwillig auf.

»Ist’s wirklich schon Zeit zum Aufstehen? Ich bin doch gerade erst eingepennt.«

»Pscht.« Sie setzte sich zu ihm an die Bettkante, klappte das Buch zusammen und legte es beiseite. »Was liest du auch heimlich im Bett?«

»Och, tust du doch auch«, murrte Justus. »Was ist denn los? Brennt es?«

»Nee. Pass auf, ich will gleich nachher in der Frühe auf die Pfaueninsel.«

»Was?« Erst jetzt schien er richtig aufzuwachen, denn er machte große Augen. »Das hat dir der Fried... ich meine, der Herr Mittenzwey doch verboten?«

Sie lächelte. Hatte der neugierige Bengel das also mitbekommen. »Ja, und Papa auch. Da sind sie beide einer Meinung. Ich muss aber auf die Insel. Wenn ich Glück habe, ist Friedrich noch nicht dort, und keiner merkt es.«

Bewunderung angesichts so viel Wagemutes, den er ihr wohl nicht zugetraut hätte, blitzte in seinen Augen auf. »Nimmst du mich mit?«

»Das geht nicht.«

»Wieso denn nicht?«

Abwehrend hob sie den Finger. »Hör zu: Bevor du zur Schule gehst, sagst du, ich sei im Grunewald spazieren. Nach drei Tagen Herumliegen muss man sich ja die Beine vertreten. Sie werden deswegen zwar schimpfen, aber sie werden es glauben. Sag, ich sei mit der Eisenbahn gefahren und am Bahnhof Grunewald ausgestiegen.«

»Na, hoffentlich krieg ich wegen dir nicht den Hosenboden stramm gezogen«, sagte Justus so ernst, dass Grazia sich kaum das Lachen verbeißen konnte.

»Ich werde mich für dich in die Bresche werfen, wenn das passiert«, versprach sie ihm. »Du darfst aber keinem sagen, dass ich weiter zum Wannsee fahre.«

»Ist gebongt. Aber dann hab ich bei dir was gut! Was willst du da eigentlich?«

Sie zuckte mit den Achseln. Wie sollte sie das erklären? So genau wusste sie es ja selbst nicht. Nachsehen, ob das Licht noch da war. Ob er da war und mit ihr sprach. Ihr Antworten gab. »Schlaf weiter. Das erzähle ich dir dann später.«

»Na jut. Hier«, Justus nahm seine Taschenuhr vom Nachttisch und drückte sie ihr in die Hand. Er hatte sie erst vor wenigen Wochen zum Geburtstag geschenkt bekommen und trug sie seitdem immer bei sich. »Damit du deinen Zug nicht verpasst.«

»Danke«, sagte sie gerührt, drückte ihn in die Kissen und deckte ihn zu. Dann ging sie zur Tür, wo sie beschwörend den Finger an den Mund legte, und schlich zurück in ihr Zimmer. Hier fand sie keinen Schlaf mehr, ihr Herz klopfte aufgeregt. Als es hell zu werden begann, beschloss sie, dass es Zeit war. Adele stand immer als Erste auf, setzte das Waschwasser in der Küche auf und weckte die Eltern, sobald es erhitzt war. Bis dahin musste Grazia fort sein. Es würde seltsam erscheinen, dass sie das Frühstück nicht abgewartet hatte. Nun, ihre Eltern würden glauben, dass sie sich habe fortstehlen wollen, damit sie niemand zurückhielt, was ja auch stimmte. Schlimmstenfalls handelte sie sich eine Ohrfeige ein; aus dem Alter, den Hintern versohlt zu bekommen, war sie heraus. Und Stubenarrest hatte sie ja gewissermaßen schon. Welche Folgen es auch nach sich zog, sie konnten nicht schlimmer sein als die Ungewissheit. Sie musste noch einmal zurück, musste nach dem geheimnisvollen Fremden sehen. Darauf hoffen, dass er sich erklärte. Falls er dort war und nicht tot am Grund lag!

Sie trat zur Waschschüssel, stellte sich mit geschlossenen Augen davor und ließ die Hände über dem Porzellan schweben. Zunächst tat sich nichts, aber dann spürte sie einen kühlen Luftzug an den Handinnenflächen, als halte jemand Eisstücke darunter. Es plätscherte. Die Schüssel füllte sich. Es war einfach unglaublich, geradezu beängstigend. Gerne wäre sie hinausgelaufen, um alle zu wecken und das Kunststück vorzuführen. Andererseits, wollte sie diese Fähigkeit, oder was immer es war, behalten? Geheuer war sie ihr nicht, aber immerhin ersparte sie ihr jetzt, in die Küche zu schleichen und den Hahn aufzudrehen, was Adele sicherlich gehört hätte. Rasch beugte sie sich über die Schüssel und sog einen Schluck auf. Das Wasser war kühl und wohlschmeckend wie sonst keines. Wie reines Quellwasser.

Grazia richtete sich auf und wischte bedächtig die Tropfen vom Kinn. Wenn es nun giftig war! Nein, der Fremde hatte ihr auf solche Weise gewiss nicht schaden wollen.

Sie wusch sich und kleidete sich an. Ohne helfende Hand war es mühselig, das Korsett zu schnüren. Ganz zu schweigen vom Drapieren der gelockten Haare. Den schiefen Knoten verbarg sie unter einem weißen Hut, den sie mit Nadeln feststeckte. Dann schlüpfte sie in ihr Sommerjäckchen, steckte Theodor Fontanes Havelland-Band, an dem sie gerade las, in die Handtasche und hängte sie sich an den Arm.

Eine halbe Stunde später saß sie im Zug, das Buch auf dem Schoß.

Pfaueninsel! Wie ein Märchen steigt ein Bild aus meinen Kindertagen vor mir auf: ein Schloß, Palmen und Känguruhs, Papageien kreischen, Pfauen sitzen auf hoher Stange oder schlagen ein Rad, Volièren, Springbrunnen, überschattete Wiesen, Schlängelpfade, die überall hinführen und nirgends; ein rätselvolles Eiland, eine Oase, ein Blumenteppich inmitten der Mark.

Der Zug ruckte, rasselte und zischte. Grazia sah auf und klappte das Buch zu. Es fiel ihr schwer, sich auf die Lektüre zu konzentrieren. Sie hatte gehofft, Ablenkung darin zu finden, doch die Gedanken glitten immer wieder zu dem, was sie mit ihren Händen – oder Gedanken – zu schaffen imstande war. Dagegen war ihr heimlicher Ausflug kaum der Rede wert, nur deshalb wagte sie ihn überhaupt. Sie wünschte sich, alles wäre vorbei und wie zuvor. Sie wünschte sich, Friedrich hätte dieses Grab nie gefunden, denn dann wäre sie nicht in der Nähe des Stegs gewesen und alles andere nicht passiert.

Und doch war es nicht nur die Furcht, die ihr Herz pochen ließ. Wann war das Leben so aufregend gewesen? Abenteuer kannte sie nur aus Büchern. Nicht einmal der seltene Anblick eines Motorwagens, der vom Zug überholt wurde, und dessen Chauffeur fröhlich winkte, da sich alle Zugreisenden, die an den Fenstern saßen, die Nasen platt drückten, konnte sie jetzt beeindrucken.

»Wenn das so weitergeht, fliegen wir noch«, sagte der Fahrgast ihr gegenüber und zwinkerte ihr zu. Grazia lächelte höflich. Er zog aus der Rocktasche eine Tageszeitung und faltete sie auseinander. Auf der unteren Hälfte der Titelseite, eingerahmt von Reklame für allerlei Wundermittelchen, stand ein Artikel über den Grabfund. »Ein havelländisches Troja?«, hieß es da arg reißerisch. Man liebte es, Bezüge zu Troja herzustellen, aber selbst Grazia, die ihr archäologisches Wissen für bescheiden hielt, wusste, dass das unsinnig war. Der Text ließ sich kaum entziffern, zu lesen war nur, dass der Kaiser höchstpersönlich Geldmittel fließen lassen wollte, damit die Sensation ans Tageslicht kam. Verwunderlich war das nicht, Wilhelm II. war sowohl an fortschrittlicher Technik als auch an der Vergangenheit interessiert. Aber dass Friedrich ihr das nicht erzählt hatte, enttäuschte sie. War sie für ihn nur ein nettes Mädchen, das nichts im Kopf hatte? Sie, die Tochter eines Philologen? Eine, die ein mehr oder weniger hübsches Modell hergab, um den Schmuck zu tragen, die aber ansonsten in ihrem Zimmer am besten aufgehoben war? Ärgerlich schnaufend stopfte sie ihr Buch in die Handtasche. Der Zug fuhr ohnehin in den Bahnhof Wannsee ein. Die Bremsen quietschten, ein Ruck ging durch Grazia, sodass sie sich an der Sitzbank festhalten musste. Sie beeilte sich, auf den Bahnsteig zu kommen, wo es durchdringend nach verbrannter Kohle roch. Am Ausgang warteten die Kutscher neben ihren Kremsern auf Fahrgäste. Grazia wäre gern gelaufen, doch dazu war es zu weit, also legte sie den Weg zur Fähre mit einer Droschke zurück. An der Ablegestelle angekommen, steckte sie vorsichtig den Kopf aus dem Fenster. Niemand war hier, nur der Fährmann hockte vor seinem Häuschen und las eine Zeitung. Grazia stieg aus, bezahlte den Kutscher und sah ihm zu, wie er das Gespann wendete. Erst dann wandte sie sich an den Fährmann, denn jetzt ging ihr auf, dass sie gar nicht auf die Insel konnte, ohne dass Friedrich davon erfuhr.

»Hab ick det Frollein nich schon neulich jesehn?«, fragte der Mann, nachdem er sie übergesetzt hatte und ihr beim Aussteigen half.

Grazia setzte eine steife Miene auf. »Ja, in Begleitung von Herrn Mittenzwey.«

»Ach ja, der Herr Archäologe! Der is schon fleißig bei die Arbeet.«

O nein!, dachte sie. Welch ein Pech.

»Und ick hatte mich schon jewundert, dat Sie alleene unterwegs sind. Na, det is ooch en Ding, wa? Alte Knochen uff meene Insel!«

Lachend nahm er einen Groschen entgegen. Grazia beeilte sich, das Fährhaus hinter sich zu lassen und durch einen offenen Laubengang in die kunstvoll angelegte Gartenlandschaft einzutauchen. Gottlob war sie hier allein, sodass sie stehen bleiben und ihre Gedanken sammeln konnte. Hinter dem Garten ragte das weiße Ruinenschlösschen auf, das Friedrich Wilhelm II. vor hundert Jahren hatte bauen lassen. Auf dem sorgfältig gepflegten Rasen stolzierte ein Pfau, seine Schleppe elegant hinter sich herziehend. Ihr Erscheinen bedachte er mit einem nervösen Rucken des Kopfes. Eine Pfauenhenne schrie. Sein Hals wurde länger, dann trippelte er auf das Schloss zu, als sei es selbstverständlich, dass es für einen Vogel wie ihn keinen angemesseneren Ort für ein Rendezvous gab. Grazia runzelte die Stirn. Friedrich würde wohl kaum ähnlich erfreut auf sie zueilen.

Der Gedanke, er könne sie stören, wenn sie auf den Fremden traf, missfiel ihr. Und wie sollte sie ihr Hiersein erklären? Einfach sagen, sie habe sich die Grabungsstätte ansehen wollen? In der Früh? Sie würde ihre Nervosität ohnehin nicht verbergen können, aber vielleicht hatte sie Glück, und er bemerkte sie gar nicht. Sie ging durch einen Rosengarten, vorbei an Eichen und Winterlinden, deren welke Blüten den Boden benetzten, und blieb im Schatten einer Kiefer stehen, vor sich einen runden Springbrunnen, in dessen Mitte eine hohe sprudelnde Säule stand. Stockenten schwammen im Wasser und ließen sich nicht stören, als sie an die Einfassung trat und die Finger benetzte. Sie blickte zurück zum Schloss, das durch die Blätter der Bäume schimmerte. Der Zauber der Insel nahm sie gefangen. Preußens Arkadien nannte man sie, und es war wahrhaftig so, als sei man in einer verwunschenen Welt, mit ihren pittoresken Gebäuden zwischen knotigen Eichen und Büschen. Vögel pfiffen, Pfauen balzten, und das Wasser der Fontäne gischtete ihr ins Gesicht. Gern hätte sie hier verweilt und vergessen, was sie herführte. Als ihr Blick auf den schmalen Weg fiel, der zur Grabungsstätte führte, straffte sie sich und ging weiter. Sie musste sich unziemlich durch die Büsche schlagen, um zum Ufer zu gelangen. Glücklicherweise gab es zu so früher Stunde keine Ausflügler, die sie dabei beobachten konnten. Sie verbarg sich hinter einer Buche und reckte vorsichtig den Hals.

Auf der Lichtung, nur wenige Schritte entfernt, lag Friedrich bäuchlings und mit aufgekrempelten Ärmeln im Gras und wühlte in der Grube. Einiges hatte sich hier verändert. Ein meterhoher Zaun umstand weitläufig die Grabungsstelle, und statt des Meiers waren gleich mehrere Arbeiter damit beschäftigt, Friedrich zur Hand zu gehen. Ein junger Mann, vermutlich ein Student, saß an einem Klapptisch, vor sich eine Schachtel, und notierte etwas in einer Kladde. Knochen lagen in der Schachtel, soweit Grazia erkennen konnte. Die Männer unterhielten sich, wobei sie nicht von ihren Tätigkeiten aufsahen, auch dann nicht, als Grazia langsam zum nächsten Baum schlich. Was, wenn Friedrich jetzt den Kopf hob? Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Würde er ihr zürnen? Gar die Verlobung lösen?

Das Rauschen der Blätter verriet, dass es zu regnen anfing. Die Männer sprangen auf und schickten sich an, die Plane über die Grube zu werfen. Grazia nutzte die Ablenkung, um im Schutz der Bäume zum Ufer zu laufen. Da war auch schon der Steg. Unschuldig ragte er in die Havel. Nichts erinnerte an das, was hier geschehen war. Die Holzbohlen waren ein wenig getrocknet, sodass die Regentropfen dunkle Flecken hinterließen. Hoffentlich gab es nicht wieder so einen heftigen Guss wie vor drei Tagen. So oder so würde Grazia nass werden, da sie nicht daran gedacht hatte, ihren Schirm mitzunehmen. Vielleicht sollte sie unter dem Blätterdach warten, bis es vorbei war, und dann nach Hause fahren. Was erhoffte sie sich auch von diesem Ausflug? Der Fremde war fort, versunken vor ihren Augen, und lag vielleicht tot auf dem Grund.

Ein eisiger Schauer lief über ihren Rücken, als sie den Steg betrat. Langsam schritt sie ihn ab und starrte rechts und links ins Wasser. Trüb war es, grünlich. Algen und winzige schwarze Fische schwammen darin, aber tiefer als einige Handbreit konnte sie nicht blicken. Schließlich stand sie auf dem letzten Brett. Ihr war schwindlig, vermutlich von der langen Wegstrecke. Gern hätte sie sich hingesetzt, aber dazu war der Steg zu feucht. Warum nur hatte sie ausgerechnet ihr weißes Sonntagskleid angezogen? Plötzlich erschien ihr der Ausflug so lächerlich und dumm, dass sie sich auf dem Absatz umdrehte. Augenblicklich würde sie sich wieder an Friedrich vorbeistehlen, um heimzufahren, das hoffentlich erträgliche Donnerwetter der Eltern über sich ergehen zu lassen und für die nächsten Tage in ihrem Zimmer zu bleiben.

Und dann? Wollte sie auf ewig an diese Begegnung zurückdenken und sich den Kopf darüber zermartern? Irgendwo hier musste die Antwort auf ihre Fragen zu finden sein. Sie versuchte in die Tiefe zu schauen und sich gegen den Anblick eines Leichnams zu wappnen, der womöglich genau in diesem Moment auftrieb. Ihr schauderte es, und als sie das Licht sah, musste sie einen leisen Schrei unterdrücken.

Es war schwach. Kaum wahrnehmbar für jemanden, der nicht wusste, dass es da war. Sie beugte sich vor. Dass dort unten etwas leuchtete, erschien ihr so unfassbar wie bei ihrem letzten Besuch hier. Und noch seltsamer – je länger sie hinschaute, desto stärker wurde es. An den Rändern waberten Wasserpflanzen, deutlich beleuchtet. Ein Fisch verschwand im Lichtkreis, als werde er darin verschluckt, doch dann kam er auf der anderen Seite wieder hervor.

»Grazia!«

Sie fuhr herum. Am Ufer stand Friedrich, Hose und Hemd beschmutzt, die Arme bis zu den Ellbogen voller Schlamm. Sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen Fassungslosigkeit und Ärger. Dann stapfte er auf sie zu, so heftig, dass der Steg ins Wanken geriet.

»Ich hatte dir doch gesagt ... du hattest es mir versprochen! Grazia, was soll das?«

»Bitte, Friedrich.« Es fiel ihr schwer, nicht heiser und schuldbewusst zu klingen. »Mach mir keine Szene.«

»Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Nur dass ich enttäuscht bin. Das genügt fürs Erste, ansonsten reden wir später darüber.« Auf einmal war er so dicht bei ihr, dass sie sein Rasierwasser riechen konnte. Er hob die Hand, um sie am Ellbogen zu berühren, aber dann schien er sich darauf zu besinnen, wie dreckig er war. »Ich bringe dich nach Hause zu deinen Eltern.«

»Nein, bitte brich nicht deine Arbeit ab«, fiel sie ihm ins Wort. »Es hört sicher gleich wieder auf zu regnen. Und ich kann allein fahren.«

»Warum bist du bloß hergekommen?«

»Weil ich ...«

»Nur, um deinen Dickkopf durchzusetzen, ja?«

Das wollte sie empört von sich weisen, aber vielleicht war es gar nicht so falsch. Wie auch immer, sie musste ihm nur das Licht zeigen, dann würde er verstehen. Sie drehte sich auf dem Absatz um und blickte ins Wasser. Ja, es war noch da. »Sieh doch nur, Friedrich, sieh dir das an!«

»Was? Was denn?«

»Da unten im Wasser. Das Licht! Es kann doch nicht sein, dass du es nicht siehst.«

Aber er sah gar nicht hin. Stattdessen griff er ungeachtet seiner schmutzigen Finger nach ihrem Arm. »Grazia, nicht schon wieder so eine merkwürdige Geschichte! Was ist nur mit dir? Mir scheint, du bist wirklich krank.«

»Ich bin nicht krank!«, schrie sie ihn an. Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund. »Verzeih, ich wollte nicht laut werden.«

»Du bist nicht nur laut, du bist überspannt.«

»Überspannt? Bitte!«

»Komm jetzt.« Er wollte sie mit sich ziehen, doch sie riss sich von ihm los und machte einen Schritt zurück. Ihre Stiefelsohle rutschte über die Kante. Mit einem lauten Schrei fiel sie in die Havel.

»Grazia! Mein Gott! Grazia!«

Sie wollte ihm antworten, doch das Wasser schlug über ihr zusammen und erstickte jeden Laut. Verzweifelt suchte sie mit den Füßen Halt. Sie paddelte hilflos mit den Armen und reckte den Kopf nach oben. Es gelang ihr, Luft zu schnappen, doch als sie den über ihr knienden Friedrich um Hilfe anschrie, schwappte das Wasser in ihren Mund. Er streckte eine Hand nach ihr aus. Wild schlug sie danach, bekam sie jedoch nicht zu fassen.

»Bleib doch ruhig«, rief er ihr zu und machte Anstalten, ins Wasser zu springen. Da bekam sie die Kante des Stegs zu fassen. Er packte ihr Handgelenk, dann das zweite. »Ganz ruhig«, ermahnte er sie. »Ich habe dich ja.«

»Friedrich«, keuchte sie. »Etwas ist ... da unten.«

Nein, nicht das Licht. Etwas war dort, ein Sog, der an ihren Beinen zerrte, ohne sie zu berühren. Friedrich stemmte die Füße gegen die Holzbohlen und versuchte sie hochzuziehen. Schweiß perlte durch seinen Schnauzbart. »Du bist zu schwer«, stieß er zwischen zwei Atemzügen hervor. »Ich kann dich nicht hochziehen!«

»Hilf mir!«, schrie sie. Seine Finger glitten an ihren Händen ab. Wieder wollte sie schreien, doch das Wasser drängte in ihren Mund. Sie wollte es ausspucken, warf den Kopf in den Nacken und tat einen gurgelnden Schrei. Mit aller Kraft versuchte sie sich dem Sog zu entziehen, versuchte zu strampeln, nach Friedrichs Händen zu packen ...

Ihr gelang nur ein letzter Atemzug. Das Wasser schlug über ihr zusammen, dunkel und kalt. Das Licht umschloss sie, nur noch schemenhaft sah sie den Steg und Friedrich, wie er sich herabbeugte. Seine entsetzt aufgerissenen Augen, seine Hände, wie sie das Wasser durchpflügten, auf der Suche nach ihr. Allzu rasch wurde er kleiner, dann sah sie nichts mehr. Das Licht erlosch, wurde zu Schwärze. Sie hätte tot sein können, hätte nicht das Blut in ihren Ohren gerauscht und sie nicht gespürt, wie sich ihr Kleid bauschte und an der Hüfte verfing. Allmählich schmerzten ihre Schläfen, und die Lungen schrien nach Luft. Vor sich glaubte sie das Gesicht ihres Vaters zu sehen. Justus ... Niemand war da, sie starb allein. Sie würde sterben. In den Tod sinken.

Aber das Licht kehrte zurück. Unter ihren Füßen pulsierte es, breitete sich aus und umschloss sie wie eine Röhre, bis sie vollkommen darin eingetaucht war. Eine Wasserpflanze trieb dicht vor ihrem Gesicht vorbei, weißlich glänzend. So unwirklich ... Grazia wurde müde, konnte nicht mehr gegen den brennenden Wunsch, Luft zu holen, ankämpfen. Auch nicht gegen die Reue, auf den Steg gegangen zu sein. Was würde ihre Familie sagen? Ihre Eltern, die noch glaubten, sie läge im Bett? Ihr Bruder, der sich nun auf ewig Vorwürfe machen würde, ihr geholfen zu haben?

Etwas leuchtete unter ihren Füßen, heller noch als das sie umgebende Licht. Eine kreisrunde Öffnung, wie das Ende eines Tunnels. Und das, was sie dort sah, war rot, ockerfarben, von harten Schatten durchzogen – eine Wüstenlandschaft. Sie wollte schreien, als sie erkannte, dass sie wie aus großer Höhe zu fallen drohte. Immer näher kam die Öffnung. Tief, tief unter sich erkannte sie Sanddünen und schroff aufragende Klippen. Dürre Vegetation. Gar eine Schlange, die sich tänzelnd durch den Sand pflügte.

Ich sterbe, dachte sie. Das sind nur Bilder, die mir mein sterbendes Hirn vorgaukelt.

Die Lichtsäule bahnte sich ihren Weg bis zum Sandboden.

Grazia konnte sehen, wie der Sand aufspritzte. Plötzlich schwand der Druck des Wassers um ihre Beine. Luft umhüllte sie, dicke, heiße Wüstenluft.

Sie stürzte in die Tiefe.

Das gläserne Tor

Подняться наверх