Читать книгу Das gläserne Tor - Sabine Wassermann - Страница 12
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ОглавлениеDas Sturhorn stillte mit schlürfenden Geräuschen an einem Wasserlauf seinen Durst. Es war der erste Bach auf ihrem Weg, der tief genug war, um darin zu baden. Grazia hätte das liebend gern getan. Ihr Gewand starrte vor Dreck, und überall juckte der Sand. Den Schweißgeruch nahm sie schon gar nicht mehr wahr, und an die Tage, als sie sich damit abgequält hatte, ihre Monatsblutung möglichst unauffällig hinter sich zu bringen, wollte sie gar nicht erst zurückdenken. Anschar kniete im Bach, goss sich das trübe Wasser über die Haare, spülte die abrasierten Bartstoppeln herunter und durchnässte die löchrigen Kleider. Sie zog es vor, im Schatten des Sturhorns zu warten und ihre Schenkel zu kneten. Mittlerweile schmerzten sie nicht mehr, und unter den Fingern spürte sie Muskeln, die dort nie gewesen waren. Trotzdem war jede weitere Stunde auf dem Rücken des Tieres eine Qual. Wenigstens war es ihr gelungen, einen Sonnenbrand zu verhindern. Sie hasste ihren stinkenden Mantel, achtete aber sorgsam darauf, sich damit zu bedecken.
Am Horizont sah sie das Hochland, eine dicke, graue Linie, die in der Hitze flirrte. Es war, als habe sich das Land erhoben, wie eine Treppenstufe. Drei Tagesritte war es entfernt, hatte Anschar am Morgen verkündet, und doch wirkte es jetzt schon gewaltig. Aufregend.
»Kühl wenigstens deine Füße«, meinte er, nachdem er aus dem Bach gestiegen war und sich die Haare schüttelte. »Ich sehe schon nicht hin.«
Er entfernte sich einige Schritte und band die Haare im Nacken zusammen. Derweil betrachtete er das graue Band in der Ferne. Grazia raffte das Gewand, streifte die Bastschuhe ab und stieg über das steinige Ufer hinab in den Bach, gerade so weit, dass das Wasser ihre Knöchel umspielte. Es war tatsächlich frischer als die bisherigen Bäche und nahezu ausgetrockneten Wadis, die sie bisher durchquert hatten. Manchmal hatte sie während des Rittes die Hände unter das Gewand gesteckt und kühlendes Wasser an den Beinen herablaufen lassen, doch seit Anschar einmal stirnrunzelnd gefragt hatte, ob sie sich eingenässt habe, ließ sie es bleiben.
Er schien in Gedanken versunken zu sein. Je näher seine Heimat kam, desto verschlossener wurde er. Etwas beschäftigte ihn, doch was es war, sagte er nicht. Überhaupt sprach er sehr wenig über seine häuslichen Verhältnisse. Er hatte weder Frau noch Kinder, das wusste sie. Ebenso wusste sie, dass er in seiner Eigenschaft als einer der Zehn im königlichen Palast lebte, nach seiner Beschreibung ein riesiges, verschachteltes Gebäude mit einer unüberschaubaren Zahl von Zimmern, Korridoren und Treppenschächten. Dort, so hatte er versichert, werde man ihr Gastfreundschaft gewähren. Seinen Worten nach zu schließen, gab es dort eine primitive Kanalisation, Anschars Räume besaßen sogar ein eigenes Bad. Doch sehr viel mehr erzählte er von sich nicht.
Sie hatte ihn gefragt, ob es Hadurs unverständlicher Angriff war, der ihn so beschäftigte, und er hatte es bejaht. Doch sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er erleichtert gewesen war, einen so glaubwürdigen Grund in den Mund gelegt bekommen zu haben.
»Ich bin fertig«, sagte sie, nachdem sie aus dem Wasser gestiegen war. Sofort kehrte er zu ihr zurück und half ihr auf das Sturhorn. Anfangs hatte er sich lustig darüber gemacht, wie sie, breitbeinig auf der Kruppe sitzend, ihr Gewand ordnete, damit es die Beine bedeckte. Mittlerweile sagte er auch dazu nichts mehr. Er schwang sich vor sie in den Sattel und straffte die Zügel, um das Tier dazu zu bewegen, das Maul aus dem Bach zu nehmen.
»Wie kommen wir eigentlich dort hinauf?«, fragte Grazia.
»Durch die schwebende Stadt. Du wirst schon sehen. Pass auf, dass deine Haare nicht herausschauen. Wir wollen nicht mehr Aufsehen als nötig erregen.«
Sie legte die Arme um seine Mitte. Bevor er das Sturhorn zum Weiterlaufen antrieb, sagte sie: »Es ist, weil du deinen Auftrag, den Gott zu bringen, nicht erfüllt hast. Ja?«
Flüchtig erstarrte er. »Nun, ich habe versagt. Sollte mich das freuen?«
»Aber es war doch ... ich meine, du konntest nichts dafür.«
Darauf sagte er nichts mehr. Mit einem Aufschrei trieb er das Tier an, das sich gemächlich in Bewegung setzte. Stunde um Stunde rückte die Hochebene näher, die von einem steppenähnlichen Saum umgeben war. Sie ritten durch Felder mannshohen Grases, das an den Füßen kitzelte. Vereinzelt sah Grazia Sträucher und Bäume, Pinien ähnlich, doch viel niedriger und mit gelblichen, dürren Blättern. Am Fuß der Felswand schälten sich die dunklen Umrisse anderer Sturhörner heraus. Männer saßen darauf, zum Teil auf kunstvollen Sattelaufbauten, die an überdachte Sänften erinnerten. Andere liefen nebenher, bewaffnet mit Speeren und Bogen, und ordneten die Ketten aneinandergebundener Wüstenmenschen, die den Sturhörnern folgten wie ein langer Rattenschwanz.
»Da sind sie, die viel erwähnten Sklavenhändler«, sagte Anschar. »Fettbäuche, die sich an ihnen goldene Finger verdienen. Kaum zu glauben, dass man mich für so einen gehalten hat.«
Ein Mensch, der versklavt zu werden drohte, machte da sicher keinen großen Unterschied, dachte Grazia, doch sie sprach es nicht aus. »Hast du auch Sklaven?«, fragte sie.
»Ja, einen alten Mann. Alt und nutzlos, aber mein.« Überrascht bemerkte sie eine aufflackernde Weichheit in seiner Stimme. Offenbar lag ihm einiges an diesem Sklaven. »Dann noch ein paar, die nur kommen, wenn sie gebraucht werden. Die sind Palasteigentum. Siehst du den Argaden dort?« Er deutete auf einen Mann, der inmitten umherlaufender Menschen stand und sie händeklatschend antrieb. Eine bunte Kaskade von Edelsteinen glänzte in seinem Haar. Fünf Sturhörner weideten eine niedergetrampelte Grasnarbe ab, während die Männer unter seiner Anleitung Kisten und Körbe an die Sättel banden. Vermutlich hatte die Karawane hier ein letztes Mal gerastet, bevor es an den Aufstieg ging. Etwa zwanzig gebundene Männer und Frauen hockten beieinander, hielten sich an den Händen und blickten ängstlich auf die Felswand, die auf sie sicherlich sehr bedrohlich wirkte. »Das ist Fergo, der größte Sklavenhändler des ganzen Hochlandes. Seine Familie besitzt seit Generationen das alleinige Recht, die Königspaläste mit Sklaven zu beliefern.«
Der Sklavenfänger drehte den Kopf nach ihnen, als sie dicht an seinem Lager vorbeiritten. Er schob die Brauen zusammen, als er Anschar sah – und ihn wohl erkannte. Dies taten noch ein paar andere, denen sie begegneten. Grazia bemerkte, dass sie beinahe ängstlich zurückwichen. Einer der Zehn genoss offensichtlich höchsten Respekt.
Angesichts der über ihnen aufragenden Felswand verblasste das Treiben auf der Ebene. Grau und schrundig reckte sie sich weit in den diesigen Himmel, diese Treppenstufe in eine andere Welt. Wie hoch mochte sie sein? Zweihundert Meter? Dreihundert? Vögel nisteten in ihren Nischen, ihr Kreischen hallte über die Ebene. Schwarz hoben sich die Schwärme von der Wand ab, drehten anmutige Kreise und verschwanden in einer Spalte, die sich von der Felskante bis fast zum Boden erstreckte.
Dies musste die von Anschar erwähnte Schlucht sein. Die Schlucht, die Hersched von Argad trennte. Schwarz und fast glatt, wirkte sie tatsächlich, als habe ein Riese das Plateau mit einem Schwert durchtrennt. An ihren Kanten ragten Mauern auf, wie Fundamente alter Burgen. Darüber erhoben sich helle, glatt verputzte Mauern, doch sehr viel mehr ließ sich von hier unten nicht von den beiden Städten erkennen, die Anschar Heria und Argadye genannt hatte. Nur dass sie groß wirkten, denn die Mauern erstreckten sich weit in beide Richtungen.
Umso erstaunlicher erschien Grazia die Ansammlung von in die Felswand gebauten Hütten, die von der Ebene bis hinauf zu Herias Mauern reichte. Untereinander waren die Hütten mit in den Fels gehauenen Treppen, Brettern und Seilen verbunden. Ein abenteuerliches Chaos, in dem die Menschen scheinbar unbekümmert herumstiegen – eine senkrechte Stadt.
»Das ist die schwebende Stadt?«, platzte Grazia heraus. »Da müssen wir durch?«
»So ist es. Was heißt müssen? Manchem gilt die schwebende Stadt als der schönste Fleck ganz Herscheds.«
»Aber ... aber ...«, stotterte sie entsetzt. »Mir wird ja jetzt schon schwindlig! Was ist mit den Sturhörnern? Für die muss es doch einen anderen Weg geben.«
»Ja, weiter östlich.«
»Können wir den nicht auch nehmen?«
»Der würde uns noch einen ganzen Tag kosten. Jeder geht durch die schwebende Stadt. Wenn man aus der Wüste kommt, gibt es nichts Besseres, als dort ein Felsenbier zu trinken.«
»Ach ja, Bier«, murmelte sie. Das hatte er erwähnt, andernfalls hätte sie mit dem Wort nichts anzufangen gewusst.
»Gibt es das in deiner Welt auch?«
»Hunderte von Sorten, schätze ich.«
Er lachte, zum ersten Mal seit Wochen. »Sie scheint nicht uninteressant zu sein.«
Bei den ersten Häusern saßen sie ab, inmitten einer Herde gesattelter und bepackter Sturhörner. Es stank entsetzlich nach Urin. Grazia fragte sich, ob die Tiere daran schuld waren oder die Bewohner dieser Stadt einfach ihre Hinterlassenschaften aus den Fenstern kippten. Anschar tränkte sein Sturhorn und winkte aus einem Pulk von wartenden Jungen einen herbei, den er anwies, auf das Tier aufzupassen. Dann fasste er Grazia am Arm und führte sie eine wacklige Holztreppe hinauf. Es gab ein Handseil, an das sie sich klammern konnte, aber wirklichen Halt bot es nicht. Sie ermahnte sich, nur auf die nächste Stufe zu blicken, und tastete sich Stück für Stück hinauf. Durch eine Bodenluke erreichten sie das erste Haus. Hier saßen an einem langen Tisch mehrere Männer und ergaben sich dem Trunk. Grazia begriff, dass die schwebende Stadt eine einzige Ansammlung von Wirtshäusern war. Über Treppen, Rampen, schmale, aus dem Fels gehauene Wege und wiederum Treppen ging es immer weiter hinauf, oft mitten durch die Hütten hindurch. Eine Schankstube wechselte die nächste ab. Ab und zu geriet Anschar mit anderen Männern ins Gespräch, verkaufte einem von ihnen das Sturhorn und erklärte vielen anderen, dass sich Grazia nicht erwerben ließ. So ging es schier endlos, bis ihr die Waden schmerzten. Erleichtert atmete sie auf, als er sich in einer der Hütten auf eine Bank hinter einen Tisch setzte. Ihr knickten fast die Knie ein, und er musste sie festhalten, damit sie vor Erschöpfung nicht auf den Boden fiel. Sie schob sich an seine Seite und schüttelte die Beine, um die zittrigen Muskeln zu entspannen.
»Ich kann nicht mehr!«, jammerte sie.
»Wir sind bald oben.« Er winkte einen Jungen herbei und bestellte zwei Krüge Bier, das sofort gebracht wurde. Grazia nippte daran. Seltsam schmeckte es, und es war körnig. Dicht neben ihr befand sich eine der Außenwände, so nachlässig gezimmert, dass der Wind durch die Ritzen pfiff und – was schlimmer war – den Blick hinunter frei gab. Grazia sah die mit Felsengras gedeckten Dächer der Hütten, die scheinbar schwebenden Treppen und tief, tief unten die Ebene, auf der die Menschen und die Sturhörner wie Spielzeugfiguren wirkten. Nein, eher wie Ameisen.
»Mir ist schlecht.« Sie wusste ja längst, wie belastbar die aus Felsengras geflochtenen Bänder und Seile waren, die dafür sorgten, dass die wacklig aussehende Konstruktion hielt, und trotzdem ballte sich in ihrem Bauch schmerzhaft die Furcht.
»Trink, Mädchen, trink, dann geht’s dir besser!«, rief jemand vom Nebentisch. Dort saßen drei Männer in fleckigen Kitteln, an denen wohl schon viel Bier hinuntergeflossen war. Einer beugte sich vor und tat so, als wolle er nach ihr schnappen. Grazia zuckte zurück, obwohl er zu weit weg saß, um sie erreichen zu können. Sie brachen in grölendes Gelächter aus.
»Kann man jetzt Sklavinnen mit roten Haaren kaufen?«, rief ein anderer. »Wie färbt man die?«
Sie drückte sich an die Felswand in ihrem Rücken. Diese Kneipenstadt mochte für Männer ein angenehmer Aufenthaltsort sein, für Frauen gewiss nicht. Anschar zog ihr die Kapuze in die Stirn und schob sich den rechten Ärmel herunter. Gemächlich trank er weiter, den Arm auf die Tischplatte gestützt. Die Männer starrten mit offenen Mündern auf seine Tätowierung und verfielen in betretenes Schweigen.
»He!«, kam es da aus einer anderen Ecke. Ein großer Mann mit zotteligen Haaren und einem perlenbesetzten Ziegenbart stapfte heran und ließ die Hütte erbeben, sodass sich Grazia mit einem leisen Aufschrei an Anschars Arm klammerte. »Ohne ein Wort meine Gäste zum Schweigen zu bringen – das können nicht viele. Bei Inars Gemächt! Anschar! He, wo ist der letzte Gott? Hast du ihn etwa in der Tasche?«
»Der ist mir weit und breit nicht begegnet.« Anschar hob die Hand, und der Wirt schlug ein, sodass es klatschte. »Weiß man etwas von den anderen Suchtrupps?«
»Da man solcherlei Nachrichten hier in der schwebenden Stadt am schnellsten erfährt, kann ich guten Gewissens behaupten, dass du der Erste bist, der zurück ist. Ich habe darauf gewettet, dass dein Trupp als Erster heimkehrt. Oder das, was von ihm übrig ist. Leider war ich auch so dumm, auf deinen Erfolg zu wetten. Das macht einen Verlust von zwölf Silberstücken. Allmächtige Götter!« Er fasste sich an die Stirn. »Wie konnte ich nur so leichtsinnig sein? Kannst du wenigstens das Bier bezahlen? So abgerissen, wie du aussiehst? Wo ist eigentlich der Rest des Trupps?«
»Tot, Schelgiur. Alle.«
»Auch der Priester, den du bei dir hattest? Na, das dürfte kein Vergnügen für dich werden, mit dieser Nachricht vor den Meya zu treten.« Der Wirt deutete mit dem Daumen auf Grazia. »Und wer ist die? Hast du dir etwa gesagt, wenn ich schon den Gott nicht finde, fange ich mir wenigstens eine Sklavin?«
Anschar öffnete den Beutel, den er für das Sturhorn bekommen hatte, förderte eine Münze zutage und legte sie auf den Tisch. Schelgiurs dürre Finger griffen danach, doch Grazia war schneller.
»Darf ich mir das ansehen?«
Die Münze schimmerte kupfrig. Ein Loch war darin, wohl zum Auffädeln. Grazia befingerte das Kupferstück von allen Seiten. Es war mit Schriftzeichen versehen, die ein wenig an mesopotamische Keilschriften erinnerten. Dazwischen waren zwei Köpfe erkennbar, die sich einander zugewandt hatten. Es musste sich um das Götterpaar handeln.
»He, Anschar, hat sie noch nie eine Münze gesehen? Ich dachte, die Wüstenmenschen kennen unser Geld.«
»Sie ist nicht aus der Wüste.« Anschar nahm ihr die Münze ab und legte sie in Schelgiurs ausgestreckte Hand. »Sie ist nur etwas merkwürdig.«
»Merkwürdig?«
»Ja. Pass auf.« Blitzschnell packte Anschar ihr Gewand an den Knien und zog es ein Stück hoch. Grazia stieß einen Schrei aus und wollte ihn ohrfeigen, doch er fing ihre Hand ab, ohne hinzusehen. Sie entzog sich ihm und strich mit ärgerlichen Bewegungen den Stoff glatt. Der Wirt glotzte sie an.
»Was war denn das? Sie ist wirklich verrückt. Und dann diese Flecken! Was willst du mit ihr? Sie an Fergo verkaufen? Aber ob der für fleckige Wüstenfrauen den üblichen Preis gibt?«
»Sie ist keine Wüstenfrau, das sagte ich bereits. Eine Sklavin ist sie auch nicht.«
»Was soll sie denn sonst sein? Kann es sein, dass sie dich durcheinandergebracht hat? Aber vielleicht wart ihr beide ja einfach nur zu lange da draußen.« Schelgiur tippte sich an die Stirn. »Mir wird es hier ja schon zu viel, wenn die Sonne an die Felswand brennt. Komm. Unterhalten wir uns in einer ruhigen Ecke. Da habe ich auch den guten, eingelegten Braten.«
»Damit verschone uns lieber.« Anschar erhob sich von der Bank und zog Grazia mit sich. Sie stiegen in eine Nische, die sich zu einer Höhle verbreiterte. An ihren Wänden stapelten sich Krüge, manche hüfthoch, bis zur Decke. Diese gewaltigen Behältnisse über die wackligen Treppen heranzuschaffen, war sicherlich die Aufgabe bedauernswerter Sklaven. Jetzt wusste Grazia immerhin, warum das Bier so kühl war.
Sie hockten sich auf niedrige Krüge mit tönernen Deckeln. Schelgiur neigte Anschar den Kopf zu. »Wie lange warst du jetzt weg? Ein halbes Jahr, oder?«
»Ungefähr. Was gibt es Neues?«
»Der elende Fluch der Götter plagt uns unverändert. Der Pegel des Großen Sees ist weiter gesunken. Bald schaffen es die Toten ans Ufer, sagt man. Die letzte Ernte war so schlecht wie noch nie. Diese verfluchte Trockenheit, alles macht sie teurer! Das Bier auch, eigentlich hätte ich dir zwei Kupferstücke abnehmen sollen.«
»Bist du irre? Als ich wegging, kostete es die Hälfte!«
»Ich sagte doch, der Fluch ist schuld.«
»Weißt du, wie es Henon geht?«
»Gut, soviel ich weiß. Schiusudrar ist gestorben.«
»Nein!«, fuhr Anschar auf. »Wie ist denn das passiert?«
»Er hatte einen eitrigen Zahn, bekam Fieber und ... nun ja, so fing es an und war nicht mehr aufzuhalten. Kein angemessener Tod für einen der Zehn, aber danach fragen die Götter nicht. Es gab eine Prüfung für Neuzugänge, aber niemand hat es geschafft. Jetzt gibt es von euch nur noch vier.«
Die Zehn waren selten vollständig, das hatte Grazia schon von Anschar gelernt, als er im Wüstendorf gefangen gewesen war. Die Ansprüche an diese Kriegerkaste waren hoch, und selten fand sich ein Anwärter, der sie erfüllen konnte.
Anschar hob die Schultern. »Und sonst?«
Schelgiur schürzte die Lippen und warf einen misstrauischen Blick in Richtung des Schankraums, als wolle er sichergehen, dass ihn niemand hörte. Seine Stirn krauste sich. »Es heißt, in Mallayurs Palast lebe eine Nihaye.«
»Ach? So ein Unfug. Es gibt keine Nihayen mehr, und selbst wenn, wo sollte er sie herhaben?«
»Es sind nur Gerüchte. Niemand hat sie bisher zu Gesicht bekommen. Manche behaupten, sie lebe schon seit Jahren dort, aber das dürfte Unsinn sein. Andere sagen, sie habe seinen Suchtrupp begleitet.«
»Das ist auch Unsinn. Schelgiur, ich traf ja auf seine Männer. Denen erging es nicht besser als uns, außer dass ein paar mehr überlebt haben, und unter ihnen war keine Halbgöttin. Nicht dass ich eine erkennen würde, wenn ich sie sähe, aber da war keine Frau. Selbst wenn es so wäre – was hätte Mallayur von ihr? Was vermag sie zu tun?«
Der Wirt hob die Schultern. »Ich bin weder ein Priester, der so etwas wissen könnte, noch ein Dummkopf, der es wissen wollte. Mit göttlichen Kräften legt man sich nicht an.«
Grazia räusperte sich unbehaglich.
»Was ist?«, fragte Anschar.
»Nichts, gar nichts.« Sie verschränkte die Arme, damit er nicht weiterfragte.
»Ist dir kalt hier drinnen?« Prüfend zog er eine ihrer Hände an sich und umfasste ihre Finger. Überall an ihrem Körper schienen sich die Härchen aufzurichten.
»Nein, nein«, stotterte sie. »Eine gesunde Haut friert nicht, sagt meine Mutter immer.« Was redete sie da für dummes Zeug? Tief senkte sie ihren sicherlich tomatenroten Kopf.
Er nahm sich Zeit, um sich davon zu überzeugen, dass ihre Finger nicht klamm waren. Schlaff ruhte ihre Hand in seiner. Sie genoss es, und als Rufe aus dem Schankraum ihn ablenkten, bedauerte sie es.
»Was ist denn da los?« Schelgiur stemmte sich hoch und stapfte aus der Höhle. Es hörte sich an, als wären ein paar Gäste aneinandergeraten. Der Wirt brüllte dazwischen; es krachte, als sei Holz gesplittert, und dann gellte ein Entsetzensschrei. Anschar zog Grazia auf die Füße und folgte ihm. Als sie am Höhleneingang angelangten, sah sie einen Mann am Boden sitzen, der sich das Blut aus der Nase schnäuzte. Einen anderen hatte Schelgiur am Schlafittchen gepackt und beförderte ihn soeben durch die offene Tür.
»O Gott, sieh nur.« Grazia klopfte auf Anschars Schulter. »Er wirft ihn in die Tiefe!«
»Ach was.«
Der Raufbold versuchte sich am Treppenseil festzuhalten, fiel auf den Hosenboden und rutschte, wie es schien, mehrere Stufen hinunter. Es genügte, die Hütte erzittern zu lassen. Schelgiur schlug die Tür zu, was die Wände ein zweites Mal schwanken ließ, und wischte sich die Handflächen an seinem Kittel ab.
»Anschar? Wo waren wir stehen geblieben? Was machst du jetzt, da du wieder daheim bist?«
Anschar half Grazia die Stufe in den Schankraum hinunter und ging zur Tür. »Was schon? Nachher muss ich vor Madyur-Meya treten und Bericht erstatten. Das wird kein Vergnügen werden. Jetzt aber freue ich mich erst einmal auf ein Bad und mein Bett. Wahrscheinlich kann ich so weich gar nicht mehr schlafen.«
Das geht mir womöglich auch so, dachte Grazia und fragte sich, wo sie die nächste Nacht verbringen würde. Doch das vergaß sie sofort, als Anschar die Außentür öffnete. Ihr Magen krampfte sich bei dem Gedanken an den Rest des Aufstiegs zusammen. Ein Windstoß fegte ihr die Kapuze vom Kopf. Sofort zog er sie wieder hoch.
»Meine Güte«, murmelte Schelgiur kopfschüttelnd. »Meine Güte! Brennende Haare! Du solltest dringend bei Fergo mit ihr vorstellig werden.«
Grazia hatte genug von dieser Kaschemme und stieg hinaus auf die wacklige Treppe. Lieber wollte sie hier draußen herumklettern, als sich länger solches Geschwätz anzuhören. Sie klammerte sich an das Seil, das als Handlauf diente, und tastete sich Stufe um Stufe hinauf. Es beruhigte sie nicht, dass sich Anschar hinter ihr befand und sie notfalls festhalten würde. Ein Mann lief an ihr vorbei, so leichtfüßig, als befände er sich dicht über dem Erdboden. Die Holzbretter bebten unter seinen Schritten. Jeden Augenblick würden sie einbrechen.
»Das ist keine schwebende Stadt«, beklagte sie sich bei Anschar, als sie einigermaßen sicher war, für dieses Mal mit dem Leben davongekommen zu sein. »Das ist eine einstürzende Stadt! Ich kann nicht mehr.«
»Du musst.«
»Ich kann nicht!«
»Willst du, dass ich dich trage? Ich kann auch veranlassen, dass dich ein paar kräftige Kerle an einem Seil hinaufziehen.«
»O Gott«, murmelte Grazia. Meinte er das ernst? Sie wollte es nicht ausprobieren, also riss sie sich zusammen und kletterte mit zittrigen Knien weiter.
»Vielleicht solltest du nicht an die Brüstung gehen«, sagte Anschar, als sich Grazia anschickte, die Terrasse zu betreten. Oder war es ein Balkon? Von dieser Seite hatte sie den Palast noch nicht gesehen. Sie hatte überhaupt recht wenig vom Rest des Weges wahrgenommen und stattdessen nur mehr auf ihre Füße geachtet, damit sie nicht hinfiel. Da war ein großes Tor gewesen, dahinter verwinkelte Gänge und wieder Treppen, über die Anschar sie schlussendlich getragen hatte.
Müde tappte sie über die steinerne Terrasse, um wenigstens einen Blick auf die Stadt zu werfen, bevor sie sich ausruhte. Welche Stadt? Grazia rieb sich die Augen. Selbst das Nachdenken fiel ihr schwer. Sie befand sich in Argadye, aber was sie sah, war Heria, ein heller und riesiger Teppich dicht gedrängter Flachdächer, auf denen Sonnensegel gespannt waren und Stoffe zum Trocken lagen. Frauen und Kinder saßen allerorten im Schatten der Planen. Hinter der Stadtmauer erstreckten sich ockerfarbene Felder und weit in der Ferne eine Bergkette. Ob die Felder wegen der Dürre so aussahen? Oder war jetzt nicht die rechte Jahreszeit?
Ein Schauer durchlief sie, als sie sich vorbeugte, um nachzusehen, was sich unmittelbar unter ihr befand. Anschar hatte recht, das war nicht der richtige Anblick für sie. Der Palast war dicht an die Schlucht gebaut. Unter ihr befanden sich vier Etagen, und darunter begann fast übergangslos die Felswand. Nur eine schmale Straße, auf der die Menschen ganz unbefangen herumliefen, trennte das Gebäude vom Abgrund. Ihr Magen wollte sich heben, als sie den Grund der Schlucht erblickte, ein schmales Band, im Schatten fast nicht erkennbar. Da war auch die Brücke, von der Anschar erzählt hatte. Sie hatten sie überquert, denn Grazia erinnerte sich, die mit farbigen Reliefs verzierten Torpfeiler gesehen zu haben, die an beiden Enden aufragten. Sie wankte zurück in seine Gemächer. »Ich wusste nicht, dass du so dicht an der Schlucht wohnst. Für mich wäre das nichts. Weißt du, bei uns zieht man die Beletage vor, wenn man es sich leisten kann.«
»Die was?« Er sprach soeben mit einem Mann, der einen weißen, mit einem türkisfarbenen Saum versehenen Wickelrock trug. Dieses Kleidungsstück war ihr schon aufgefallen, denn es trugen hier viele. Sklaven. Der Mann, dessen dunklere Hautfarbe den Wüstenmann verriet, verneigte sich und ging.
»Den Wohnraum ganz unten«, erklärte sie in Ermangelung des richtigen Wortes und sackte auf eine Bank. »Dann muss man nicht so viele Treppen steigen. Aber das scheint hier ja zum Alltag zu gehören, außerdem habt ihr zum Tragen die armen Wüstenmenschen.«
»Ich habe ihn angewiesen, das Becken zu füllen. Nach dem Bad wirst du dich besser fühlen.«
»Das Becken? Er muss das Wasser bis hier heraufschleppen?«
»Nicht er allein. Aber ja, wie sollte es sonst heraufkommen?«
Auf den Gedanken, dass man zum Baden hinuntergehen könne, schien er nicht zu kommen. Allerdings war die Vorstellung, gleich in sauberes Wasser zu sinken, ohne sich noch einmal fortbewegen zu müssen, so angenehm, dass sie nicht länger widersprach. Anschar war ohnehin mit seinen Gedanken woanders, denn er ging mit verschränkten Armen umher und starrte auf den mit Bastmatten belegten Boden.
»Anschar ...«, setzte sie an, um ihn endlich zu fragen, was ihn seit geraumer Zeit plagte. Da kam er zu ihr und beugte sich herab.
»Ich muss mich um ein paar Dinge kümmern.«
»Du lässt mich allein?«
»Henon, mein Leibsklave, wird sicher bald zurückkommen. Wahrscheinlich sitzt er in den Gärten und schläft, etwas anderes hatte er in meiner Abwesenheit ja nicht zu tun.« Er hob die Hand, als sie den Mund öffnete. »Ich bin gleich wieder zurück. Ich muss ein paar Leuten von meiner Rückkehr berichten. Vor allem Madyur-Meya, der König, muss es wissen. Wie es jetzt mit dir weitergeht, weiß ich leider nicht. Nur ein Priester könnte dein Rätsel lösen.«
»Wann kann ich einen solchen Priester sprechen?«
»Das weiß ich nicht. Hab ein wenig Geduld. Auf ein paar Tage kommt es jetzt wohl nicht mehr an. Ich kümmere mich darum, dass du gut untergebracht wirst. Es wird dir an nichts fehlen.«
Grazia nickte und begann fahrig an einem Daumennagel zu kauen. Sie hatte sich an Anschars beständige Gegenwart gewöhnt und scheute sich davor, die restliche Zeit in dieser Welt ohne ihn zu verbringen, auch wenn die Spanne, wie sie hoffte, kurz war. Einen Leibwächter des Königs würde sie sicher nicht oft zu Gesicht bekommen. Schief lächelte sie ihn an. »Du bist sicher froh, mich bald los zu sein, oder?«
»Du hast alles getan, um dafür zu sorgen, dass ich dich lästig finde.« Er rang sich ein Grinsen ab, das genauso unecht wirkte, und streifte die Kapuze von ihrem zerzausten Kopf. »Das da brauchst du jetzt nicht mehr, dein Haar können wir ja nicht ewig verstecken. Die Wüstenkleider lasse ich verbrennen.«
Langsam richtete er sich wieder auf. Geh nicht, dachte sie und sah hilflos zu ihm auf. Sein Finger glitt unter ihr Kinn.
»Kann ich dich jetzt allein lassen? Nur ganz kurz?«
»Ja«, hauchte sie. Als er sie losließ und sich dem Ausgang zuwandte, fragte sie:
»Willst du denn so vor deinem König erscheinen?«
»Er darf mir ruhig ansehen, was ich hinter mir habe.« Fast stieß er mit dem Sklaven zusammen, der zwei Eimer heranschleppte. Erschrocken versuchte der Mann sich zu verneigen, doch Anschar schob ihn beiseite, ohne ihn zu beachten. Weitere Sklaven folgten und verschwanden mit ihren Wassereimern in einem Nebenraum. Grazia wunderte sich, dass der Ausgang keine Tür besaß, nicht einmal einen Vorhang. Jeder konnte hier ein und aus gehen. War das hier so üblich? Sie glaubte draußen auf den Korridoren viele Türen gesehen zu haben. Warum war das bei Anschars Wohnung anders?
Sie fing an zu dösen. Es dauerte sicherlich eine halbe Stunde, bis die Sklaven fertig waren und verschwanden, bis auf einen, der sich vor ihr verneigte. »Es liegt alles bereit. Soll ich nach einer Sklavin schicken, die dir beim Baden hilft?«, fragte er ehrerbietig und fast tonlos, den Blick zu Boden geheftet.
»Danke, aber das ist nicht nötig.« Grazia rieb sich die Augen. Gern hätte sie ihm ein Geldstück gegeben, aber sie hatte keines, und wahrscheinlich durfte er es gar nicht nehmen.
»Darf ich gehen?«
»Natürlich.«
Erneut verneigte er sich und verließ die Wohnung. Mit ihrer Tasche unter dem Arm ging sie ins Bad. Dazu musste sie einige breite Stufen hinabsteigen, die in einem gefliesten und mit Wasser gefüllten Raum endeten. Einen Beckenrand gab es nicht. Die Toilettenartikel lagen auf der letzten Stufe, die aus dem Wasser ragte.
So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Sie hatte gehofft, wenigstens das Bad ließe sich verschließen. Hier kannte man offenbar, wie in vielen antiken Kulturen, keine Schlösser, aber dass man sogar mit Türen geizte, war ärgerlich. Wie sollte sie hier baden, wenn jederzeit irgendwelche Leute hereinkommen konnten?
Sie machte kehrt. Der eigentliche Wohnbereich war durchaus mit einem Salon vergleichbar – großzügig, mit einer offenen, von Pfeilern gestützten Seite, die auf die Terrasse hinausführte. Weinranken waren auf die Pfeiler gemalt, und in den Zwischenräumen hingen Grasmatten, die sich herabrollen ließen. Am anderen Ende des Salons öffnete sich ein Durchgang zu einem zweiten, kleineren Raum, in dem ein ziemlich ausladendes Bett stand. Sonst gab es nur wenige Möbel: gemauerte Bänke an den Wänden, ein Tisch und ein paar Truhen. Sie würden verloren wirken, wären die Wände nicht über und über mit Fresken verziert. Grazia öffnete die Truhen und fand eine Decke, doch nichts an den Türrahmen, woran sie sich befestigen ließe. Lediglich der Wohnungseingang wies Zapfen auf.
Sie steckte den Kopf hinaus auf den Korridor, an dessen Ende der Sklave auf einem Hocker saß. Er sprang sofort auf und eilte zu ihr.
»Herrin?«
»Ich glaube, ich brauche doch zwei Frauen, äh ... Sklavinnen«, murmelte sie verlegen.
»Ja. Ich hole sie.« Schon war er in demselben Treppenschacht verschwunden, über den Anschar sie hinaufgetragen hatte. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sie die eiligen Schritte der Sklavinnen hörte. Mit gesenkten Köpfen kamen sie herangelaufen und verneigten sich.
Grazia ging zum Bad, hob die Decke auf und breitete sie aus. »Wärt ihr so freundlich, mit der Decke den Eingang zuzuhalten, während ich bade?«
Die Frauen zeigten sich angesichts ihres fremdartigen Äußeren verwundert. Vielleicht auch wegen ihres höflichen Tonfalls. »Natürlich, Herrin.«
»Ihr müsst sie aber ganz hochhalten. Und nicht schauen.«
»Ja, Herrin.«
»Danke.«
Grazia schüttelte innerlich den Kopf, während sie sich ins Bad begab und darauf achtete, dass der Eingang sorgfältig verhängt war. Als sie vor ein paar Jahren Onkel Toms Hütte gelesen hatte, wäre ihr nie in den Sinn gekommen, selbst je mit Sklaven zu tun zu haben. In Deutsch-Ostafrika, so hatte Tante Charlotte in ihren Briefen erzählt, war die Sklaverei zwar erst vor wenigen Jahren abgeschafft worden, aber Grazia hätte nie zu träumen gewagt, die Schutzgebiete zu besuchen – geschweige denn ein Land außerhalb ihrer Welt.
Bevor sie sich entkleidete, vergewisserte sie sich noch einmal, dass die Frauen nicht heimlich zusahen, dann stieg sie halbwegs beruhigt in das Wasser. Kühl war es und ließ ihre Haut angenehm prickeln. Welch eine Wohltat! Wenn sie sich setzte, versank sie bis zu den Brüsten darin, und es war Platz genug, sich der Länge nach auszustrecken. Der Raum war wie ein Schacht, mit einem kleinen Fenster versehen und verkleidet mit türkisfarbenen Fliesen, die ein Wellenmuster andeuteten. Fische waren darin abgebildet, gar einer, der ein Delfin sein mochte. Auch wenn diese Menschen kein Meer kannten, hatten sie die Erinnerung daran bewahrt.
In einer Dose fand Grazia in Streifen geschnittene Blätter. Eine Art Seifenkraut? Sie zerrieb ein paar dieser Streifen im Wasser, und tatsächlich schäumte es zwischen ihren Händen. Zügig wusch sie sich, ebenso die Haare, die sie sofort auskämmte und hochsteckte. Allzu lange wollte sie sich nicht darauf verlassen, dass die Sklavinnen Wache hielten, also stieg sie beizeiten aus dem Wasser und rieb sich mit dem bereitgelegten Tuch trocken. Gern hätte sie ihren Füßen mehr Aufmerksamkeit gewidmet, denn die sahen schrecklich aus – geschwollen und schwielig. Nun, das musste warten. Aus ihrer Tasche holte sie ihre Kleider und schüttelte sie aus. Das Sommerkleid war zerknittert, das Unterkleid ebenso. Und ihr Unterzeug stank nach all den Monaten, aber das war heute nicht mehr zu ändern. Rasch stieg sie ins Beinkleid, zog die Strümpfe an, zupfte an den Nähten, bis sie richtig saßen, und hüllte sich in das Korsett. Es folgte der seidige Unterrock, der wenigstens ein bisschen kühlte, und als sie sich mühsam das Sommerkleid überzog und richtete, hörte sie Anschars Stimme.
»Was wird denn das? Macht, dass ihr fortkommt.«
»Herr, das geht nicht«, erwiderte eine der Frauen, die Stimme ein ängstlicher Hauch. »Die ...«
»Was?«, schnaubte er, schon gefährlich nahe. Jeden Augenblick würde er die Decke herunterreißen.
»So ein Stiesel«, murmelte Grazia und rief: »Ich habe ihnen gesagt, dass sie die Decke hochhalten sollen!«
Er brummte etwas in sich hinein. Seine Schritte entfernten sich. Sie kämpfte mit den Häkchen des Spitzenkragens, und als sie ihre Toilette endlich beendet hatte, raffte sie ihre herumliegenden Sachen auf und zupfte an der Decke. Die Frauen ließen sie sinken und eilten hinaus.
Anschar saß auf der Bank an einem der Pfeiler, immer noch in seiner zerschlissenen Reisekleidung, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Gesicht in den Händen vergraben. Ordentlich stellte Grazia die Tasche an der Wand ab, richtete sich auf und strich den Stoff glatt.
»Anschar?«
Er hob den Kopf. So blickte niemand drein, der nach so langer Zeit von einer gefährlichen Reise zurückkehrte, selbst wenn er seinen Auftrag nicht erfüllt hatte. Aber ihr blieb keine Zeit, darüber nachzusinnen, denn seine Augen weiteten sich, als könne er nicht glauben, was er sah.
»So sieht das also aus«, sagte er. »Ich habe das alles ja nur zerknüllt gesehen. Jetzt sag aber nicht, alle Frauen in deinem Land tragen das.«
»Doch, natürlich.«
»Aber so stolperst du ständig.«
»Nicht, wenn man den Stoff so hält.« Mit einer Hand hob sie den Rock ganz leicht an und machte zwei Schritte vorwärts. Das Rascheln des Unterrocks kam ihr inzwischen unverhältnismäßig laut vor. Ob er es wohl wahrnahm? Dann zeigte sie ihm die französische Art des Raffens und legte beide Hände an die Hüften, sodass ihre Fesseln sichtbar wurden. Das fand sie recht gewagt, auch wenn sie längst begriffen hatte, dass er das nicht so sah. Nach zwei weiteren Schritten ließ sie den Stoff los. »Siehst du?«
»Ja ... äh ... kannst du das noch einmal machen?«
Sie tat es und hob den Rock noch ein klein wenig höher.
»Wieso sind deine Beine plötzlich schwarz?« Er schien vergessen zu haben, dass er ihre Strümpfe schon gesehen hatte. Oder er erkannte den Zusammenhang nicht. Grazia ließ den Stoff fallen und zuckte die Achseln, da sie beim besten Willen nicht wusste, wie sie das erklären sollte. Sie hoffte nur, dass er nicht auf sie zustürmte und den Rock hochzerrte, um sich das näher anzuschauen. Was sie ihm ohne weiteres zutraute.
»Und wie geht man mit so einem Kleid eine Treppe hoch?«, fragte er schließlich.
»Die Frau geht vor dem Mann, so kann er nichts sehen.«
Das beantwortete nicht seine Frage, aber er gab sich damit zufrieden. Verloren stand sie da, denn er versank wieder ins Grübeln. Was hatte er nur? Es schmerzte sie, ihn so zu sehen. Nach einer Weile stemmte er sich hoch, streifte den schmutzstarrenden Mantel ab und ging an ihr vorbei.
»Bring mir etwas zum Anziehen, ganz hinten aus der Truhe«, sagte er. »Ich bade jetzt. Mir ist nicht danach, erst frisches Wasser holen zu lassen. So dreckig hast du’s ja hoffentlich nicht gemacht.«
Sie zuckte zusammen, als er an ihrem Ärmel zupfte. Als sie sich umdrehte, lächelte er.
»Sieht unbequem aus.« Seine Hand ruhte in ihrer Armbeuge. »Aber nicht uninteressant.«
Er verschwand im Bad. Kurz darauf hörte sie das Wasser spritzen und ihn wohlig aufstöhnen. Ein Sklave erschien, verneigte sich vor ihr, wobei er es vermied, sich verwundert über ihr Äußeres zu zeigen, und trug einen bis zum Rand gefüllten Bierkrug ins Bad. Dann verschwand er wieder. Allmählich glaubte Grazia zu verstehen, warum es hier keine Tür gab. Sklaven mussten herein und hinaus, und ständig öffnen wollte man ihnen wohl nicht.
Sie lief ins Schlafzimmer und fand in der Truhe mehrere Wickelröcke und ärmellose, eng geschnittene Hemden. Fast alles war schwarz, was die Farbe der Zehn war, wie sie inzwischen wusste. Sie zog ein Hemd heraus und wählte einen Rock, der zur Abwechslung wenigstens goldene Stickereien am Saum aufwies. Mit geschlossenen Augen legte sie die Sachen auf die oberste Stufe der Badekammer. Aber bevor sie sich zurückzog, schaute sie hin, nur für einen winzigen Moment.
Als sie sich wieder aufrichtete, stieß sie vor Schreck einen leisen Schrei aus. Ein Mann stürmte die Wohnung. Unwillkürlich wich sie zu einem der Terrassenpfeiler zurück.
»Anschar!«, brüllte er. Abrupt blieb er stehen, als er sie sah. »Wer bist denn du?«
Grazia wusste nicht, was sie tun sollte. Ein Sklave war das offensichtlich nicht. Am Eingang bemerkte sie einen weiteren Mann, und dieser hatte eine Tätowierung, die Anschars glich. Also ein Mitglied der Kriegerkaste ... und auf einmal wusste sie, dass es der Großkönig des Hochlandes war, der so lautstark nach Anschar verlangte. Vor Schreck machte sie einen besonders tiefen Knicks, sodass sie auf ihren blanken Strümpfen beinahe ausglitt. Er schien es nicht zu bemerken. Erleichtert sah sie Anschar aus dem Bad kommen, sauber und rasiert. Er eilte auf den König zu, wobei er den hastig umgelegten Wickelrock schnürte.
Ehrerbietig verneigte er sich. »Ruhm und Ehre in alle Ewigkeit für dich, Herr.«
Madyur-Meya nickte. Während sich die beiden Leibwächter mit stummen Blicken begrüßten, wandte er sich Grazia zu. Langsam umrundete er sie; seine Musterung fiel noch unverhohlener als alle bisherigen aus, und sie wappnete sich gegen eine mögliche Berührung. Anschar gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie sich nicht bewegen solle.
»Du hast den Gott nicht bei dir, wie ich hörte?« Die Frage galt Anschar, wenngleich der König dicht vor Grazia stand und sich leicht zu ihr neigte, um die Rüschen und Schleifchen ihres Kleides in Augenschein zu nehmen. Sie betete darum, dass er ihres übel riechenden Unterzeugs nicht gewahr wurde. Er selbst verströmte einen erfrischenden Wohlgeruch. Sie fand ihn durchaus anziehend. Groß, breitschultrig, aber schon weit in den Vierzigern. Die ergrauten Haare trug er zu einem kleinen Zopf gebunden. Nichts an seinem Äußeren wies ihn als König aus, doch sein Gehabe war ohne Zweifel das eines Herrschers.
»Nein«, erwiderte Anschar. »Weder ihn noch den Rest deines Suchtrupps. Ich habe versagt.«
Madyur nickte langsam. »Deine Offenheit ehrt dich. Ich bin enttäuscht, das weißt du ja. Ich war sicher, dass es dir gelingen würde. Und wenn nicht dir, dann auch sonst keinem.«
Anschar schwieg. Er sah verbittert aus.
»Stattdessen bist du mit dieser Frau zurückgekehrt. Soll sie mir als Entschädigung dienen?«
O Gott, dachte Grazia. Augenblicklich glaubte sie sich einer Ohnmacht nahe.
»Sie ist hier, weil sie Hilfe braucht, um wieder in ihr Land zurückzukehren«, erwiderte Anschar. »Ich habe ihr versprochen, dass sie freundlich und als Gast aufgenommen wird. Sie ist keine Wüstenfrau.«
»Das sehe ich.« Der Meya ließ den Blick an ihr hinaufwandern, bis er an ihren Augen hängen blieb. Die Strenge wich mit einem Mal aus seinen Zügen, und er lächelte entwaffnend. »Wie, sagtest du, ist dein Name?«
»Grazia.«
Breitbeinig ließ er sich auf einer der gemauerten Bänke nieder und winkte sie heran. »Wo kommst du her?«
»Aus Preußen.«
»Nie gehört. Wo soll das sein? Und wer herrscht dort?«
»Ein Adelsgeschlecht. Es ist ein Königreich, aber der König regiert noch über andere Länder. Das ist wohl ganz ähnlich wie hier. Es ist jedenfalls sehr weit weg.«
»Dann scheint er sehr mächtig zu sein?«, fragte er lauernd.
»O ja, das ist er.«
»Bei Inar! Ich hoffe, er wirft nicht eines Tages ein Auge auf Argad!«
Grazia musste sich ein Lachen verkneifen. »Nein, Meya, das ist wohl nicht zu befürchten. Er wäre gern noch mächtiger, aber von deinen Ländern weiß er nichts.«
Zweifelnd rieb sich Madyur das Kinn. »Kennt er dich?«
»Gott bewahre! Nein. Darf ich?« Sie ging zu ihrer Tasche, holte ihr Portemonnaie und öffnete es. »Das ist er.«
Mit spitzen Fingern nahm Madyur das Fünfmarkstück entgegen und hielt es hoch. »Du hast recht – dein Land muss sehr weit weg sein. Jedenfalls ist mir in meinem ganzen Leben noch kein Mann mit einem solchen Bart begegnet. Und auf die Idee, sein eigenes Abbild auf eine Münze zu prägen, muss man erst einmal kommen.«
»So etwas kennt ihr auch nicht, oder?« Mutig geworden, nahm Grazia den zerknüllten Geldschein heraus, glättete ihn und reichte ihn dem König. »Das ist auch Geld.«
»Das ist doch nur ein Stück Papier.«
»Ja, Geld aus Papier. Es ist so wertvoll wie ein Beutel voller Münzen.«
»Ach ja? Es könnte aber wegwehen«, gab er zu bedenken. »Man könnte es zerreißen.«
»Das tut aber niemand. Ein Münzenbeutel ist viel schwerer.«
Er war nicht überzeugt. »Zum Schleppen gibt’s doch Sklaven. Wie viele solcher Papiere brauchte man denn, um einen guten Sklaven zu kaufen?«
»Das weiß ich nicht«, murmelte Grazia und überlegte rasch. Was gab es in dieser Welt, das einen Gegenwert von zehn Mark besaß? »Man könnte ... man könnte dafür ein paar Dutzend Bierkrüge kaufen. Schätze ich.«
»So viel? Dafür?« Mit spitzen Fingern hielt er den Schein hoch. »Inars Augen! Da hätte ja selbst ich, der ich wahrlich kein armer Mann bin, Bedenken, so etwas mit mir herumzutragen. Bemaltes Papier! Solch ein Unfug. Außerdem sieht es aus, als hätte es drei Monate in einem Braubottich gelegen.«
»Zeig ihm das«, raunte Anschar in ihr Ohr und drückte ihr das Buch in die Hand. Warum tat er das nicht selbst? Mit einem Seitenblick erkannte sie, dass es ihm gefiel, wie sie dem König ihre Welt erklärte. Als sei er stolz auf sie.
Madyur reckte neugierig den Kopf. Sie reichte ihm das Buch. Er betastete es, schlug es auf und stutzte. »Ist das ... Schrift?«
»Ja. Man nennt sie Fraktur. Es ist eine Reiseerzählung. Ein Mann reist durch meine Heimat und erzählt davon.«
»So ähnlich wie fahrende Sänger? Nur dass er alles aufgeschrieben hat?« Vorsichtig blätterte er in den Seiten, drehte das Buch wieder herum und betrachtete es lange. »Ich verstehe. Wir haben auch Bücher, aber das sind im Gegensatz hierzu große Kästen, in die man die Papierrollen steckt. Bei euch muss man alles selber tragen, wie? Deshalb macht ihr die Dinge klein und leicht, die Bücher, das Geld, ja?«
Darüber hatte Grazia noch nie nachgedacht. Dass ein Mann aus einer so andersartigen Kultur eine solche Auffassungsgabe besaß, fand sie geradezu beängstigend.
»Sag etwas in deiner Sprache«, forderte er sie auf.
»Gern.« Grazia räusperte sich und sagte ihr Lieblingsgedicht auf. Madyur hörte mit wachsender Verblüffung zu.
»So etwas habe ich wirklich in meinem ganzen Leben nicht gehört. Was hast du da erzählt?«
»Die Geschichte von einem Mann, der einen Obstbaum pflanzt. Birnen.«
»Bir-nen«, wiederholte er langsam das fremde Wort. »Gibt es bei uns Birnen? Was meinst du, Anschar? Von welchem Obst könnte die Rede sein?«
»In diesem Gedicht geht es doch gar nicht um Obst«, warf Anschar ein. »Sie hat’s mir beigebracht. Es geht um ...«
Das letzte Wort verstand sie nicht, doch sein Griff an den Schritt war eindeutig. Der König fing schallend an zu lachen. »Ach so! Das gefällt mir. Sie soll es mir auch beibringen. Nein, sie soll es übersetzen. Das kann sie doch, oder?«
Die Röte schoss ihr ins Gesicht. Sollte Anschar das Gedicht dermaßen fehlinterpretiert haben? Rasch ging sie es noch einmal in Gedanken durch, doch sie konnte die Stelle, an der seine Fantasie falsch abgebogen war, nicht finden.
»Ja, das kann sie. Vor ein paar Monaten verstand sie kein Wort, aber jetzt könnte man sie fast für eine Argadin halten. Ihr Akzent ist jedenfalls inzwischen weniger auffällig als ihr Aussehen.«
»Erstaunlich, erstaunlich«, murmelte der König, besah sich das Buch noch einmal von allen Seiten und gab es ihr zurück. »Wie hast du das geschafft, Frau?«
»Mit preußischer Disziplin, würde mein Vater sagen. Und meine Mutter würde sagen, damit hätte ich es in der halben Zeit schaffen müssen.«
»Ich verstehe«, erwiderte er, sah aber so aus, als habe er kein Wort verstanden. »Frau, du bist interessant. Nachher wirst du in der großen Halle zum Abendessen erscheinen, damit mein Hofstaat auch etwas von dir hat. So eine exotische Blume muss man vorzeigen.«
Exotisch? Sie? Grazia schluckte, um nicht loszuprusten. Hoffentlich blamierte sie sich bei diesem Essen nicht. Zum Dank machte sie einen Knicks, aber Madyur achtete nicht mehr auf sie. Schwere Schritte näherten sich. Drei gerüstete und mit Schwertern bewaffnete Männer tauchten im Eingang auf. Anschar war sofort vor seinen König getreten und hatte Grazia neben ihn an die Wand geschoben. Er hatte sein Schwert nicht zur Hand, aber seine breitbeinige Haltung wirkte auch so bedrohlich genug. Auch der andere Leibwächter stand abwehrbereit da. Erst als sich die Soldaten verneigten, traten die beiden Männer zur Seite.
Der König wirkte überrascht, gestattete ihnen jedoch mit einem Wink, näher zu treten. Sie sagten kein Wort. Er schien zu wissen, was ihr Auftauchen bedeutete.
»Mein Bruder hat es ja verdammt eilig, seinen Gewinn einzufordern«, brummte er und fauchte die Männer an, sodass sie zusammenzuckten. »Glaubt er etwa, dafür sei eine Eskorte nötig? Natürlich, es gefällt ihm, einen der Zehn wie einen Verbrecher abzuführen. Damit es auch ja die halbe Stadt sieht! Dafür wasche ich ihm mit Nägeln den Kopf, das könnt ihr ihm ausrichten.« Er stieß einen ohrenbetäubenden Laut aus. »Bei Inar, nie hätte ich gedacht, dass ich wirklich und wahrhaftig meinen besten Mann an ihn verliere. Na schön, was sein muss, muss sein. Anschar, bist du bereit?«
Tief atmete Anschar ein. »Ja, Herr.«
»Dann geh. Das Drama des Abschieds wollen wir uns ersparen. Mögen die Götter über dich wachen.«
Gehen? Mit diesen Soldaten?
Grazias Magen krampfte sich zusammen.
»Verzeihung!«, rief sie und reckte den Kopf, um die Aufmerksamkeit des Königs zu gewinnen. »Darf ich fragen, wovon du sprichst?«
Ein wenig fürchtete sie sich davor, dass Anschar sie wieder anfuhr, wie er es in Tuhrods Zelt getan hatte. Aber das war ihr auf einmal gleichgültig. Er hätte ihr beizeiten sagen sollen, was ihn bedrohte.
»Platzen die Frauen in deinem Land auch einfach so dazwischen?«, fragte Madyur, um sich sogleich wieder an Anschar zu wenden. »Du hast es ihr nicht gesagt? Na gut, das ist nicht meine Sache. Ich habe hier schon genug Zeit vertrödelt.« Er warf die Hände auf die Schenkel und erhob sich. Die Soldaten machten ihm eilends Platz, als er zu Anschar trat. »Mach mir drüben keine Schande, ja?«
Anschar war wie erstarrt. Madyur klopfte ihm auf die Schulter und verließ die Wohnung. Sein Leibwächter warf einen kurzen Blick zurück zu Anschar, aus dem Bedauern sprach. Zwei der Soldaten nahmen am Ausgang Aufstellung. Der dritte näherte sich Anschar und sagte durchaus freundlich: »Wir haben Befehl. Du musst uns sofort begleiten.«
»Anschar ...« Grazia presste das Buch an sich, als könne es sie vor dem bewahren, was jetzt kam. Was immer es war. »Was hast du getan?«
»Nichts.« Er ging zu ihr, hob unschlüssig die Hand, wie um sie zu berühren, dann blickte er kurz über die Schulter zu den wartenden Männern. »Die Zeit, mich zu verabschieden, habe ich doch, oder?«
Der Soldat nickte.
»Kommst du wieder?«, fragte Grazia.
»Nein.«
»Großer Gott.« Sie schlug die Hand vor den Mund.
»Dafür dürfte dein Gott nicht groß genug sein.« Er versuchte zu lächeln, aber es misslang. »Ich hätte es dir erklärt, dachte aber, mehr Zeit zu haben. Erst habe ich es verdrängt, und dann ... ach.« Er winkte ab. »Madyur und Mallayur hatten eine Wette abgeschlossen. Mallayur hatte ihm vorgeschlagen, wessen Suchtrupp versagt, der muss dem andern seinen besten Krieger geben. Und der von Madyur hat versagt, wie du wohl weißt.«
»Der andere auch.«
»Das nützt mir nichts. Noch hat er sein Versagen nicht bewiesen. Ich hingegen schon.«
»Aber dann hätten wir doch irgendwo warten können!«
»Werde nicht kindisch. Jedenfalls weißt du jetzt, warum unmöglich Mallayur hinter Hadurs Absicht stecken kann, mich zu töten. Er ist ganz versessen darauf, einen der Zehn als Leibwächter zu haben.«
»Und nur wegen dieser Wette musst du zu ihm gehen? Für immer? Das können sie von dir verlangen?«
»Warum denn nicht? Gehorchen die Krieger ihren Herren in deinem Land etwa nicht?«
Grazia schüttelte den Kopf, aber nur, weil sie es nicht hinnehmen konnte. So preußisch war sie einfach nicht. »Du kannst wirklich nichts dagegen tun?«
»Nein, nichts. Mein eigener Wille existiert bei dieser unleidigen Sache nicht. Ich bin ein Sklave. So, jetzt weißt du es.«
Sie starrte ihn an. Starrte in diese dunklen Augen, die ihr inzwischen so vertraut waren. Die sie über Monate begleitet hatten. Ihr Schutz gewährt hatten. Sie verstand es nicht – seine Abneigung gegen die Wüstenmenschen, sein überhebliches Verhalten den Sklaven gegenüber. Und jetzt sollte er selbst ein Sklave sein?
»Aber ... aber ...«, zitternd hob sie eine Hand. »Du hast so schlimme Dinge über Mallayur gesagt. Wie er seine Sklaven behandelt. Dass er ...«
»Ich weiß, was ich gesagt habe!«, fiel er ihr heftig ins Wort. »Trotz allem bin ich nicht irgendein Sklave. Ich bin einer der Zehn. Also mach dir keine Sorgen.«
Der Soldat räusperte sich.
Sie spürte, dass ihre Lippen salzig schmeckten. Anschar legte die Hand an ihre Wange und wischte mit dem Daumen eine Träne fort, ganz so, wie er es bei ihrer ersten Begegnung getan hatte.
»Es tut mir leid, ich hätte das nicht so lange verschweigen sollen. Erst dachte ich ja auch, du müsstest es erkennen – hieran«, er zupfte an seinem bronzenen Ohrhaken. »Nur Sklaven tragen solche Haken. Aber dann war mir schnell klar, dass du das nicht wissen kannst, und ... es gefiel mir. Vielleicht verstehst du, dass es nichts ist, worüber ich dich gern aufgeklärt hätte. Henon ist wiederum mein Sklave, wie ich es sagte. Ich lasse ihn hier. Er soll nicht auch noch dort hinüber müssen.«
Seinen Körper durchfuhr ein Schauer, sie spürte es an seinen Fingern. Plötzlich kamen ihm selbst die Tränen, und er atmete schwer. Jeden Augenblick, so schien es, würde er losschreien. »Henon«, sagte er kehlig. »Es schmerzt so sehr, ihn nicht mehr sehen zu dürfen.«
Er ließ sie nicht los, doch er erkämpfte sich seine Beherrschung zurück. »Du kannst hier wohnen bleiben, das habe ich schon geklärt. Madyur wird dafür sorgen, dass es dir hier an nichts fehlt, und du kannst auch Türen oder was auch immer an den Ausgang anbringen lassen – du hast ja keinen Herrn, fär den du jederzeit erreichbar sein musst. Eines noch: Solltest du einmal jemanden außerhalb des Palasts brauchen, geh zu Schelgiur.«
»Kann ich nicht mit dir gehen?«, platzte sie heraus, erschrocken über sich selbst. Das hörte sich ja an, als wolle sie sich ihm an den Hals werfen. Ihre Mutter würde toben.
»Zu Mallayur?« Er lachte freudlos. »Das vergiss ganz schnell.«
»Das heißt, wir sehen uns jetzt tatsächlich zum letzten Mal?«
»Weeßicknisch, Feuerköpfchen.«
Nach einem Scherz war ihr nicht zumute. Immer noch schmiegte sich seine Hand an ihre Wange. Dann zog er sie an sich und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. Starr stand sie da, sich bewusst, dass es nur wenige Sekunden währen würde, ihn so zu spüren. Als er einen Schritt zurücktrat, schluchzte sie auf und drückte das Buch an seine Brust.
»Nimm es.«
Er hielt es fest. Wieder lächelte er, aber diesmal überzeugte es sie. »Danke. Pass auf dich auf.«
Als er sich abwandte, stürzte sie hinaus auf die Terrasse. Hier konnte sie ungehemmt weinen.