Читать книгу Die eiserne Welt - Sabine Wassermann - Страница 12
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ОглавлениеDie Jungen schleppten schwer an dem Tablett, auf dem das gebackene Fleisch in einer riesigen Tonschale thronte. Biyu trug das Brot herein. Wohlig aufstöhnend richtete sich der Herr des Dorfes in seinem Stuhl auf. Rasch war der Rücken eines knienden Jungen beladen. Den Korb mit dem noch dampfenden Fladenbrot musste seine Geliebte wie üblich halten, denn das Tablett beanspruchte allen Platz für sich. Auch die Krüge fanden nur auf dem Boden Platz. Biyu hatte alle Hände voll zu tun, auf den Knien rutschend die aus Grasstängeln geschnitzten Becher zu füllen, Brot zu verteilen und ihren Herrn zu futtern. Zu Grazias Erstaunen nahm sie dazu eine beinerne Gabel mit dreieckig angeordneten Zinken. In dieser Umgebung wirkte ein Essbesteck, das an das heimische Pellkartoffelessen erinnerte, recht absonderlich. Biyu spießte ein kleines Stück Fleisch auf und reichte die Gabel ihrem Herrn.
Wie Veynaydro aß, ließ Grazia jedoch schnell die Heimat vergessen. Er schlang, dass ihm das Fett am Kinn herablief und auf die Brust tropfte. Ab und zu wischte er sich mit einem Brotstück sauber. »Das ist Brot, so hab ich’s in Erinnerung«, seufzte er. »Meine Kinder kriegen es nur zäh und geschmacklos hin.«
»Deine Kinder?« Grazia schielte zu dem Jungen.
»Alle hier nenne ich so, auch wenn einige nicht von mir abstammen. Der hier schon.« Er tätschelte den Hinterkopf des Jungen, der sich bemühte, den Rücken in der Waagerechten zu halten. »Die Sklaven, die vielleicht backen könnten, kann man bis aufs Blut peitschen, sie strengen sich nicht an.«
»In Argad gibt’s zehn Brotsorten«, sagte Anschar. »Und ein Mann mit deiner Fähigkeit bekäme bergeweise Brot gebacken.«
Veynaydro brummte gereizt. Grazia versuchte ein glitschiges Stück Fleisch aus der Schale zu fischen, denn Essbesteck war anscheinend dem Herrn des Dorfes vorbehalten. Es roch nicht übel, und ihr Hunger war groß, da vergaß sich leicht der scheußliche Anblick des Schlachtens. »Ist dir je geschehen, dass du kein Wasser machen konntest?«, fragte sie beiläufig.
»Wie meinst du das?«
»Dass du unpässlich warst. Vielleicht krank oder ... innerlich aufgewühlt?«
Das Wasser lief ihm so ungehemmt über den Leib wie zuvor das Fett, als er trank. »Ich werde zwar alt, bin aber sterblich, und mein Körper ist menschlichem Leid unterworfen. Natürlich bin ich manchmal krank. Meine Knochen schmerzen. Warum interessiert dich das?«
Endlich hatte sie es geschafft, eines der heißen Stücke an den Mund zu fuhren. Vorsichtig biss sie hinein. Es schmeckte ein wenig wie gekochter Aal. »Ach, das alles klingt so spannend«, murmelte sie und beeilte sich, den Bissen zu schlucken. Anschar machte eine ärgerliche Handbewegung.
»Du hast vorhin einen Fluss erwähnt«, lenkte er von diesem unseligen Thema ab. »Einen, der wieder fließt. Was hast du damit gemeint?«
Genüsslich stieß Veynaydro auf, nur um sich weiter vollzustopfen. Es war nachgerade erstaunlich, wie viel in diesen Mann hineinpasste. »Ihr kamt von Nordosten her. Jenseits der Schlucht gibt es eine weitere, die fuhrt im rechten Winkel von dieser fort. Gleich da hinten«, er deutete mit der Gabel über seine Schulter. »Man muss die Wand hinaufsteigen, dann sind es nur ein paar Schritte. Sie trennt beide Schluchten. Dort beginnt der Fluss.«
»Wie kann denn hier ein Fluss entlangfließen?«, fragte Grazia. »Bist du dafür verantwortlich?«
»Ich? O Biyu, hilf mir.« Veynaydro spreizte die Beine. Grazia schüttelte sich, als sie mit ansah, was Anschar bereits erwähnt hatte: Biyu kniete vor ihrem Herrn, schob seinen Rock ein Stück zurück und hielt einen Krug darunter. Es plätscherte hohl. Erleichtert aufseufzend, legte Veynaydro den Kopf in den Nacken. Seine Rosinenaugen schlossen sich. Dann war es getan, und Biyu winkte den Jungen heran, der den Krug in Empfang nahm und beinahe ehrfürchtig von sich gestreckt davontrug.
Veynaydros Atem kam schwer. Sein Kinn trat wulstig hervor, als er den Kopf auf die Brust sinken ließ.
»Schon wieder einfach so eingeschlafen. Biyu«, wandte sich Anschar an die Frau. »Wie kommt das?«
Bevor sie antworten konnte, kam Veynaydro wieder zu sich. Er rieb sich die Augen. »Es dient als Dünger«, nahm er den Faden wieder auf. »Vielleicht solltet auch ihr Biyu zu Hilfe rufen, wenn ihr euch erleichtern wollt. Fremder Urin täte meinem Temechgras sicher gut. Ihr habt es schon bewundert, trug man mir zu.«
»In der Tat«, erwiderte Anschar, dem es den Appetit nicht verschlagen hatte und der soeben seine Schale leerte. »Mir ist klar, dass dein göttliches Wasser es so gut gedeihen lässt, aber wie kam es hierher?«
»Wüstenmenschen, die wir einfingen, hatten Samenkapseln bei sich. Sie nannten es Temech, nach einem ihrer Ahnen, der es angeblich vom Herrn des Windes geschenkt bekam. Uns war es fremd.«
»Wessen Ursprung ist denn nun der Fluss?«, fragte Grazia. »Warum füllst du eine Zisterne, wenn ...«
»Bei der Dreiheit! Ihr seid ja einer ungeduldiger als ... der ... andere.« Die letzten Worte waren schleppend gekommen. Sein Blick kehrte sich ins Innere. Ergab er sich Tagträumen? Wohin mochten die Gedanken eines Menschen wandern, wenn er am ewig gleichen Platz gefangen war? Doch so unvermittelt, wie er hinwegzudämmern pflegte, war sein Blick wieder klar. »Der Fluss hat mit mir nichts zu tun. Nur so viel, dass jener, der ihn fließen lässt, mein Vater ist. Sein Gefängnis befindet sich jenseits des toten Landes.« Auf dem Handteller malte er imaginäre Linien. »Hier ist meine Schlucht, dort das Gebiet, das ihr durchquert habt. Nordwestlich davon, wo die Wüste noch ein Ort ist, in dem man überleben kann, befindet sich die Oase des letzten Gottes.«
»Woher weißt du das?«, rief Grazia verblüfft.
Er maß sie belustigt. »Findest du nicht, dass annähernd zwei Jahrhunderte ausreichend Zeit sind, das herauszufinden? Die Oase befindet sich in einer kleinen Schlucht, viele Höhlen gibt es in dieser Gegend, und in einer solchen steckt er. Der Fluss, das sind seine Tränen der Verzweiflung. Die Zisterne habe ich angelegt, weil das Wasser nicht nutzbar ist; es ist ja salzig von seinen Tränen. Ist er gefangen, fließen sie. Ist er fort, bewegt sich der Tränenfluss nicht.«
»Und deshalb weißt du, dass er wieder gefangen ist?«
»So ist es. Es ist etwa anderthalb Jahre her, da stockte der Fluss. Im Laufe der nächsten Monate erfuhr ich durch meine umherziehenden Kinder, was geschehen war. Ein herschedischer Trupp hatte den Gott aus seinem Gefängnis befreit. Nein, nicht befreit, sie hatten ihn mit sich genommen. Eine Frau war bei ihnen, sie beherrschte die Luft. Darin schloss sie ihn ein. Ganz aus Wasser bestand er, so dass das unsichtbare Gefäß nicht größer als ein Hüftkrug war. So haben sie ihn mit sich geschleppt. Seitdem stand der Fluss still. Bis vor drei Monaten. Oder waren es vier? Im Traum erschien mir mein Vater, er schwappte als eine gewaltige Wasserwelle zurück in sein Oasengefängnis und verwandelte sich in den schönen jungen Mann, der er ja ist. Ganz selten erscheint er mir im Traum, und ich glaube, das tut er gar nicht bewusst; womöglich weiß er nicht mehr, dass es mich gibt. Wie auch immer, seitdem geriet der Fluss wieder in Bewegung.«
Er hatte wahrhaftig von Geeryu gehört, der Tochter des Windgottes. Grazia sah Anschar an; auch er hatte fasziniert die Brauen gehoben.
»Wenn diese Leute es geschafft haben, an den Gott heranzukommen, warum dann deine nicht?«, wollte Anschar wissen. »Oder hast du sie nie ausgeschickt, es zu versuchen?«
»Was?« Veynaydro schreckte hoch und rieb sich die Augen. »Warum hätte ich das tun sollen? Es ist der Wille des Götterpaares, dass er dort haust. Die Strafe für seinen Ungehorsam. Und wenn er dort ist, kann er die Welt nicht fruchtbar machen – der Fluch der Trockenheit muss reifen. Weißt du das alles nicht?«
Grazia fragte sich, ob das alles nicht einfach nur ein Mythos war und jener Fluss vielleicht ein Überbleibsel des alten Meeres. Aber auch das erschien ihr wie ein Mythos. Ihr schwirrte der Kopf, und die Luft war stickig vom Geruch nach Fett und Urin. »Ist der Fluss der Weg nach Temenon?«
»Das weiß ich nicht. Es könnte sein. Falls es überhaupt so einen Weg gibt. Nach einem gangbaren Weg sieht das jedenfalls nicht aus, ihr werdet’s schon sehen. Aber bitte, bitte hört endlich auf, mich mit Fragen zu überschütten. Ich wollte Geschichten von euch hören, aus der Wüste und aus Argad, stattdessen quält ihr mich immerzu.«
»Ich will mir das ansehen«, fiel nun Anschar ein, und Veynaydro seufzte.
»Normale Sterbliche gebärden sich immer, als müssten sie noch am selben Tag zur Toteninsel übersetzen. Schrecklich, diese Ungeduld.«
»Gibt es so etwas in deiner Welt auch?«, fragte Anschar. Seine Stimme klang gepresst, als laste ein Stein auf seinem Gemüt. Der Anblick dieser Felsenwüste war ja auch zu schrecklich, fand sie. Nein, keine Felsenwüste. Eher ein steinerner Wald. Hoch aufragende Gesteinsklötze, wie wild hingeworfen und dann noch zerklüftet, zersprungen, zerstoßen. Überall Risse, mehrere Meter dick, dann scharfe Grate, dicke Brocken, Felsnadeln. Eine scheußliche Masse in hellem Grau. Grazia kam sich vor, als sei sie ein Floh, der am Rand eines Streuselkuchens saß, über den zu allem Überfluss noch ein Wiegemesser hin und her gerollt war. Endlos schien sich diese wüste Eintönigkeit über die Welt zu erstrecken.
»Ich weiß nicht«, wisperte sie. Noch eigenartiger war der Fluss, der diese Felsenlandschaft zerschnitt. Äußerst vorsichtig neigte sie den Oberkörper, und sofort hielt Anschar sie am Arm fest, wenngleich sie nicht Gefahr lief, in die Tiefe zu stürzen. Dennoch schien sich ihr Magen umzudrehen. Sie saß auf einem länglichen Stein, zu ihren Füßen eine steil abfallende Wand, aus der der Fluss entsprang. Ein mehr als zehn Meter breiter, rötlich gefärbter Teppich rollte gemächlich durch diese zweite Schlucht und verlor sich hinter einer sachten Biegung. So langsam floss das Wasser dahin, dass es kaum einen Laut verursachte.
»Wie tief das Wasser wohl ist?«, fragte Parrad, der an ihrer anderen Seite hockte.
»Ist kaum zu erkennen«, brummte Anschar. Auf seinem Schoß lag die mit neuen Strichen versehene Karte. »Und auch unwichtig, oder?«
»Wenn wir jetzt abstürzen, kann es wichtig sein. Ich frage mich, wie wir mit all unseren Sachen und den Sturhörnern hier heraufkommen wollen.«
»Ich frage mich eher, was wir hier oben mit ihnen anfangen sollen. Oder glaubst du, die verfluchten Biester springen von Fels zu Fels?«
»Du meinst, wir müssen zu Fuß weiter? Aber danach kommt sicher wieder die übliche Sandwüste, wie sollen wir denn da ...«
»Wo hast du deine Augen, Parrad? Die Gegend danach ist noch nicht unser Feind. Diese hier ist es. Sie schreit es uns geradezu entgegen. Sperr halt wenigstens deine Ohren auf.«
»Was ich höre, ist meine Vernunft, die mir sagt, dass es uns nichts nützt, sie zu überwinden, wenn wir danach nicht weiterkommen.« Der Wüstenmann griff sich in den Bart und raufte ihn. »Eher sagt sie, dass wir hier gescheitert sind. Das ist einfach unmöglich!«
Grazia wartete auf eine harsche Erwiderung Anschars, doch die blieb aus. Stattdessen faltete er die Karte zusammen. Dann langte er nach einem losen Stein und drehte ihn auf dem Handteller. »Es ist, wie du sagst. Unmöglich. Wir können nicht die Tiere darüber hinwegtreiben, geschweige denn die Frauen. Es kann nur einer allein schaffen.«
Sie starrte ihn an. Die Sonne warf harte Schatten auf sein schweißnasses Gesicht. Die Kapuze seines Mantels hatte er abgestreift; strähnig hingen ihm die halb aufgelösten Zöpfe im Nacken. Seine offensichtliche Entschlossenheit erschreckte sie.
»Ich weiß schon, was du sagen willst«, nahm er ihr das Wort aus dem Mund. »Etwas anderes als nein kann es ja wohl nicht sein, oder?« Für einen winzigen Moment war sein Blick weich. Lächelte er gar? Erfreute ihn die Erkenntnis, um seines Auftrags willen in den wahrscheinlichen Tod zu gehen? »Diesmal ist es jedoch nicht zu ändern. Die Verantwortung obliegt mir, und den schwächlichen Parrad kann man ja wohl kaum schicken.«
Schnaufend fuhr Parrad fort, seinen Bart zu quälen. Grazia zog an Anschars Ärmel und deutete hinab. »Dass ihr beide aber auch nicht auf das Naheliegende kommt? Der Fluss ist der Weg.«
»Das soll naheliegend sein? Ich kann nicht schwimmen. Parrad, du etwa?«
»Ich? Beim Herrn des Windes, was für eine merkwürdige Frage.«
»Da hörst du’s. Nicht einmal du, Feuerköpfchen, kannst das, wenn ich mich recht entsinne, obwohl es in deiner Welt reichlich Wasser gibt.«
»Wer redet denn vom Schwimmen?« Sie warf die Hände hoch. »Wir brauchen ein ... ein ...«
Noch bevor sie es aussprechen konnte, warf Anschar den Kopf in den Nacken und lachte krächzend. »Das ist nicht dein Ernst, oder? Ich furchte, doch. Ein Schiff. Ich bin sicher, Veynaydro hat irgendwo eines gelagert.«
»Nein, kein Schiff. Ich meine etwas anderes, aber dafür habt ihr, glaube ich, kein Wort. Bei uns nennt man es Floß. Man bindet Baumstämme aneinander. Es ist flach, nicht ganz so belastbar und wendig. Aber es wird seinen Zweck erfüllen.«
Anschars Schweigen war erdrückend. Sie wusste ja, dass die Vorstellung eines Floßes für einen Argaden ungewohnt war. Die Einzigen, die sich aufs Wasser wagten, waren die Fischer am Großen See, und auch die entfernten sich mit ihren kleinen Booten nur gerade so weit vom Ufer, wie es nötig war. Niemals käme es ihnen in den Sinn, den See zu erkunden, und schon gar nicht bis hin zu den Inseln, von denen sie glaubten, sie seien das Elysium. Anschars zusammengezogene Brauen zeugten von seinem Misstrauen. Er warf den Stein hinab.
Das Platschen hallte von den Gesteinswänden wider. »Ich werde warten, bis ihr alle wieder in Richtung Argad unterwegs seid.« Kurz sah er über seine Schulter, hin zu den beiden Männern, die sie herbegleitet hatten und nun gelangweilt einige Schritte entfernt am Rand der anderen Schlucht standen und warteten. »Möglicherweise lässt sich Veynaydro ein oder zwei seiner Sturhörner abhandeln; die werdet ihr mit so viel Wasser beladen, wie sie tragen können. Wenn ihr weit genug weg seid, dass er nicht mehr auf den Gedanken kommt, euch einzufangen, breche ich auf.«
»Vergiss doch diesen Irrsinn!«, rief Grazia. »Du bist kein Bergsteiger.«
»Ein Schiffsfahrer aber auch nicht.«
»Du meinst, ein Seefahrer.«
»Wie auch immer.«
»So nimm doch Vernunft an!«
»Hast du nicht gesagt, für ein solches Gefährt brauche es Baumstämme?« Er wies mit dem Daumen hinter sich. »Gibt es hier welche? Oder denkst du etwa an diese Gräser?«
Grazia zögerte. Die alten Ägypter hatten Boote aus Bastbündeln gefertigt. Was sprach gegen das Temechgras? Sie versuchte, rasch die Möglichkeiten zu überschlagen, denn unsicher durfte sie jetzt nicht klingen. »Ja, das könnte man verwenden. Man müsste einige Stängel zu einem dicken Stamm zusammenbinden und dann mehrere solcher Bündel aneinander befestigen. Man könnte die Stängel auch der Länge nach aufschneiden und mehrere halbrunde Teile versetzt aneinanderfügen. An ihren Enden muss man breite, feste Bretter befestigen; damit drückt man das Gefährt gegen das Wasser vorwärts.«
Grübelnd warf er die Stirn in Falten. »Ich weiß, was du meinst, mit so etwas befahren die Fischer den Großen See. Ich komme nicht auf das Wort ... Aber glaubst du, Veynaydro ließe wegen einer so irrsinnigen Idee seine Gräser fällen? Er wird es nicht tun. Vielleicht verfügt er gar nicht über die nötige göttliche Kraft, etwas auf dem Wasser schweben zu lassen.«
»Auf dem Wasser ... schweben zu lassen? Wie meinst du das denn?«
»Die Schiffe des alten Helden Meya lagen auf dem Wasser. Sie glitten darüber hinweg, so.« Er hob eine ausgestreckte Hand und strich mit der anderen darüber. »Genauer kann ich das nicht erklären, weil ich darüber nichts weiß.«
»Aber das ist doch keine göttliche Kraft!«
»Nein?« Er stöhnte auf. »Vielleicht ist ja in deiner erstaunlichen Welt keine Hilfe der Götter nötig, hier aber schon. Du könntest Sildyu fragen, sie würde es dir bestätigen.« Sildyu, die Hohe Priesterin und Königsgemahlin, eine kluge Frau, aber was solche Dinge betraf so ahnungslos wie alle Argaden.
Grazia schüttelte verzweifelt den Kopf. Sie konnte kaum glauben, dass dies für einen ausgewachsenen Mann schwerer verständlich war als für ein Kind ihrer Welt.
»Herrin, ich pflichte diesem groben Kerl ja ungern bei«, mischte sich Parrad ein. »Aber bei meinem Volk sieht man das genauso.«
»Tatsächlich?«, spottete Anschar. »Wann haben Wüstenmänner je Gelegenheit, über die Schwimmfähigkeit von was auch immer nachzusinnen?«
»Auch wir kennen die Legende vom verschwundenen Meer. Davon hab ich dir schon in den Papierwerkstätten erzählt, falls du dich entsinnst.«
»Inar! Du hast da so viel geplappert, dass ich ...«
»Ruhe! Alle beide!« Grazia schlug erst dem einen kräftig auf den Schenkel, dann dem anderen. »Das ist ja wirklich, als säße man in einem Kinderhort. Männer! Dummköpfe seid ihr. Ist euch noch nie ein Stück Brot in den Trinkbecher gefallen? Und, was geschah da? Ging es unter?«
»Brot«, seufzte Parrad, und Anschar sah sie beinahe mitleidig an. Grazia wusste nicht, ob sie schnaufen oder lachen oder einfach aufgeben sollte angesichts dieser Sturheit.
»Ein ... wie nanntest du es?«, fragte er. »Floß? Du vergleichst ein Floß aus Stämmen oder Gräsern mit einem Brotkrümel?«
»Die Größe hat damit gar nichts zu tun, denn das Prinzip ist immer das gleiche. Wenn das, was auf dem Wasser ist, leichter ist als das Wasser selbst, kann es nicht untergehen.«
»Warum nicht?«
»Das hat in meiner Welt ein Mann herausgefunden, der Archimedes hieß. Der sollte feststellen, ob die Krone eines Königs wirklich aus Gold gefertigt war ... Nein«, sie wedelte vor dem Gesicht herum. Diesen beiden Männern konnte sie nicht mit komplizierten Erklärungen kommen. »Ein Schiff schwimmt, weil die Menge an Wasser, die es verdrängt, schwerer ist als es selbst. Die Kraft ist nicht göttlich, sie entsteht aus dem Wasser, das von unten gegen das Schiff drückt. Und das ist in allen Welten so, gleich wie viele es geben mag.«
»Göttliche Kraft klingt irgendwie verständlicher«, meinte Anschar.
»Oh, bitte, dann betrachten wir es eben von dieser Seite! Eure Götter wollen den Frieden. Warum also hätten sie erst mit ihren Kräften dafür sorgen sollen, dass die Schiffe Temenon erreichen und bekriegen können? Und warum haben sie das Meer verschwinden lassen, statt einfach diese Kraft zurückzuhalten? Könnt ihr das beantworten? Nun?«
Parrad hob die Schultern, und als sie zu Anschar sah, tat er es ihm gleich.
»Du bist also einverstanden?«, fragte sie, voller Ungeduld den Stoff ihres Gewandes knetend.
Er nickte, schüttelte sofort den Kopf und warf ihn in den Nacken. Dann schüttelte er ihn wieder. »Inar steh mir bei«, flüsterte er. Noch einmal blickte er über die feindselige Felsenlandschaft hinweg. »In Anbetracht der dürftigen Möglichkeiten versuche ich eben darauf zu vertrauen, dass du klüger bist als wir. Auch wenn mir völlig unklar ist, wie wir Veynaydro überreden können, uns so viel Hilfe zu gewähren. Denn wir brauchen ja nicht nur das Material, sondern auch Männer, die uns helfen.«
Sie hatte ihn überzeugt, da schien ihr sein Einwand im Augenblick die kleinere Hürde zu sein. Befreit neigte sie sich zu ihm und ergriff seine raue Hand. Was würde er erst sagen, wenn sie bekannte, wie sehr sie der Anblick dieses rötlichbraunen Flusses freute? Nicht weil er – vielleicht – den Weg nach Temenon verhieß. Für sie war es, als säße sie an einem Gestade ihrer Welt. Ihr fiel kein vergleichbarer Ort ein, doch dass dort unten ein Band aus Wasser sich seinen Weg bahnte, war nach all den endlosen Wochen und Monaten des Sandes und der elenden Felsen eine Wohltat für das Auge. Der Fluss war anders, er verhieß anderes, mochte er auch in die Irre fuhren.
»Wir sollten dem Fluss einen Namen geben.«
Parrad schüttelte den Kopf. »Herrin, ich verstehe dich immer weniger. Ein Name? Für Wasser?«
»Bei uns haben die Flüsse Namen. Sogar kleine Bäche.«
»Nicht einmal der See der Toten hat einen Namen«, bekannte Anschar. »Vielleicht aber muss man es in einer Welt, in der man andauernd über irgendwelche Gewässer stolpert, ja so halten, sonst könnte man sie nicht unterscheiden. Nun ja, vielleicht wäre ein Name ein erfolgversprechendes Zeichen. Wie soll der Fluss heißen?«
Damit war sie dann doch überfragt, obwohl ihr tausend Flussnamen durch den Kopf gingen. Sei mir gegrüßt, mein Vater Rhein, wie ist es dir ergangen? Ich habe oft an dich gedacht, mit Sehnsucht und Verlangen. Seufzend legte sie die Wange in die Hand. Da saß sie hier, in luftiger Höhe, inmitten unwirtlichen Landes, unter sich ein fremdes Gewässer, das sie taufen sollte. »Wenn ich das nur meinem Vater erzählen könnte. Er hätte bestimmt eine Idee. Vielleicht würde er ihn Mäander nennen. Man sieht ja nicht weit, und wer weiß, was hinter der nächsten Biegung ist. Styx wäre auch eine Möglichkeit, denn immerhin könnten wir unser Leben darauf verlieren. Oder Havel? Dann schließe ich die Augen und denke ...«
»Ja?«
Dass ich daheim wäre, vollendete sie den Gedanken. »Das da unten ist der Nil, denn er fließt mitten durch die Wüste. Ja, das passt.«
»Schön, das wäre also geklärt. Lasst uns wieder ins Dorf zurückkehren und sehen, was wir bei Veynaydro erreichen können.« Er stemmte sich hoch und half ihr, den steinigen Weg zur Schlucht zurückzulegen. Auch hier gab es Serpentinen und in die Wand gehauene Stufen, die jedoch so schmal waren, dass jeder Schritt Überwindung kostete. Einige Dorfbewohner sahen herauf. Stand man unten, war nichts zu ahnen von dem Fluss, der unter dem Dorf dahinrauschte und wenige Meter jenseits der Felsenmauer ins Freie gelangte.
Sie kehrten in Veynaydros Haus zurück. Der Herr des Dorfes war mittlerweile zu einer geleeartigen Speise übergegangen, die durchaus nicht wie ein süßer Nachtisch aussah und kein Begehr weckte. Er ließ sie sich jedoch mit Genuss von Biyu in den Mund löffeln.
»Nun?«, fragte er, während die klaren Bröckchen an seinem Kinn hinunterliefen. »Hat euch der Anblick angemessen beeindruckt?«
»Wir glauben, dass der Fluss der Weg nach Temenon ist«, begann Anschar ohne Umschweife. »Und wollen ihn befahren.«
Veynaydros Augen weiteten sich; er hustete und neigte sich vor. Erschrocken sprang Biyu auf und klopfte ihm auf den Rücken. »Den Fluss befahren?«, japste er. »Hat euch die Sonne den Verstand ausgedörrt?«
Grazia hatte sich mittlerweile hingesetzt. Sie hoffte, dass Anschar höflich blieb. Er blieb stehen und hatte die Arme vor der Brust verschränkt, als wolle er augenblicklich aufbrechen.
»Kamen denn nie Reisende über diesen Fluss?«, wollte er wissen. »Aus Temenon? Die nach Argad wollten?«
»Nie.« Veynaydro fasste sich und wandte sich Biyu zu, damit sie ihm den Schweiß vom Gesicht wischte. »Sagte ich das nicht? Wie hätten sie das auch tun können, da der Fluss nur in eine Richtung fließt? Falls jemals Menschen von Temenon nach Argad gelangten, kamen sie hier nicht vorbei, und ich habe davon auch nie etwas mitbekommen. Die Welt ist groß, es mag zwanzig Wege geben.«
»Na schön. Da wir nur von diesem einen wissen, werden wir den nehmen. Allerdings brauchen wir dazu deine Hilfe. Wir wollen ein Gefährt bauen, das auf dem Fluss schwimmt.«
»Närrisch seid ihr, ich sagte es ja.«
»Das Gebilde muss groß genug werden, um drei Leute und ein Sturhorn tragen zu können.«
Veynaydro war zusehends das Kinn herabgesackt. »Ein Sturhorn? Auf dem Wasser? Ich sollte euch fortjagen, denn ihr macht mir allmählich Angst!«
»Wir können ja schlecht zu Fuß weiterlaufen, wenn wir den Fluss wieder verlassen. Und wir brauchen reichlich Wasservorräte. Leider wissen wir nicht, wie lange es dauern wird, bis wir wieder anderswo Wasser finden. Und dass der Fluss irgendwann trinkbares Wasser fuhrt, dürfte wohl nicht der Fall sein?« Bei diesen Worten sah Anschar Grazia an, die mit dem Kopf schüttelte.
»Bei der Dreiheit!«, rief Veynaydro. »Wenn ihr wirklich all diesen Unsinn, den ihr da plant, für durchführbar haltet, dann gebe ich euch meinetwegen so viel Wasser mit, wie ihr schleppen könnt.«
»Gut. Grazia wird ausrechnen, wie groß das Floß sein muss, damit es Wasser für – sagen wir, zwanzig Tage trägt. Bleibt noch das Problem des Materials. Sie sagt, es braucht dazu das Temechgras.«
»Temech ... Ihr Götter, allmählich ist es genug.« Aufschnaufend schlug der Nihaye gegen seine Brust. »Niemals.«
»Ohne deine Gräser geht es wirklich nicht«, warf Grazia ein, um ein weniger forsches Auftreten bemüht, als Anschar es an den Tag legte. Sie rang sich ein Lächeln ab. »Es gibt hier sonst kein tragfähiges Material.« Es sei denn, man band Garben aus Felsengras aneinander, aber das klang noch abenteuerlicher, als die Sache ohnehin schon war. Sie wusste ja nicht einmal, ob sie wirklich die nötige Größe berechnen konnte.
»Dann werdet ihr diese Fahrt wohl nicht antreten können. Was euch gewiss das Leben rettet.«
»Wir brauchen ja gar nicht alle Gräser«, versuchte sie es erneut. »Ein Viertel vielleicht.«
»Ach, nur? Nein.«
»Ein Fünftel?«
»Nein! Ich lasse euch an den Füßen aufhängen und dörren, wenn ihr nicht sofort davon aufhört.«
Er atmete schwer, die Empörung strengte ihn an. Biyu drückte seinen Kopf an ihre Brust und einen Kuss auf seinen blanken Schädel. Unversehens eilte Anschar aus dem Raum, nicht ohne Grazia zu verstehen zu geben, dass sie still sitzen solle. Nach einigen Minuten war er wieder zurück. Auf dem Arm hatte er einen leinenen Packen. Grazia schüttelte den Kopf, das konnte er unmöglich tun. Doch ihr Verdacht bestätigte sich, als er einen der Jungen heranwinkte, auf dessen dargebotenen Rücken er den Packen legte. Dann setzte er sich unter Veynaydros misstrauischem Blick wieder hin.
»Bist du dir sicher?«, flüsterte Grazia.
Er nickte, sah dabei aber Veynaydro an. »Dies ist uns mitgegeben worden, um den Herrscher von Temenon zu beschenken. Aber wenn wir ihn nicht erreichen, hat er sowieso nichts davon, also biete ich es dir an, im Gegenzug für deine großzügige Hilfe.« Mit diesen Worten schlug er das Leinen zurück. Die Vielfalt der Edelsteine, die zahllosen Stiche aus Goldfäden glitzerten im Licht einfallender Sonnenstrahlen. Veynaydro reckte den Hals. Der Junge kroch näher an ihn heran. Grazia fragte sich, was ihn daran hindern sollte, den Wandteppich einfach zu behalten. Er brauchte seinen Männern nur zu befehlen, sie auszurauben. Aber so viel sie wusste, hatte er es bisher nur auf das Mehl abgesehen.
»Ein Viertel der Gräser«, forderte Anschar.
Veynaydro schluckte. Äußerst vorsichtig berührte er die aus bunten Fäden gestickte Blütenwiese, Teil eines Bildes, das die Vereinigung von Inar und Hinarsya zeigte. Die beiden Götter aus Goldfäden und Türkisperlen standen einander zugewandt. Die rote Heria, das Symbol ihrer Vereinigung und Fruchtbarkeit, spross in Büscheln von Rotgoldplättchen zu ihren Füßen. Liebe auf den ersten Blick, dachte Grazia. Veynaydros Augen glitzerten nicht anders als die einer Frau in einem Kaufhaus.
Er hob die Hände, schien zu überlegen, ob er bitten sollte, die Tapisserie vollständig auszubreiten. Um Hilfe heischend, sah er zu Biyu, aber auch sie war von der Schönheit des Bildnisses gefangen. Sein wulstiges Kinn hüpfte, als er schluckte, einmal, zweimal, ein drittes Mal. Dann stieß er kehlig hervor: »Tut das weg! Ich will es nicht.«
»Du könntest wenigstens darüber nachdenken«, schnaufte Anschar ungeduldig. Ein schmeichelnder Kaufmann war an ihm nicht verlorengegangen.
»Nein!«, schrillte Veynaydro. »Weg damit, weg, weg!«
Er schlug die Hände vors Gesicht und starrte zwischen den Fingern hindurch auf die Pracht.