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5. Ein Moment Geborgenheit

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** Nele **

Benommen kam ich zu mir und blinzelte. Das helle Sonnenlicht, das durch das Fenster fiel, blendete mich, woraufhin ich die Augen wieder fest zusammen kniff. Ich presste mein Gesicht in das Kissen und versuchte mich zu erinnern, woher die schrecklichen Kopfschmerzen kamen. Schlagartig fiel mir die Geburtstagsparty meines Bruders ein, die süßen Erdbeercocktails und … Liam!

»Verdammt«, jammerte ich in das Kissen und öffnete die Augen wieder leicht, während ich meinen Kopf in Richtung Fenster drehte. Ich blickte hinaus in den blauen Himmel, an dem nicht eine Wolke hing. Warum hatte ich mich nur so albern benommen? Er musste mich für eine komplette Idiotin gehalten haben. Das einzige Positive, das ich dem Ganzen abgewinnen konnte, war die Tatsache, dass ich ihn ohnehin nie wiedersehen würde.

Als ich hörte, wie jemand den Schlüssel in das Türschloss steckte, fuhr ich panisch nach oben und warf einen Blick auf den Funkwecker auf dem Nachtschrank.

13:43 Uhr!

»Scheiße!«, fluchte ich, sprang vom Bett und suchte in Lichtgeschwindigkeit meine Sachen zusammen. Wenn Devon mitbekam, dass ich noch immer im Bett lag, würde er schnell bemerken, dass ich den Abend nicht zu Hause verbracht hatte, wie versprochen. Ich eilte ins Bad, schloss die Tür ab und zog mich hektisch um.

»Nele?«, rief er in die Wohnung und mein Herz schlug schneller, als ich mir das leichte Sommerkleid über den Kopf zog.

»Ich bin im Bad … auf Toilette!«, rief ich und bestrich schnell meine Zahnbürste mit Zahncreme.

»In Ordnung«, antwortete er. »Beeil dich.«

Schnell putzte ich meine Zähne, kämmte die langen, dunklen Haare und band sie unordentlich zu einem Zopf zusammen. Zur Tarnung betätigte ich die Klospülung, wartete einige Zeit und verließ dann das Bad. Devon hatte gerade seine Tasche im Schlafzimmer abgestellt und knöpfte sein Hemd auf.

»Hallo«, flüsterte ich und verschränkte schützend die Arme vor der Brust. Ich wusste nicht, wie ich mit Devon umgehen sollte. Vor seiner Abreise hatten wir uns so heftig gestritten wie noch nie. Und wieder einmal war die Situation völlig aus dem Ruder gelaufen. Ich seufzte leise und verdrängte die Erinnerung daran.

»Ich habe dich gestern angerufen. Warum bist du nicht rangegangen?« Devons Stimme war messerscharf.

»Ich hatte Kopfschmerzen und bin zeitig schlafen gegangen. Entschuldige«, log ich.

Devon sah auf, ließ von seinen Hemdknöpfen ab und ging einen Schritt auf mich zu. Als sein Blick auf den Bluterguss an meinem Arm fiel, den das Kleid nicht verdeckte, strich er vorsichtig darüber und ich verzog schmerzverzerrt das Gesicht.

»Es tut mir leid. Das wollte ich nicht«, flüsterte er. Ich nickte unsicher und schluckte schwer.

»Natürlich nicht«, erwiderte ich kaum hörbar. »Du willst es nie, tust es aber trotzdem immer wieder.« Schüchtern blickte ich ihm in die Augen. Die Angst, dass diese kleine Gegenwehr schon ausreichte, damit der Schalter in seinem Kopf wieder umschlug, war groß.

»Du bist noch böse auf mich. Ich verstehe das, aber …« Devon zog mich in seine Arme und küsste meinen Haaransatz. »… aber es wird nicht mehr vorkommen. Verzeih mir, Liebling.«

Devons Nähe schwächte mich. In seiner Gegenwart verpuffte alles, jedes bisschen Mut und jeder kleine Funken Kampfgeist verschwanden einfach. Ich fühlte mich ohnmächtig, hilflos und unendlich schwach.

»Schon in Ordnung«, sagte ich, um jede weitere Diskussion zu vermeiden, die ein Widerspruch mit sich gebracht hätte.

»Ich habe mir zur Entschädigung auch überlegt, wie wir den Abend verbringen. Lass uns einfach Pizza bestellen und einen Film schauen.«

Ich nickte und wollte mich zum Gehen abwenden, als Devons Hand nach vorn schnellte und mein Handgelenk umschloss. Der Druck, den er ausübte, ließ mich aufstöhnen.

»Willst du mich nicht fragen, wie es in Berlin war?«, knurrte er leise und lockerte den Griff um mein Handgelenk.

»Wie war es in Berlin?« Ich rieb die schmerzende Stelle und ging an Devon vorbei, um das Bett zu machen.

»Ich habe mir drei Wohnungen angesehen, von denen ich mir sicher bin, dass du sie lieben wirst. Sie sind groß und haben einen einzigartigen Blick über die Stadt. Wahrscheinlich bekommen wir für alle drei Wohnungen den Zuschlag.«

»Das klingt … toll«, antwortete ich gequält. »Wann erfährst du das?«

»Wahrscheinlich noch heute.«

Ich nickte und mein Magen rebellierte heftig. Ich hatte ihm so oft gesagt, dass ich überhaupt nicht umziehen wollte. Mein Leben und meine Familie waren hier in London, doch manchmal kam es mir vor, als würde Devon mich überhaupt nicht hören. Er entschied alles über meinen Kopf hinweg.

Und tatsächlich, kurz nachdem der Lieferdienst das Essen gebracht hatte, klingelte Devons Handy. Er ging ins Nebenzimmer, sprach kurz und kehrte dann freudestrahlend zurück. Ich hatte mich in der Zwischenzeit auf die Couch gesetzt, die Beine dicht an meinen Körper gezogen und wartete nun auf die Hiobsbotschaft.

»Wir haben eine Wohnung in Berlin.« Und da war sie.

Devon setzte sich neben mich und erwartete offenbar eine ebenso freudige Reaktion von mir. Doch ich verzog nicht einmal die Mundwinkel zu einem glücklichen Lächeln. Ich war wie versteinert, blickte starr auf den Couchtisch und schluckte schwer. Es war vorbei. In etwa zwei Monaten würde mein Leben in London der Geschichte angehören. Damit erreichte mein Freund alles, was er immer wollte. Er isolierte mich von meiner Familie und den wenigen Menschen, die mir im Leben noch wichtig waren. Ich sprach nicht einmal die Sprache besonders gut. In Deutschland gehörte ich ihm endlich ganz. Dort würde ich eine Gefangene sein. Devons Gefangene.

»Nele?«, sagte er mit Nachdruck und ich sah ihm erschrocken in die Augen. »Du freust dich überhaupt nicht.«

Nein, das tat ich nicht. Ich blieb stumm, weil ich wusste, dass es alles nur noch viel schlimmer machen würde. Doch mir war auch klar, dass, wenn ich den Mund jetzt nicht aufmachte, mein Schicksal besiegelt war.

»Du hast mich nicht einmal gefragt, was ich will.« Meine Stimme war so leise und so ängstlich, dass Devon mich nur mit Mühe verstand.

»Weil du immer das willst, was ich auch will.« Seine Augen funkelten mich an und ich wich seinem Blick aus. »Ich wusste nicht, dass du plötzlich andere Ansichten hast.«

»Ich möchte nicht nach Deutschland ziehen. Das weißt du ganz genau.« Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, wartete ich auf die Eskalation. Es brauchte nicht viel, um Devon aus der Fassung zu bringen.

»Und? Warum nicht?«, fragte mein Freund in einem spottenden Ton. »Was genau hält dich hier? Freunde hast du ja nicht.«

»Meine Familie.«

»Du meinst deine ignorante Mutter und ihren Freund? Oder deinen großspurigen Bruder, der dir alles in den Hintern steckt?«

»Leon ist nicht großspurig. Er macht sich Gedanken um mich.« Ich spielte unsicher mit dem Stoff meines Kleides.

»Und ich mache mir keine Gedanken um dich? Ich habe dich aus diesem Loch rausgeholt, das du ein Zuhause genannt hast. Ich habe dir alles Erdenkliche gegeben, das du benötigt hast. Du bist ziemlich undankbar, findest du nicht?«

Heiße Tränen sammelten sich in meinen Augen und meine Hände zitterten gefährlich.

»Du warst ein Niemand, bevor du mich kennengelernt hast. Das sollte dir eigentlich klar sein. Ich kann dir in Deutschland ein Leben ermöglichen, von dem du nur träumen kannst.«

Ich wurde auf meinem Platz immer kleiner. Ich wusste, dass ich jetzt besser den Mund halten und Devon sprechen lassen sollte, wenn ich glimpflich davonkommen wollte. Würde ich Widerworte geben, würde er sich nur mehr hineinsteigern und irgendwann gänzlich explodieren. Devon war eine tickende Zeitbombe, doch das hatte ich erst bemerkt, als es schon zu spät war.

»Es tut mir leid«, flüsterte ich eingeschüchtert und die Tränen suchten sich den Weg über meine Wangen.

»Nein, das tut es nicht.« Devon stand auf und packte mich grob am Arm. Er erwischte den Bluterguss und ich stöhnte auf. »Halt die Klappe«, fuhr er mich an. »Und jetzt räum den Müll hier weg, bevor ich mich vergesse.«

Schnell stapelte ich die leeren Lieferdienstkartons übereinander und eilte mit ihnen in die Küche. Ich warf sie in den Müllsack und stützte mich dann schweratmend auf der Küchenarbeitsplatte ab. Schluchzend ließ ich den Kopf hängen und fragte mich, was ich im Leben verbrochen hatte, dass es mich bereits in so jungen Jahren dafür strafte. Mein gesamter Körper zitterte, obwohl Devon bei Weitem ruhiger geblieben war, als ich erwartet hatte. Und dennoch war mein Schicksal besiegelt.

Weinend krallte ich mich in meinen rechten Unterarm, den ein kleines Tattoo zierte. Es zeigte eine rote E-Gitarre, die von Ranken und Rosen umgeben war. Das perfekte Abbild von Liams Instrument mit den bandtypischen Verzierungen. Ein kleines Überbleibsel meiner Jugend, das ich mir mit sechzehn Jahren heimlich stechen ließ.

»Nele«, sagte Devon plötzlich und trat an mich heran. Er legte eine Hand auf meine Schulter und zog mich mit leichtem Druck zu sich. Ich zuckte ängstlich zusammen und ließ mich von meinem Freund in den Arm nehmen. »Ich weiß, dass du diesen Umzug auch willst.«

»Nein, das will ich nicht!«, schrie ich ihn in Gedanken an.

»Du musst dich nur an die Situation gewöhnen, das weiß ich. Ich wollte nicht so überreagieren.«

»Ich möchte mich hinlegen. Ich fühle mich schwach«, flüsterte ich und Devon löste sich von mir.

»In Ordnung, leg dich hin. Ich gehe ins Arbeitszimmer und erledige noch ein bisschen Papierkram.« Devon küsste mich, doch ich erwiderte den Kuss nur schwach. Dann ging er.

Mit zitternden Fingern füllte ich mir ein Glas mit Wasser und trank es in einem Zug leer. Dann ging ich ins Badezimmer, duschte wieder eiskalt und versuchte mich so zu beruhigen. Es gelang mir allerdings nicht. Nachdem ich in meine Schlafsachen geschlüpft war, betrat ich das Schlafzimmer und ließ die Jalousie herunter. Im Nachtschrank suchte ich nach meinem Headset und steckte es schließlich in das Handy. Ich legte mich hin, steckte die Kopfhörer in meine Ohren und löschte das Licht. Wie ferngesteuert rief ich den LiveLoud-Ordner auf und schloss die Augen, während Liam hart in die Saiten seiner Gitarre schlug.

Als seine sanfte Stimme erklang, tauchte sein Gesicht vor meinem inneren Auge auf. Ich erinnerte mich an den gestrigen Abend und an den Blick, mit dem er mich angesehen hatte. Mit Tränen in den Augen fragte ich mich, ob ich ihn jemals wiedersehen würde, wusste aber bereits in diesem Moment, dass ich meine Chance auf Rettung verspielt hatte.

***

Montagnachmittag machte ich mich für meine Schicht in der Bibliothek fertig. Ich würde heute die Spätschicht übernehmen und erst nach Mitternacht nach Hause zurückkehren. Die Arbeit in der Bibliothek war die einzige Freiheit, die Devon mir gestattete. Er war sich ziemlich sicher, dass langweilige Bücherwürmer keine Gefahr für ihn darstellen würden und er mir in diesem Punkt getrost vertrauen konnte. Die kleine Bibliothek lag nur fünf Gehminuten von unserer gemeinsamen Wohnung entfernt. Ich schlüpfte schnell in eine einfache Jeans, ein schwarzes Top und in eine gleichfarbige, dünne Strickjacke. Nachdem ich meine Schuhe angezogen hatte, machte ich mich auf den Weg.

Als mir der Geruch der Bücher entgegenschlug, fühlte ich mich endlich frei und entspannte mich merklich. Die Arbeit tat mir gut, sie gab mir die Aufgabe, die ich, inmitten des ganzen Stresses, dringend nötig hatte.

»Nele, gut, dass du schon da bist«, rief Ginger, die Leiterin, fröhlich aus. »Heute Morgen war schon die Hölle los. Es herrscht das absolute Chaos.«

»Lass mich raten, du hast ohne Ende Bücher für mich, die ich wieder an ihren Platz bringen darf.«

Ginger deutete auf zwei Wagen, die bis obenhin mit Büchern in unterschiedlichen Größen und Dicken voll gestapelt waren.

»Und ich weiß nicht, was noch an den Arbeitsplätzen liegt. Tut mir leid. Ich bin einfach nicht dazu gekommen.« Ginger sah mich entschuldigend an.

»Schon okay, deswegen hast du mich ja.«

Ich machte mich sofort an die Arbeit und begann die Bücher auf den Wagen nach ihren Nummern zu sortieren. Als ich diese undankbare Aufgabe beendet hatte, schob ich den ersten Wagen in den hintersten Gang und nahm den ersten kleinen Stapel. Zielsicher stellte ich alles an seinen vorgesehenen Platz und holte mir rasch den nächsten Stapel. Ich eilte von Regal zu Regal und verteilte die Bücher.

Als ich mir die letzten beiden Fachbücher auf dem Wagen holte, musste ich mich auf Zehenspitzen stellen, um die vorletzte Regalebene zu erreichen. Ich schob das vorletzte Buch in die Reihe und stellte resigniert fest, dass das Letzte noch weiter oben stand. Ich streckte mich, doch es wollte mir einfach nicht gelingen.

»Nun komm schon«, jammerte ich und versuchte mich noch länger zu machen, als mir plötzlich jemand das Buch aus der Hand nahm und es mit Leichtigkeit auf das obere Regal stellte. Ich spürte, wie derjenige dabei meinen Rücken berührte und drehte mich langsam um. Nur knapp vor mir stand Liam, der mich unsicher anlächelte. Seine Haare sahen aus, als wäre er gerade aufgestanden und seine Augen wirkten müde. Er trug eine enge schwarze, an den Knien zerschnittene Jeans, ein Shirt seiner eigenen Band und einen Nietengürtel, sowie seine schwarzen, abgewetzten Chucks. Liam wirkte fast wie ein Aussätziger in der Bibliothek. Er passte überhaupt nicht ins Bild.

»Danke«, flüsterte ich und wollte mich an ihm vorbeischieben, um zum Wagen zurückzukehren. Liam ging einen Schritt beiseite. »Was machst du hier?«

»Ich war gerade in der Nähe und … Leon hat erwähnt, dass du hier arbeitest. Ich dachte, ich schau einfach mal vorbei.« Unsicher fuhr er sich durch die Haare. »Ich wollte mich noch einmal bei dir entschuldigen. Ich wollte dich Freitag nicht so grob anfassen.«

»Hmm«, brummte ich und wollte gehen. Ich hatte schon genug Entschuldigungen in meinem Leben gehört. Keine davon war ehrlich gemeint. »Ich muss weiterarbeiten.« Ich wollte mich um den zweiten Bücherwagen kümmern.

»Nele, jetzt lass mich nicht schon wieder stehen«, sagte Liam und seufzte. Verzweifelt steckte er die Hände in die Hosentaschen und senkte seinen Blick. Ich drehte mich noch einmal zu ihm um. »Mein eingebildetes Rockstar-Herz kommt nicht so gut mit Körben klar.«

Ich lachte leise auf und sagte dann: »Ich wusste nicht, dass du mir Avancen gemacht hast. Ich bin vergeben, tut mir leid.« Ich zuckte mit den Achseln.

»Ich weiß, Leon hat so etwas erwähnt. Ach ja, und er hat noch etwas anderes verraten.« Ein spitzbübisches Lächeln zuckte über Liams Lippen und ließ mein Herz schneller schlagen. Ich ahnte schon, was mein Bruder hinausposaunt hatte. »Dass du einer unserer größten Fans gewesen sein sollst, kann ich immer noch nicht glauben. Das hat dein Bruder sich doch ausgedacht?«

»Natürlich hat er das. Was denkst du denn? Dass ein Mädchen wie ich auf eine Band wie deine steht. Lächerlich«, scherzte ich und verdrehte die Augen.

Liam ging wieder etwas auf mich zu und lehnte sich lässig gegen eines der Regale. Mit einer leichten Kopfbewegung warf er eine Haarsträhne zurück und suchte daraufhin meine Augen. Ich hielt die Luft an. Dass er mir so nahe war, machte mir Angst.

»Und in wen von uns warst du verliebt?«, wollte er frech wissen. Ich blähte die Backen auf. Jetzt wurde er auch noch unverschämt.

»Na immerhin hat er nicht alles ausgeplaudert«, erwiderte ich und wandte mich lächelnd ab. »Staatsgeheimnis.« Ich schnappte mir den leeren Bücherwagen und schob ihn an seinen Platz zurück. Mit schnellen Schritten folgte Liam mir. Routiniert nahm ich den zweiten Wagen und schob ihn in eine völlig andere Richtung.

»Wenn du möchtest, dass ich gehe, sag bitte einfach Bescheid. Es ist nur … ich …« Ich blickte ihn skeptisch an, als er sich unsicher durch die Haare fuhr. »Ich sollte gehen. Ich hätte überhaupt nicht herkommen dürfen. Entschuldige«, sagte er auf einmal und drehte sich um. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als Liam sich immer weiter von mir entfernte. Sollte ich diese Chance wieder einfach so verstreichen lassen? Aus irgendeinem Grund wollte ich nicht, dass er einfach so verschwand, auch wenn ich in seiner Nähe so unglaublich unsicher war. Er musste den Eindruck haben, dass ich überhaupt nichts mit ihm zu tun haben wollte. Dabei war genau das Gegenteil der Fall. Seit Jahren dachte ich immer wieder an LiveLoud, auch wenn ich ihre Musik nur noch selten hörte. Ständig spukte Liam durch meinen Kopf und ständig hatte ich Phasen, in denen sich mein Geist den vielen wirren Gedanken hingab, die ich vor fünf Jahren hatte. Ich wollte ihn schon immer kennenlernen und hatte mir damals vorgestellt, wie es sein musste, wenn wir so etwas wie Freunde wäre oder gar mehr. Und jetzt bekam ich diese einmalige Chance und benahm mich völlig bescheuert. Ich atmete noch einmal tief durch und tat dann etwas, das ich vermutlich bereuen würde. Zumindest, wenn Devon davon erfuhr. Aber ich durfte mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, nur weil ich Angst vor der Reaktion meines Freundes hatte. Zum ersten Mal seit Monaten dachte ich nur an mich und an das, was mir guttun würde.

»Liam?«, rief ich ihn zurück und er blieb abrupt stehen. »Könntest du mir vielleicht mit den Büchern helfen. Falls … na ja, falls ich nicht an das Regal komme.«

»Natürlich«, antworte er und atmete erleichtert aus.

»Nele!«, rief Ginger plötzlich und kam auf mich zu. Sie nickte Liam freundlich zu. »Hör mal, ich muss nach Hause. Meine Tochter hat gerade angerufen. Sie hat irgendetwas Verrücktes in der Schule angestellt und wurde nach Hause geschickt. Hier ist der Schlüssel für die beiden Außentüren. Bevor du gehst, musst du bitte im Sicherungsraum, die Hauptsicherung ausschalten.«

»In Ordnung«, sagte ich und nahm den Schlüssel entgegen.

»Du bist meine Rettung. Ich nehme morgen früh meinen Ersatzschlüssel. Bring diesen einfach zu deiner Schicht mit.« Ich nickte, woraufhin Ginger sich eilig davonmachte.

»Wie lange musst du arbeiten?«, wollte Liam wissen, nachdem ich den Bücherwagen wieder in Bewegung gesetzt hatte und das nächste Regal ansteuerte.

»Die Bibliothek schließt Mitternacht. Studenten kommen oft noch so spät und suchen nach irgendwelchen Büchern, die sie in der großen Unibibliothek wohl nicht finden. Deswegen haben wir die Öffnungszeiten angepasst.«

»Das heißt, du bist bis Mitternacht allein hier? Macht dein Freund sich keine Sorgen?« Liam legte die Stirn in Falten.

»Nein. Er ist der Ansicht, dass mir zwischen Strebern und Bücherwürmern schon nichts passieren kann.«

»Mir wäre bei dem Gedanken unwohl. Schließlich kann hier jeder munter reinmarschieren und mit dir anstellen, was er will.«

Ich seufzte. In Wirklichkeit war die Bibliothek der einzig sichere Ort für mich. Das wahre Monster lauerte nicht hinter den Regalen und Bücherreihen, sondern in meinem Zuhause. Ich fürchtete mich vor nichts so sehr, als vor Devon, wenn er wütend wurde. Mit allem anderen wurde ich fertig, nur damit nicht.

»Stört es dich, wenn ich bei dir bleibe, bis du Feierabend hast? Nenn mich übervorsichtig, aber …«

»… nein, tut es nicht, aber du musst dir wirklich keine Gedanken machen. Mein größter Feind ist die Langeweile und dagegen gibt es schließlich genug Bücher.« Ich lächelte Liam fröhlich an, der mir dennoch voller Sorge nicht von der Seite wich.

Die Zeit verging wie im Flug. Auch wenn Liam und ich kaum ein Wort wechselten, tat mir die Gesellschaft gut. Zusammen sortierten wir Bücher ein, räumten die Arbeitsplätze auf oder suchten mit einem Studenten nach einem ganz bestimmten Buch. Ich zauberte eine Flasche Vanilla-Coke und ein paar Kekse aus der kleinen Küche hervor und behob damit das kleine Stimmungstief, das sich nach einiger Zeit einstellte.

Kurz vor Mitternacht brachen Liam und ich zur Kontrollrunde auf, um mögliche Besucher nach Hause zu schicken. Als wir niemanden fanden, schloss ich die Haupteingangstür ab und ging danach zum Hinterausgang.

»Jetzt müssen wir nur noch die Hauptsicherung ausschalten«, sagte ich und gähnte leise. »Normalerweise müsste ich nur zwei Schalter betätigen, aber irgendetwas stimmt mit der Elektrik nicht. Ginger ist immer besonders vorsichtig.«

Liam nickte, gähnte ebenfalls leise und streckte die Arme in die Luft, wobei sein Shirt leicht nach oben rutschte und ich einen Blick auf seine Bauchmuskeln erhaschte. Mit geröteten Wangen sah ich zur Seite.

»Wie machst du das nur? Ich bin fertiger als nach einem Konzert. Diese ständige Stille und diese stickige Luft sind kaum auszuhalten«, sagte Liam.

»Ich denke, man gewöhnt sich daran.« Ich öffnete die Tür des Sicherungsraums und Liam folgte mir. Durch den mechanischen Schließmechanismus fiel die Tür ins Schloss. »Danke, dass du mit mir hiergeblieben bist«, flüsterte ich und sah zu Liam, der sich lässig an die Wand gelehnt hatte. Er lächelte mich an und schüttelte den Kopf.

»Ich würde es jederzeit wieder tun. Schließlich ist es …« Er suchte nach den richtigen Worten. »… ziemlich unsicher hier. Dir könnte alles Mögliche passieren. Ganz allein.«

»Natürlich.« Lächelnd sah ich zum Sicherungskasten. »Es wird gleich dunkel, hast du dein Handy hier? Meins liegt noch am Computer.«

»Moment.« Liam angelte sein Handy aus der Hosentasche und schaltete die Taschenlampen-App ein. Ich betätigte die Sicherung und es wurde sofort stockdunkel in dem winzigen, fensterlosen Raum.

»So, das haben wir.« Beherzt griff ich nach der Türklinke und wollte sie nach unten drücken, als diese plötzlich nachgab und sich von der Tür löste. »Nein, das ist jetzt nicht wahr.« Mit großen Augen sah ich von der Klinke in meiner Hand zu Liam, der die Lippen fest aufeinander kniff.

»Gib mal her.« Er nahm mir die Klinke ab und versuchte, sie wieder an die Tür zu stecken, doch nichts funktionierte. Die Sicherheitstür blieb verschlossen. »Es funktioniert nicht.« Liam warf die Klinke zu Boden und setzte sich dann selbst auf den dünnen Teppich. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, streckte seine Beine aus und legte das leuchtende Handy auf sie, damit es etwas Licht spendete. Dann klopfte er auf den Fußboden neben sich und deutete mir an, mich ebenfalls zu setzen.

»Los, komm schon her. Wir kommen hier allein nicht raus.«

Seufzend ging ich zu ihm und nahm mit genügend Abstand neben Liam Platz. Ich traute mich nicht, ihm zu nahe zu kommen, weil ich schlicht und ergreifend Angst hatte. Angst vor Nähe, ja sogar Angst davor, dass wir uns doch besser verstehen könnten, als geplant.

»Du kennst nicht zufällig die Nummer deiner Chefin?«, erkundigte sich Liam.

»Nein.« Ich ließ den Kopf hängen und rieb mir das Gesicht. »So etwas Dummes kann auch nur mir passieren.«

»Kennst du irgendeine andere Nummer, die wir anrufen könnten?«

»Nein, ich kann mir keine Nummern merken. Und wenn wir die Feuerwehr rufen, wird das auch nur teuer. Verdammt.«

»Dann müssen wir die Sache wohl einfach aussitzen. Immerhin bist du nicht allein.« Liam zwinkerte mir zu, doch ich fühlte mich einfach nur hilflos.

»Ginger kommt morgen früh erst um neun Uhr«, murmelte ich.

Nicht nur, dass ich es hasste, in engen Räumen eingesperrt zu sein, nein, ich war nun auch noch in der Nähe des einzigen Menschen, der eine Nervosität bei mir auslöste, der ich nicht gewachsen war.

»Devon wird ausflippen.« Ich ließ den Kopf zurück an die Wand fallen und starrte auf die Tür. Ich konnte nur erahnen, was er mit mir machen würde, wenn ich morgen früh nach Hause kam. Wenn ich nicht kurz nach Mitternacht in der Wohnung wäre, würde er zur Bibliothek kommen. Doch da es für einen Außenstehenden aussah, als wären alle gegangen, würde er vom Schlimmsten ausgehen. Nämlich davon, dass ich ihn betrog. Und das würde furchtbare Konsequenzen mit sich bringen. Doch selbst wenn er mir die Wahrheit glaubte, wäre ich nicht besser dran. Schon die Tatsache, dass ich mit einem anderen Mann eingesperrt war, würde das Fass zum Überlaufen bringen, schließlich hatte ich keine logische Erklärung für Liams Anwesenheit.

Liam blickte zu mir, als ich unsicher am Saum meines Shirts herumzupfte und mir daraufhin die dünnen Arme rieb.

»Frierst du?«, fragte er besorgt und ich schüttelte den Kopf. Er wusste sofort, dass ich log, und rutschte unbemerkt näher zu mir. »Ist sonst alles in Ordnung?«

»Ich bin kein Fan enger Räume«, flüsterte ich. Als Liam sich wieder näher in meine Richtung bewegte, kitzelte sein Parfüm meine Nase und ich schluckte schwer. Je näher er mir kam, desto schneller schlug mein Herz und desto mehr zitterte mein gesamter Körper. Mit sechzehn Jahren hätte ich von dieser Situation geträumt. Doch die Realität hatte mit meiner Vorstellung wenig gemein. Ich meisterte die Situation weder cool, noch geschickt. Nein, ich war einfach nur ein unsicheres, kleines Mädchen,.

»Komm jetzt her, du zitterst wie Espenlaub«, durchbrach Liam die kurze Stille und legte einen Arm um mich. Vorsichtig zog er mich an seine Brust und legte schützend den zweiten Arm um mich. Mit gleichmäßigen Bewegungen rieb er meine Arme, um mich zu wärmen, doch das Zittern wurde mit jeder Berührung nur verstärkt. Als er aus Versehen den Bluterguss berührte, stöhnte ich wieder leise auf. Ich biss mir auf die Lippe und löste mich leicht von ihm.

»Was hast du an deinem Arm?«

»Ich habe mich gestoßen. Halb so schlimm«, log ich.

»Das hattest du Freitag auch schon, oder?«

»Hmm, da ist es passiert.« Das war nicht einmal gelogen.

»Komm wieder her, ich passe jetzt auf«, flüsterte Liam und zog mich zurück. Ich schloss die Augen, als mein Kopf den Platz an seiner Brust erneut fand, und atmete seinen betörenden Duft tief ein. Vorsichtiger als zuvor streichelte er über meine Arme und strich mir eine Haarsträhne über die Schulter. »Ist es so besser?«

»Danke, Liam.«

»Nicht dafür.«

»Du hast etwas gut bei mir«, murmelte ich erschöpft und gähnte leise. Ich war plötzlich schrecklich müde, doch eine Frage brannte mir noch auf dem Herzen. »Warum bist du wirklich hergekommen, Liam?«

Er seufzte leise.

»Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, weil du Freitag so schnell verschwunden warst. Ich dachte, ich sei irgendwie schuld.«

»Ich hatte Angst«, gestand ich. »Ich habe auch jetzt noch Angst.«

»Wovor, Nele?«

»Vor meinem sechzehnjährigen Ich ...« Ich gähnte wieder leise und wollte in die Zwischenwelt abdriften, die mir die Müdigkeit eröffnete. »… und vor dem Blick, mit dem du mich angesehen hast.«

»Lass uns versuchen zu schlafen«, sagte Liam und legte sich der Länge nach hin. Er zog mich in seinen Arm und ich kuschelte mich dankbar an ihn. Liam löschte das Handy-Licht und atmete tief durch. Gedankenverloren strich er mir immer wieder über den Arm und den Rücken und gab sich selbst nach einiger Zeit dem weichen Gefühl der Müdigkeit hin.

***

Benommen kam ich zu mir und richtete mich langsam auf. Jeder einzelne Knochen in meinem Körper schmerzte, als ich mich bewegte. Auch Liam drehte sich und richtete sich ebenfalls leise gähnend auf.

»Um Gottes willen, mein Rücken«, jammerte er und fischte nach seinem Handy, das irgendwo neben ihm liegen musste. Als er es fand, kniff er die Augen zusammen, weil ihn das Licht blendete. »Es ist kurz vor neun.« Er öffnete die Taschenlampen-App wieder und legte das Handy zwischen uns. »Wie hast du geschlafen?«

»Besser, als erwartet. Aber mir tut alles weh.«

»Willkommen im Club. Ich glaube, du musst wirklich etwas bei mir gut machen.«

»Das werde ich, versprochen.« Ich streckte den Zeige- und Mittelfinger für einen Schwur in die Luft, wobei meine Strickjacke über mein Handgelenk rutschte und den Blick auf mein Tattoo preisgab. Als ich es bemerkte und schnell wieder verstecken wollte, hatte Liam meine Hand bereits gegriffen und blickte auf die Abbildung seiner Gitarre vor dem Band-Logo. Fasziniert und gleichzeitig verwundert sah Liam auf und fing meinen unsicheren Blick ein.

»Du hast dir meine Gitarre stechen lassen?«, fragte er leise und hielt mein Handgelenk mit größter Vorsicht, als wäre es sehr zerbrechlich. »Du …«

Jemand drehte den Schlüssel im Schloss und grelles Licht blendete uns. Ich zog schnell die Hand weg und verdeckte das Tattoo wieder unter meiner Strickjacke.

»Nele?«, sagte Ginger erschrocken und blickte auf mich und meine Gesellschaft hinab. »Was macht ihr hier?«

Als ich aufstand, hob ich die Türklinke auf und hielt sie Ginger entgegen.

»Das Schicksal war gestern nicht unbedingt auf meiner Seite.« Nachdem ich Ginger die Klinke in die Hand gegeben hatte, strich ich meine Sachen glatt und fuhr mir durch die Haare. Auch Liam war aufgestanden, hatte sein Handy in die Hosentasche gesteckt und stellte sich anschließend hinter mich.

»Das kann auch nur dir passieren.« Ginger hielt sich eine Hand vor dem Mund, um nicht laut loszulachen. Sie liebte es, sich über mich lustig zu machen.

»Ich finde es kein bisschen lustig«, seufzte ich und verdrehte die Augen.

»Wenigstens hattest du Gesellschaft. Dann ist dir immerhin nicht langweilig geworden«, konterte Ginger und zwinkerte mir zu. »Los, geht schon nach Hause und schlaft euch richtig aus. Wir sehen uns dann morgen, Nele.«

»Aber …«, wollte ich widersprechen.

»Ich komm heute allein klar. Mach schon, dass du wegkommst.«

»Danke.«

Etwas zerknirscht verließen wir die Bibliothek, nachdem ich mein Handy geholt hatte. Liam hatte den Kopf gesenkt und blieb unsicher vor mir stehen. Als Ginger den Raum aufgeschlossen hatte, hatte sie den besonderen Moment zwischen mir und Liam zerstört. Es hatte sich angefühlt, als hätten wir durch das Tattoo eine stumme Verbindung. Eine Verbindung, die zerbrach, als wir nicht mehr allein waren. Inzwischen hatte ich meine Schutzmauer wieder aufgebaut und konnte ihn kaum ansehen.

»Ich muss jetzt nach Hause«, sagte ich und suchte unsicher seinen Blick.

»Ja.«

»Danke noch mal, dass du mir geholfen hast.« Liam winkte nur ab. »Na gut«, sagte ich und wandte mich zum Gehen. »Mach´s gut, Liam.«

Liams Hand schnellte vor und hielt mich wieder einmal auf.

»Das war´s jetzt? Einfach so? Du gehst? Gib mir wenigstens deine Handynummer.«

Ich sah ihn fragend an und schüttelte seine Hand von meinem Handgelenk.

»Das ist keine gute Idee«, flüsterte ich.

»Warum nicht? Ich will dich wiedersehen, Nele.«

»Genau das ist der Fehler.« Heiße Tränen brannten in meinen Augen. »Es ist besser, wenn wir getrennte Wege gehen. Ich werde London ohnehin bald verlassen. Wir ersparen uns viele Probleme.« In Wirklichkeit ersparte nur ich mir diese Probleme.

Als das gesagt war, drehte ich mich um und eilte mit schnellen Schritten davon. Ich wusste, dass ich mein Leben mit dieser Aussage komplett in Devons Hände gelegt hatte und die eigene Kontrolle gänzlich abgab. Auch wenn mir die Zeit mit Liam guttat, weil er mir einen Moment Geborgenheit schenkte, so wusste ich, dass ich ihn niemals wiedersehen durfte. Liam würde alles nur noch schlimmer machen, als es sowieso schon war … Und ich konnte nicht riskieren, dass das geschah.

Alles steht in Flammen

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