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4. Rückzug

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** Nele **

Die Band spielte eine Stunde, versprach aber nach einiger Zeit ein zweites Mal auf die Bühne zurückzukehren und noch weitere Songs zu spielen. Ich saß mittlerweile bei meinem dritten Cocktail in meiner einsamen Ecke und überblickte die Party meines Bruders. Alle feierten ausgelassen, tranken viel und lachten laut, doch mir wurde das alles zu viel. Immer wieder fragte ich mich, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war herzukommen. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, zu Hause zu bleiben, sich eine Tasse Tee zu kochen und in der Geschichte eines guten Buches zu versinken.

Seufzend wandte ich mich von der Bühne ab, schwang die Beine unter den Tisch und stützte meine Arme auf der Tischplatte ab. Ich nippte an meinem Cocktail, dessen Alkohol bereits ein herrlich benommenes Gefühl in meinem Körper auslöste, und rieb mir dann mit den Händen die müden Augen. Ich war so schrecklich erschöpft. Die letzten Wochen hatten mich ausgelaugt und mir beinahe jede kleine Kraftreserve genommen. Doch ich musste kämpfen, den Schein aufrechterhalten, zumindest so lange, bis ich wieder zu Hause war. Erst dann würde ich die Maske fallen lassen können. Ich senkte die Arme wieder und hob den Kopf kaum merklich, als in diesem Moment eine dunkle, attraktive Stimme fragte: »Darf ich mich zu dir setzen?«

Erschrocken sah ich zur Seite und blickte in tiefdunkle Augen, die mich fasziniert ansahen. Ohne auf eine Antwort zu warten, setzte sich Liam und stützte lässig einen Arm auf dem Tisch ab.

»Unsere Musik ist nicht unbedingt deine Richtung, oder?«, fragte er. Offenbar konnte er sich mein plötzliches Verschwinden nicht anders erklären. Wenn er nur wüsste, wie falsch er mit seiner Annahme lag.

»Wie kommst du darauf?«

»Du bist schon nach dem ersten Lied gegangen. Dein Blick war … nicht gerade begeistert. Und du siehst nicht unbedingt aus, als würdest du Heavy Metal hören.«

»Interessant«, flüsterte ich und griff nach meinem Cocktail, den ich schnell fest umklammerte, damit Liam nicht bemerkte, wie stark meine Hände zitterten. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als er sich lässig durch die fast schwarzen Haare fuhr und dabei ein herb männlicher Duft mit weicher Note meine Nase kitzelte. Unsicher suchte ich seinen Blick, der unverändert auf mir ruhte. »Fragst du eigentlich jeden nach einem Auftritt, ob er eure Songs mag?«

Liam lachte leise auf und schüttelte den Kopf.

»Nein, nur manchmal mache ich Ausnahmen.«

Ich erwiderte daraufhin nichts und trank einen weiteren Schluck meines Getränks.

»Woher kennst du Leon?«, wollte Liam das Gespräch am Laufen halten. Er spürte ganz offensichtlich, wie unsicher ich war und das ich eigentlich lieber meine Ruhe haben wollte.

»Leon ist mein Bruder«, sagte ich und lächelte.

»Nele?«, fragte Liam erschrocken und sah mich plötzlich ganz anders an. Als würden sich die Erinnerungen in seinem Kopf langsam zusammensetzen und mich mit dem kleinen Mädchen von damals vergleichen. »Ich habe dich überhaupt nicht erkannt. Weißt du noch, als du mich gezwungen hast, mit deinem Barbie-Traumschloss zu spielen? Ich glaube, das werde ich nie vergessen.« Liam lachte laut.

»Wenn ich ehrlich bin, kann ich mich nicht erinnern.« Ich zuckte mit den Schultern. »Früher hast du wahrscheinlich auch anders ausgesehen«, fügte ich mit einem unsicheren Ton in der Stimme hinzu und deutete auf sein für die Szene klassisches Outfit. Er trug eine schwarze Hose mit Metallketten, ein schwarzes Muscle-Shirt einer anderen Band und Chucks. Seine Handgelenke zierten Lederarmbänder und um seinen Hals hing eine unauffällige, silberne Kreuzkette.

»Du hast damals auch noch anders ausgesehen«, scherzte Liam und erinnerte sich. »Du hast deinen Zopf immer auf der linken Seite getragen und deinen Barbies hast du die gleiche, verrückte Frisur verpasst.« Ohne über seine Geste nachzudenken strich Liam mir eine Haarsträhne über die Schulter. Als seine Fingerspitzen zufällig meine Haut berührten, schreckte ich zurück und sah ihm erschrocken in die Augen. Ich hielt die Luft an und fühlte mich mit einem Mal noch benommener.

»Entschuldige«, flüsterte er und wandte seinen Blick schnell ab.

»Schon in Ordnung«, erwiderte ich und trank meinen Cocktail aus. Auch wenn mein gesamter Körper kribbelte, wusste ich, dass ich so schnell wie möglich von dieser Party verschwinden musste. Ich konnte nicht in Liams Nähe bleiben. Er sah mich mit diesem Blick an, den ich nicht deuten konnte, und er löste etwas in mir aus, das mich benommen und nervös machte. »Ich … ich werde meinen Bruder suchen …«

Ich atmete ein letztes Mal tief durch und stand dann auf, während ich das leere Glas nahm und mich beinahe daran festklammerte.

»Es war schön, dich mal wieder gesehen zu haben … auch wenn ich mich nicht mehr erinnere.« Ich lächelte zurückhaltend und wollte mich dann abwenden, doch Liam sprang schnell auf und griff nach meinem Oberarm. Ein stechender Schmerz durchfuhr mich, als seine Finger mich berührten, und ich stöhnte leise auf.

»Nele, warte mal …« Er packte mich mit mehr Druck, als er wollte. Panisch fuhr ich herum und ließ vor Schreck das Glas fallen. Ängstlich sah ich Liam an und Tränen sammelten sich heiß brennend in meinen Augen. Schnell zog er seine Hand zurück. »Entschuldige …«

Ich schüttelte nur den Kopf und eilte dann davon.

Als ich die Wohnungstür aufschloss, trat ich in die Dunkelheit und ging ins Wohnzimmer. Ich streifte mir die Ballerinas von den Füßen und ließ mich rückwärts auf die große Couch fallen. Es dauerte nicht lang, dann weinte ich bittere Tränen und schlug die Hände vors Gesicht. Es war ein Fehler gewesen, zur Party zu gehen. Ich hätte Leon schon viel eher mit einer Notlüge vertrösten sollen, so wie ich es normalerweise immer tat. Ich war so töricht und naiv. Was hatte ich geglaubt? Dass ich einfach so weiterleben könnte, wie ich es vor Devon getan hatte und dass es wieder ganz genauso sein würde, nur weil er mal nicht da war? Es war dumm und lächerlich von mir, das anzunehmen.

Schluchzend stand ich auf und schwankte ins Bad, wo ich mir die Hose von der Hüfte streifte und das Top auszog. Ich biss mir vor Schmerz auf die Lippe, als ich vorsichtig über den dunkelblauen Bluterguss an meinem Oberarm strich, den Liam aus Versehen erwischt hatte, als er mich zurückhalten wollte. Zitternd ließ ich die Hand sinken und befreite mich auch von den restlichen Sachen. Meine Knie zitterten, als ich die Duschkabine betrat und eiskaltes Wasser aufdrehte. Ich zuckte nicht einmal zusammen, als mich die Eiseskälte wie tausend kleine Nadeln traf. Schwach ließ ich den Kopf unter die Brause sinken und stützte mich mit einem Arm an den Fliesen ab. Die Kälte ließ mich spüren, dass ich noch lebendig war, dass er mich noch nicht zerstört hatte.

So verharrte ich mehrere Minuten, bis ich mich beruhigte und wieder aufrichtete. Schnell wusch ich meine Haare und meinen Körper und wickelte mich anschließend in ein großes Badehandtuch ein. Ich trocknete mich ab, schlüpfte schnell in eine Panty und ein viel zu großes, altes Bandshirt. Als ich noch einen Blick in den Spiegel warf, wurde mir die Ironie meines Handelns bewusst. Die großen, feuerroten Buchstaben des Bandnamens brannten sich in mein Gehirn.

LiveLoud

Seufzend wandte ich mich vom Spiegel ab und schüttelte leicht den Kopf. Ich hatte die Späße des Schicksals noch nie verstanden und das würde ich wahrscheinlich auch in Zukunft nicht. Seufzend löschte ich das Licht im Bad und ging ins Schlafzimmer, wo ich mich eilig in die Kissen und die Decke kuschelte und mich einem unruhigen Schlaf hingab.

** Liam **

Hilflos blieb ich zurück und blickte Nele nach. Ich spürte, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Das fröhliche Mädchen, das ich vor so vielen Jahren beim Spielen kennengelernt hatte, schien schon lange nicht mehr zu existieren. Sie wirkte eingeschüchtert und ängstlich, als befürchtete sie, etwas Schlimmes könne geschehen, wenn man sie mit mir sah. Und warum hatte sie ihr Glas fallen lassen, als ich sie am Arm packte? War ich zu grob gewesen?

Ich trank einen kräftigen Schluck Bier und ließ mich wieder auf die Bank sinken. Immer wieder suchte ich das Gelände nach Nele ab, doch sie schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Leise seufzend senkte ich den Blick nach einiger Zeit auf meine Flasche und überlegte, ob es nicht besser sei, die ganze Angelegenheit einfach zu vergessen. Ich konnte das kurze Gespräch mit Nele unter einem gescheiterten Flirtversuch verbuchen oder als unglückliche Fügung des Schicksals. Doch aus irgendeinem Grund zerbrach ich mir seit beinahe einer Stunde den Kopf über die kleine Schwester meines Kumpels.

»Hier bist du«, sagte Leon plötzlich und ich sah zu ihm auf.

»Ja, ich … ich brauchte noch ein wenig Ruhe. Ich habe Kopfschmerzen.«

»Was? Du auch?«, rief Leon sichtlich angeheitert aus und schüttelte den Kopf. »Nele ist vorhin auch abgehauen, weil sie Kopfschmerzen hatte. Eigentlich wollte ich sie dir noch vorstellen.«

»Warum?«, fragte ich und schöpfte Hoffnung.

»Ach, sie war ein großer Fan von euch vor ein paar Jahren. Hat euch rauf und runter gehört und ist komplett schwarz rumgelaufen. Ihre Augen hat sie manchmal so dunkel geschminkt, dass ich sie für einen Waschbären gehalten habe.«

»Tatsächlich?« Leon nickte und trank einen Schluck Bier.

»Seit sie mit diesem Immobilien-Typen zusammen ist, hat sie sich verändert. Sie ist so ruhig geworden, beinahe langweilig. Als hätte sie ihren Biss verloren. Weißt du, was ich meine?«

Mein Magen zog sich bei Leons Worten heftig zusammen. Biss hatte Nele schon damals besessen, als sie mich zwang, mit ihr zu spielen.

»Was … was macht Nele jetzt so? Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, hat sie noch mit Barbies gespielt.« Ich bemühte mich, witzig zu klingen, doch es gelang mir nur mühsam.

»Sie arbeitet ehrenamtlich in einer Bibliothek in der Nähe des Primrose Hill. Ich denke, sie ist glücklich. Devon sorgt gut für sie, auch wenn er ein Langweiler ist. Und nebenbei mit seinen dreiunddreißig Jahren viel zu alt für sie.« Mir klappte die Kinnlade herunter. Nele war jetzt wie alt? Damals trennten uns etwa sieben Jahre, also musste sie nun einundzwanzig Jahre alt sein. Was zur Hölle wollte sie bei einem Mann, der zwölf Jahre älter war als sie. »Eigentlich dachte ich immer, sie bringt irgendwann einen Typen wie dich mit nach Hause. Das hätte eher zu ihr gepasst, als dieser korrekte Anzugträger«, fügte Leon hinzu, stand auf und klopfte mir auf die Schulter. »Ich schau mal weiter.«

Ich nickte und trank einen Schluck Bier. In meinem Magen rebellierte es heftig. Was war mit Nele geschehen, dass sie zu so einer verschreckten jungen Frau geworden war? Ich musste sie wiedersehen, so viel stand fest. Und jetzt hatte ich auch endlich einen Anhaltspunkt, wo ich sie finden konnte.

Alles steht in Flammen

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