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3. Ein Blick ins Herz
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** Nele **
Nachdenklich saß ich auf der Fensterbank und blickte auf die Menschen herab, die durch die Straßen eilten. Aufgrund der bunten Sommerkleider der Frauen leuchtete die Stadt und durch das offene Fenster drang das fröhliche Lachen der Kinder. Es war ein schöner Freitagabend im August. Die Sonne schien freundlich vom Himmel und wärmte London mit ihren hellen Strahlen. Kaum eine Wolke zog über den Horizont, nur die Dämmerung hielt langsam Einzug und es war gänzlich windstill. Der perfekte Tag, um das Haus zu verlassen und in einem kleinen Eckcafé noch eine Eisschokolade mit seinen Freunden zu trinken.
Seufzend wandte ich meinen Blick vom Fenster ab und sah ins Wohnzimmer, das hell und nüchtern vor mir lag. Ich hasste den sterilen und unbewohnten Einrichtungsstil, den mein Freund Devon bevorzugte, doch ich würde niemals etwas dagegen sagen. Ich konnte mit meinen einundzwanzig Jahren dankbar sein, überhaupt in einer so großzügigen Wohnung wie dieser leben zu können.
Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass Devon gerade in Berlin gelandet sein musste. Wahrscheinlich würde in spätestens einer Stunde mein Handy klingeln, damit er mir sagen konnte, dass er gut in Deutschland angekommen war. Devon arbeitete in einer Immobilienfirma und hatte vor einiger Zeit das Angebot für eine leitende Position in der deutschen Hauptstadt bekommen. Seine Entscheidung war schnell gefallen, doch er fragte mich nicht ein einziges Mal, was ich eigentlich davon hielt. Ich bekam Bauchschmerzen, wenn ich nur daran dachte, dass Devon sich bereits verschiedene Wohnungen ansah und den Umzug innerhalb der nächsten zwei Monate hinter sich bringen wollte.
Ich fühlte mich ohnmächtig bei der Vorstellung, mein Leben in London aufzugeben. Noch beklemmender wurde das Gefühl bei dem Gedanken daran, dass ich absolut kein Mitspracherecht hatte, was die ganze Angelegenheit betraf. Natürlich hatte ich mich bereits damit abgefunden, nie ein Mitspracherecht zu haben, aber der Umzug in eine fremde Stadt war etwas anderes als beispielsweise ein Restaurantbesuch.
Als mein Handy leise summte, stand ich von der Sitzbank auf und ging zum Couchtisch. Ich nahm es in die Hand und sah darauf. Die Nachricht, die ich bekommen hatte, war von meinem Bruder.
Leon
Meine kleine Schwester wird mich an meinem Geburtstag tatsächlich versetzen. :( Wo bleibst du?
Ich atmete tief durch und ließ das Handy für einen Moment sinken, um zu überlegen. Leon lag mir seit Wochen damit in den Ohren, zu seiner Geburtstagparty zu kommen. Seine Partys waren seit seinem achtzehnten Geburtstag immer groß und unvergesslich gewesen. Auch jetzt, zehn Jahre später, hatte sich daran nichts geändert. Dieses Jahr hatte er wieder eine Live-Band engagiert, die seinen Freunden ordentlich einheizen sollte, und auch von einem kleinen Feuerwerk hatte er gesprochen. Natürlich wollte ich gern dabei sein, doch mir war klar, dass Devon es nicht gut finden würde, wenn ich mich allein auf den Weg machte.
Seufzend sah ich aus dem Fenster und verzog die Lippen angespannt, wie ich es immer tat, wenn ich krampfhaft nachdachte.
»Ach, was habe ich schon zu verlieren«, sagte ich mir leise und tippte eine Antwort an meinen Bruder.
Ich bin in etwa einer Stunde da.
Ich eilte ins Schlafzimmer zum Kleiderschrank und suchte nach meiner weißen Lieblingshose und der mintgrünen Tunika mit den weiten Fledermausärmeln. Blitzschnell zog ich mich um und ging ins Bad, wo ich mir vor dem Spiegel eine goldene Statement-Kette umlegte und ungeduldig den Haargummi aus meinen langen, dunkelbraunen Haaren zog. Über Kopf fuhr ich mit den Fingern durch sie hindurch, richtete mich auf und legte die leichten Locken in Form. Haarspray gab meiner Schnellfrisur den nötigen Halt. Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel. Mein Make-up war dezent und betonte meine blauen Augen gerade deswegen ausgezeichnet. Ich hatte einen blassen Teint und mein Gesicht war in den letzten Wochen schmaler und kantiger geworden. Auch die Hose saß lockerer auf meinen Hüften, als noch vor ein paar Wochen. Mit einem skeptischen Ausdruck in den Augen nickte ich mir zu und ging in den Flur, wo ich meine mintgrünen Ballerinas anzog und mich anschließend auf den Weg zur Party machte.
Leon lebte mit seiner Freundin Franziska in einem kleinen Haus am Stadtrand von London. In der Nähe gab es einen überschaubaren Festival-Platz, den Leon wie jedes Jahr für seinen Geburtstag gemietet hatte. Als ich nach etwa einer halben Stunde Fahrt aus dem Bus stieg, dämmerte es bereits. Schnell schlug ich den Weg Richtung Party ein und hörte schon von Weitem, die Musik aus den Boxen dröhnen. Der Fußweg zum Platz, auf dem es nur so vor Menschen wimmelte, war kurz. Wie jedes Jahr fragte ich mich auch in diesem Moment, woher mein Bruder all diese Leute kannte. Ich selbst war leider nicht sehr kontaktfreudig. Eigentlich hatte ich seit der Schulzeit keine Freunde mehr. Ich war eine stille Einzelgängerin, versteckte mich damals hinter der vorherrschenden Anonymität in Diskotheken und seit ich Devon in meiner Lieblingsdisco kennengelernt hatte hinter Büchern.
Devon war anfangs ein Hoffnungsschimmer für mich gewesen. Aber seit ich ihn kannte, stand es um meine Sozialkontakte noch schlechter als zuvor. Ein Punkt, der mich mit jedem Tag, der verstrich, immer mehr belastete. Ich war allein, verloren in einer Beziehung, die mich mürbe machte.
Ich atmete tief durch und schüttelte leicht den Kopf. Ich wollte jetzt nicht an Devon denken. Etwas orientierungslos sah ich mich nach meinem Bruder um und entdeckte ihn an der überdachten Bar, wo er mit einigen Kumpels sprach. Erleichtert, ihn so schnell gefunden zu haben, steuerte ich direkt auf ihn zu. Kaum bemerkte er mich, entschuldigte er sich bei seinen Freunden und kam mir entgegen. Leon umarmte mich stürmisch, hob mich mit Leichtigkeit in die Luft und drehte sich mit mir einmal um die eigene Achse.
»Ich wünsche dir von Herzen alles Gute«, sagte ich lachend und küsste ihn auf die Wange.
»Danke, Kleine«, erwiderte er und ließ mich herunter. »Schön, dass du doch gekommen bist. Wo ist Devon?« Die bloße Erwähnung seines Namens machte mir ein schlechtes Gewissen.
»Geschäftlich in Berlin«, log ich, weil ich nichts von der Wohnungssuche erzählen wollte. Mein Bruder würde komplett durchdrehen, wenn er davon erfahren würde. »Ich habe leider kein Geschenk für dich, aber die nächste Pizza, die wir zusammen essen, geht auf mich.« Lächelnd zuckte ich mit den Schultern.
»Damit kann ich leben.« Leon lachte und legte einen Arm um meine Schultern. »Möchtest du etwas trinken? Franziska sagt, die Cocktails sind dieses Jahr viel besser als letztes Jahr. Ich habe zwei neue Barkeeper engagiert.«
»Ja, gern.« Leon bestellte mir einen süßen Cocktail mit Erdbeeren, weil er wusste, wie gern ich diese mochte, und reichte ihn mir kurz darauf.
»Welche Band spielt dieses Jahr?«, wollte ich wissen und nippte bei einem Blick zur Bühne an meinem Glas.
»Erinnerst du dich an meinen Kumpel Liam?«
Ich schüttelte den Kopf. Als ich noch kleiner gewesen war, hatte mein Bruder ständig Freunde mit nach Hause gebracht, doch es fiel mir schwer, alle auseinanderzuhalten. Als Leon alt genug war, trafen sich die Jungs oft in der Stadt und so verschwanden die wenigen Namen und Gesichter, die ich mir gemerkt hatte, aus meinem Gedächtnis.
»Er hat eine Band, die zumindest in ihrer Szene seit Jahren sehr bekannt ist. Hier kennt sie wahrscheinlich niemand, aber hast du nicht auch mal Heavy Metal gehört?«
»Das ist ewig her. Es gab nur ein - zwei Bands, die ich richtig gut fand.«
»Gehörten LiveLoud nicht dazu?«, zwinkerte Leon mir zu.
Meine Augen weiteten sich erschrocken und ich öffnete die Lippen leicht. Tatsächlich war LiveLoud eine meiner Lieblingsbands gewesen. Ehrlicher Heavy Metal, bei dem der Sänger nicht nur wahllos ins Mikrofon brüllte, sondern mit seinen Songs eine Botschaft vermitteln wollte.
»Seit wann kennst du den Frontmann von LiveLoud?«, stammelte ich und schluckte schwer, als ich bemerkte, dass sich auf der Bühne etwas tat.
»Wir sind in eine Klasse gegangen, Schwesterlein. Du hast ihn mit drei Jahren sogar mal dazu genötigt, mit deinen Barbies zu spielen, als er bei uns zu Besuch war. Wir haben uns dann irgendwann aus den Augen verloren, als seine Familie umgezogen ist. Seit ein paar Jahren lebt er mit der Band wieder in London, seine Eltern soweit ich weiß auch. Wir haben uns, so blöd es klingt, zufällig beim Einkaufen getroffen.«
»Verdammt«, flüsterte ich und mein Herz schlug plötzlich unaufhörlich schnell. Liam Drake war meine wahr gewordene Fantasie eines Traummannes, seit ich mit sechzehn Jahren zum ersten Mal auf die Band aufmerksam geworden war. Gedankenverloren dachte ich an sein dunkles, wildes Haar, die braunen, ausdrucksstarken Augen und seine markant männlichen Gesichtszüge. Ich rief mir ins Gedächtnis, wie trainiert und muskulös sein Körper in den schwarzen Muscle-Shirts ausgesehen hatte, die Arme mit Tattoos bedeckt, die Muskeln beim Gitarre spielen angespannt. Wie hatte mir nur die Tatsache entgehen können, dass er mit meinem Bruder in eine Klasse gegangen war?
Plötzlich erklangen die ersten Töne eines Gitarren-Solos und ich fuhr sofort zur Bühne herum. Im Licht des Scheinwerfers stand Liam und sah lächelnd in die Menge, die sich vor der Bühne aufbaute. Ich schluckte schwer. Er sah noch besser aus, als vor fünf Jahren. Männlicher, stärker und unerreichbarer als jemals zuvor. Schnell schüttelte ich den Kopf über meine Gedanken und dachte daran, was Devon mit mir machen würde, wenn er diese hören könnte. Ein Schauer erfasste meine Glieder.
»Na los, geh schon zur Bühne. Ich kann ihn dir später vorstellen, wenn du möchtest«, sagte Leon und zwinkerte mir zu.
Ich atmete noch einmal tief durch und ging dann in Richtung Bühne. Da ich mich nicht zwischen den anderen durchdrängeln wollte, blieb ich weit hinten stehen. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, sicherte den Cocktail in einer Hand und fixierte Liam mit meinem Blick. Er säuselte gerade eine ruhige Stelle in das Mikrofon. Gänsehaut überzog meinen Körper, als er die Augen öffnete und genau in die meinen zu blicken schien. Ich hielt die Luft an und traute mich erst wieder zu atmen, als er den Blick, unendlich lange Sekunden später, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen abwandte.
Schnell drehte ich mich um und suchte nach einem ruhigen Platz, von wo aus ich zwar einen guten Blick auf die Bühne hatte, aber dennoch nicht Gefahr lief, so einen Moment noch einmal erleben zu müssen. Plötzlich war ich verunsichert und fühlte mich unwohl.
Ich fand einen Platz rechts neben der Bühne, wo einige Biertisch-Garnituren verwaist herumstanden. Ich hielt den Cocktail in den Händen, die merklich begonnen hatten zu zittern, nachdem ich mich gesetzt hatte. Die Bühne hatte ich nach wie vor fest im Blick, doch mein Bauchgefühl sagte mir, dass es ein schrecklicher Fehler gewesen war, hierherzukommen.
** Liam **
Als ich die Bühne betrat, durchströmte mich Adrenalin. Ich hing mir meine rote E-Gitarre um und warf einen ersten Blick in die Zuschauermenge, die sich bereits eingefunden hatte. Zufrieden mit dem, was ich sah, ging ich zum Mikrofon-Ständer, richtete das Mikro und schloss die Augen. Wie vor jedem Auftritt atmete ich noch einmal tief durch und begann dann mit meinem Gitarren-Solo. Ich öffnete die Augen wieder und machte routinierte Griffe an den Saiten. Von meinem Solo leitete ich zum ersten Song über und meine drei Bandkollegen setzten mit ein. Die Stimmung war gut, die Menge schrie ungeduldig. Losgelöst riss ich die Faust in die Höhe, bevor ich die ersten Worte sang.
Als ich Leon zugesagt hatte, auf seiner Geburtstagsparty zu spielen, hatte ich mit weitaus weniger Publikum gerechnet. Aber Leons Gäste hätten ohne Probleme einen kleinen Konzertsaal füllen können.
Ich umfasste mit beiden Händen das Mikrofon und legte jedes meiner Gefühle in die ruhige Stelle des Songs. Erneut schloss ich die Augen, um die Empfindungen noch besser in mich aufzunehmen und sie rüberbringen zu können. Ich öffnete sie wieder leicht und auf einmal sah ich sie. Mein Herz setzte kurz aus. Sie stach zwischen den anderen heraus. Es war ihr Blick. Ihre wunderschönen, traurig wirkenden Augen, die mir den Verstand raubten und mich für einen kurzen Moment aus dem Konzept brachten. Die Art, wie sie mich ansah, war besonders. Als ich merkte, dass sie den Blick nicht einfach von mir abwenden würde, lächelte ich und blickte in die andere Richtung.
Heimlich wollte ich sie noch einmal ansehen, doch sie war verschwunden. Irritiert kniff ich die Augen zusammen, während die Worte fast mechanisch über meine Lippen kamen. Ein Gefühl von Sorge zog durch meine Gedanken, als ich ihren fast niedergeschlagenen Blick erkannte, mit dem sie sich auf eine Bank in einer dunklen Ecke zurückzog.
Und als ich leise in das Mikrofon sang: »What happend to you?«, fragte ich mich das tatsächlich.
Was ist dir passiert?