Читать книгу Bad Hair Day inklusive - Sabrina Heilmann - Страница 8

Auf und davon

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Ziellos irrte Nelia durch die Hauptstadt und überlegte, wie es für sie weitergehen sollte. Zu ihrer Überraschung hielt sie sich recht wacker und erlaubte den Tränen nicht, an die Oberfläche zu treten. Nelia war gefasst, vielleicht weil sie wusste, dass sie sich einen Nervenzusammenbruch in dieser Sekunde nicht leisten konnte. Sie brauchte in erster Linie einen Schlafplatz und musste pragmatisch denken. Zum Weinen hatte sie später immer noch Zeit. Nelia überlegte, ob sie Jennifer anrufen und sie um Hilfe bitten sollte. Sie war ihr einziger Anlaufpunkt in der Stadt.

Während des Studiums hatte Nelia zwar Freundschaften geschlossen, doch diese waren zerbrochen, sobald jeder seinem eigenen Leben nachging und das Studium nicht mehr als gemeinsame Verbindung fungierte. Bislang hatte es sie nicht gestört, dass der Kontakt von Monat zu Monat weniger wurde, doch nun realisierte sie, dass sie niemanden mehr hatte.

Nelia blieb stehen und sah sich um. Sie war einfach nur gelaufen und hatte kaum mitbekommen, wohin sie der Weg geführt hatte. Irritiert blickte sie auf den Busbahnhof, der von allen nur ZOB genannt wurde, und fragte sich, ob es ein Zeichen war, dass sie ausgerechnet an diesem Ort gelandet war. Von hier aus fuhren Fernbusse in alle Richtungen der Welt.

Einen kurzen Moment überlegte sie, ob sie nicht aus Berlin verschwinden sollte, wurde aber vom Knurren ihres Magens abgehalten. Nelia hatte den gesamten Tag über nichts gegessen und war zum ersten Mal froh, ein Fast Food Restaurant in der Nähe zu haben.

Sie überquerte die Straße und betrat den Laden, der gnadenlos überfüllt war. Die Schlange an der Kasse war endlos lang und die Sitzplätze waren fast alle von jungen Leuten belegt, die schnell einen Happen essen wollte, bevor sie die Stadt verließen.

Weil Nelia nichts anderes übrig blieb, stellte sie sich an und suchte in ihrer Tasche nach ihrem Portemonnaie. Eigentlich hasste sie diese nach Pappe schmeckenden, lieblos zusammengeworfenen Burger, doch das war im Moment besser als nichts.

Als sie endlich an der Reihe war, bestellte sie sich ein Burgermenü, bezahlte und hoffte, dass sie einen Platz finden würde. Sie sah sich um und bemerkte, dass eine Gruppe Jugendlicher von ihrem Tisch aufstand. Nelia steuerte direkt auf den freien Platz zu und rutschte in die hinterste Ecke.

Freudlos aß sie den Burger und die labbrigen Pommes und trank ihre Cola light. Anschließend suchte sie in der Tasche nach ihrem Handy und blickte darauf. Niemand hatte sie angerufen oder ihr geschrieben. Auch Maximilian nicht, der sich offenbar lieber mit der Blondine tröstete, als einen weiteren Versuch zu unternehmen, seine Freundin zurückzubekommen.

Nelia öffnete die Facebook-App auf ihrem Handy und checkte ihr Profil, das ihr plötzlich wie eine riesige Lüge vorkam. Sie hatte das soziale Netzwerk genutzt, um ihre Kolumne zu vermarkten, wenn auch mit geringem Erfolg. Nun musste sie ihren wenigen Fans erklären, dass es vorbei war. Sie scrollte einige Beiträge ihrer Freunde durch und stolperte über ein Zitatbild, das eine ehemaligen Studienfreundinnen gepostet hatte.

Paris ist immer eine gute Idee, stand darauf.

Wenn es doch nur so einfach wäre, dachte Nelia und checkte anschließend ihr Instagram-Profil, auf dem sie, seit über einer Woche, nichts Neues mehr veröffentlicht hatte. Gerade einmal zweihundertfünfunddreißig Menschen interessierte ihr Profil. Stella hatte recht, sie war meilenweit davon entfernt, ein Social Media Star zu werden. Dennoch sah sie sich die Beiträge ihrer Freunde an und stutzte plötzlich, als ihr der Eiffelturm ein weiteres Mal entgegen lächelte.

Ein schlechter Tag in Paris ist immer noch besser, als ein guter Tag woanders, stand auf diesem Bild, das ironischerweise Teil einer Werbeanzeige eines Fernbusunternehmens war.

Nelia glaubte nicht an Zeichen und dennoch, nachdem sie ihren Platz aufgeräumt und das Schnellrestaurant verlassen hatte, steuerte sie zielgerichtet auf die Anzeigetafel zu, welche die nächsten Abfahrten zeigte. Sie hielt die Luft an.

Paris: 20 Minuten

Amsterdam: 24 Minuten

Leipzig: 25 Minuten

Hamburg: 33 Minuten

Konnte sie das wirklich machen? Sich einfach so ein Ticket nach Paris kaufen und ohne ein Wort aus Berlin verschwinden?

Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, gab es keinen Grund, länger zu bleiben. Alles, was Nelia an die Hauptstadt gebunden hatte, hatte sie an diesem einen Tag verloren. Kein Job, keine Wohnung, kein Freund, dafür eine Sonderzahlung von siebentausend Euro, mit der sie machen konnte, was sie wollte. Was sprach gegen eine Auszeit in der Stadt, von der sie schon seit Jahren träumte?

Nelia sprach fließend Französisch und sollte keine Probleme haben, sich in der Stadt zurechtzufinden. In der Schule hatte sie die Sprache gelernt, während des Abiturs hatte sie sie vertieft und sich schließlich dafür entschieden, Französisch in ihrem Studium als Nebenfach zu wählen. Sie liebte das Land und die Mentalität der Leute, auch wenn sie bislang nie in Frankreich gewesen war.

Ich habe nichts zu verlieren, dachte sie, kaufte sich ein Ticket und stand fünf Minuten später vor dem Bus, der sie innerhalb der nächsten zwölf Stunden nach Paris bringen würde. Die ersten Fahrgäste waren bereits eingestiegen. Nelia zeigte dem Fahrer ihr Ticket und er betrachtete sie verwundert.

»Haben Sie kein Gepäck?«

»Nein, nur die Tasche.«

Er nickte und machte den Weg für sie frei. Nelia suchte sich einen Platz im hinteren Teil des Busses und streifte sich die Pumps von den Füßen, die mittlerweile furchtbar schmerzten. Und auch sonst fühlte sie sich schrecklich erschöpft, müde und kraftlos.

Sie wollte nur für einen Moment die Augen schließen, doch ihr Körper holte sich die Ruhe, die er offenbar dringend benötigte.

Als Nelia wieder zu sich kam, fuhr der Bus in gleichmäßigem Tempo über die Autobahn. Draußen war es stockdunkel und im Bus selbst brannte nur ein schwaches Nachtlicht. Irritiert blickte sie aus dem Fenster, konnte die Ortsnamen auf den vorbeiziehenden Schildern aber nicht erkennen.

»Gut, Sie sind nicht tot«, flüsterte plötzlich eine attraktive, männliche Stimme mit starkem französischen Akzent.

Nelia blickte neben sich und sah in die grauen Augen eines Mannes, den sie auf Anfang dreißig schätzte. Sein dunkelblondes Haar war an den Seiten kurz geschnitten, in der Mitte lang, und fiel gewollt unordentlich links über seine Stirn. Der gepflegte, kurze Bart rahmte sein maskulines Gesicht ein und ließ ihn verwegen wirken.

»Seit wann sitzen Sie hier?«, fragte Nelia irritiert, richtete sich auf und versuchte, ihre Haare zu richten, obwohl sie wusste, dass es keinen Sinn machte.

»Depuis un bon momente. Seit Berlin, Mademoiselle.«

Nelia nickte und betrachtete ihren attraktiven Sitznachbarn skeptisch. War sie so erschöpft gewesen, dass sie überhaupt nicht mitbekommen hatte, dass er sich neben sie gesetzt hatte? Offenbar. Und warum saß er überhaupt hier? Im Bus waren unzählige Doppelplätze nicht belegt.

»Excusez-moi«, sprach Nelia nun Französisch, weil sie sich so besser mit dem Mann verständigen konnte, dem die deutsche Sprache sichtlich schwerfiel. »Entschuldigen Sie, aber warum sitzen Sie hier? Es sind genügend andere Plätze frei.«

»Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht. Man hätte Sie mit Leichtigkeit ausrauben können, so fest haben Sie geschlafen«, antwortete er in seiner Muttersprache und Nelia fand keinen Grund, ihm zu misstrauen. »Wenn Sie möchten, setze ich mich um, jetzt, da Sie wach sind.«

»Schon in Ordnung, bleiben Sie ruhig hier.« Nelia lächelte unsicher und senkte den Blick einen Moment auf ihre Hände, die sie nervös knetete.

»Was verschlägt Sie á la ville de l'amour

»Wenn ich das wüsste ...«, flüsterte Nelia und handelte sich einen fragenden Blick ihres Gegenübers ein.

René glaubte, sich verhört zu haben. Dass irgendetwas mit der jungen Frau nicht stimmte, hatte er schon geahnt, als er neben ihr Platz genommen hatte. In Wirklichkeit hatte er sich nicht zu ihr gesetzt, weil er Angst hatte, dass man sie ausrauben könnte. Im Bus waren nur wenige Menschen und neunundneunzig Prozent hatten nur mit sich selbst oder ihrem Handy zu tun. Nein, sie hatte im Schlaf geweint. Erst war René sich nicht sicher gewesen, ob sie wach war und weinte, doch sein Beschützerinstinkt machte sich sofort bemerkbar. Sie war noch so jung, vielleicht einundzwanzig oder zweiundzwanzig Jahre alt. Ihre braunen Haare wirkten wirr, ihr Gesichtsausdruck erschöpft und ihre Kleidung zerknittert. Irgendetwas war ihr passiert, darauf hätte er alles verwettet, was er besaß.

»Willst du mir sagen, was los ist?«, entschied er, sie nicht mehr in der Höflichkeitsform anzusprechen, weil es ihm plötzlich albern vorkam.

Nelia atmete tief durch und betrachtete den Mann, dessen Namen sie nur zu gern erfahren hätte. Aus irgendeinem Grund vertraute sie ihm. Warum? Das konnte sie beim besten Willen nicht sagen.

»Ich habe kein Leben mehr«, antwortete sie kryptisch.

»Wie alt bist du? Maximal zweiundzwanzig. Du hast dein ganzes Leben noch vor dir.«

»Gut geschätzt. Wie würdest du dich fühlen, wenn du an einem Tag deinen Job verlierst, deine Wohnung im wahrsten Sinne des Wortes in die Luft fliegt und du, weil das alles nicht schlimm genug ist, deinen Freund mit einer vollbusigen Barbie erwischst?«

Nelias Augen füllten sich mit Tränen und sie kniff die Lippen fest aufeinander. Warum hatte sie ihm all das gesagt? Sicher wollte er das gar nicht wissen, oder er hielt sie für völlig verzweifelt.

»Du bist auf dem Weg nach Paris. Das heißt, du gibst nicht auf und bist bereit für einen Neuanfang.«

»Ich bin auf dem Weg nach Paris, weil die Werbung des Busunternehmens im Internet gesagt hat, schlechte Tage in Paris seien besser als gute Tage woanders. Hätte ich Timbuktu-Werbung gesehen, wäre ich jetzt auf dem Weg nach Afrika und nicht nach Frankreich«, erklärte sie selbstironisch.

»Dein Freund ist ein Idiot. Dein Chef auch. Aber das mit deiner Wohnung musst du erklären.«

Er wollte sie aufbauen, das wusste Nelia, und dennoch fiel ihr dieser Small-Talk unheimlich schwer. Weil sie dennoch nicht unhöflich sein wollte, zog sie ihr Handy aus der Tasche, flüsterte leise »un momente« und zeigte dem jungen Mann schließlich den ersten Online-Artikel über den Vorfall. Mittlerweile war bestätigt worden, dass ein Leck in der Heizung eine Gasexplosion ausgelöst hatte.

»Ç'est terrible«, stieß er fassungslos aus und machte große Augen. »Wo warst du, als das passiert ist?«

»Bei der Arbeit. Als ich zurückkam, war es schon zu spät. Ich besitze nur noch die Sachen, die ich anhabe, und die sich in meiner Tasche befinden. Der Rest ist zerstört worden.«

»Mittlerweile verstehe ich, warum du in diesem Bus sitzt. Weißt du schon, wo du in Paris unterkommen wirst?«

Nelia schüttelte den Kopf. Das war ein Punkt, über den sie sich bislang überhaupt keine Gedanken gemacht hatte. Wahrscheinlich würde sie sich ein Hotel suchen und so lange bleiben, bis ihr Geld aufgebraucht war. Wobei es absolut unklug war, die Sonderzahlung bis auf den letzten Cent auszugeben. Ehe die Versicherung den Schaden bezahlen würde, musste sie sich eine neue Wohnung suchen, von irgendetwas neue Möbel kaufen und ihr Leben neu strukturieren. Außerdem hatte sie keinen Job mehr.

Mit einem Schlag wurde Nelia bewusst, welche große Dummheit sie begangen hatte, als sie in den Bus gestiegen war. Sie konnte nicht vor ihren Problemen davonlaufen. Wenn sie zurückkam – wahrscheinlich arm wie eine Kirchenmaus – waren ihre Sorgen trotzdem noch da.

»Nein, ich ... ich sollte mit dem nächsten Bus zurückfahren.«

»Ich finde, das solltest du nicht tun. Meine Freundin Florence hat eine Pension und eine kleine Bäckerei. Ich denke, dass sie ein Zimmer für dich frei hat.«

»Ich bin mir nicht sicher, wie vertrauenswürdig dein Angebot ist«, scherzte Nelia.

»Warum?«

»Ich kenne nicht einmal deinen Namen.«

»René, sehr erfreut«, grinste er und reichte ihr die Hand. Kurz zögerte sie, ergriff sie aber dennoch.

»Nelia.«

»Was für ein ungewöhnlicher Name«, stellte René fest.

»Nelia ist eine Kurzform von Cornelia, so hieß die Großmutter meines Vaters. Meine Mutter konnte sie leider auf den Tod nicht ausstehen und hätte mich nie im Leben nach ihr benannt. Um meinen Vater nicht zu verärgern, hat sie sich für Nelia entschieden. Alle haben ihren Frieden und ich bin auch nicht unglücklich.«

Für einen kurzen Augenblick sah René einen Funken in Nelias Augen, der ein glückliches, lebensfrohes Mädchen erahnen ließ. Er hielt nicht lange an, doch er war dem jungen Franzosen nicht entgangen.

»Also, Nelia, jetzt, wo du meinen Namen kennst, und ich alles über die Herkunft deines Namens weiß, soll ich Florence eine Nachricht schreiben?«

»Ich denke, jetzt geht es in Ordnung.«

Nelia und René tauschten ein ehrliches und freundliches Lächeln. Eine kleine Geste, die irgendwo zwischen Berlin und Paris, um Punkt 23:59 Uhr stattfand, und Nelia doch noch den Tag versüßte.

Vielleicht war Paris doch eine gute Idee!

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