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Vive la France

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Nelia und René hatten lange miteinander gesprochen, bis die Müdigkeit die beiden überrumpelt hatte. Erst kurz vor Paris kitzelte die französische Sonne ihre Nasen und ließ sie erwachen.

Auch wenn Nelia den Schlaf dringend gebraucht hatte, schmerzte jeder ihrer Knochen. So ein Bussitz war eben doch nur für kurze Zeit bequem. Sie streckte sich leicht und warf einen Blick aus dem Fenster. Obwohl es so früh war, herrschte in der Stadt der Liebe schon geschäftiges Treiben. Menschen eilten in die kleinen Boulangerien, um sich eine Kleinigkeit zu essen und einen Kaffee zu holen. Einige genossen die ersten Sonnenstrahlen des Tages, während andere mit ihren Fahrrädern zur Arbeit fuhren. Menschen hielten an, wenn sie zufällig einem Bekannten auf der Straße begegneten, küssten einander die Wangen und lachten. Ausnahmslos jeder, den Nelia in den letzten Minuten gesehen hatte, war fröhlich und schien glücklich. Die Stadt lebte und sprühte nur so vor Lebensfreude. Etwas, das Nelia in Berlin so nie erlebt hatte.

Kurz nach halb acht Uhr morgens hielt der Bus im Quartier Bercy, das im 12. Arrondissement am rechten Ufer der Seine lag. René und Nelia stiegen aus. Während der junge Mann auf seinen Koffer wartete, stellte sie sich an den Rand. Sie wusste nicht, ob seine Freundin Florence einen Schlafplatz in ihrer kleinen Pension für sie hatte.

Es dauerte nur ein paar Minuten, bis René schließlich zu ihr kam.

»Du hast Glück. Flo hat mir eine Nachricht geschrieben, dass ein Pärchen kurzfristig ein Zimmer storniert hat. Wenn du möchtest, nehme ich dich mit. Mein Auto steht in einer Seitenstraße.«

Für einen kurzen Moment überlegte Nelia zuzustimmen, doch dann schüttelte sie entschieden den Kopf. Sie war nicht aus Berlin abgehauen, um sich wieder von jemandem abhängig zu machen. Schon während ihrer Beziehung mit Maximilian hatte sie sich viel zu oft darauf verlassen, dass er die Dinge für sie regelte. In gewissen Punkten hatte sie ihre Selbstständigkeit völlig verloren, ebenso was ihren Job bei Berlin Trends betraf. In Wirklichkeit hatte sie schon lange nicht mehr das geschrieben, was sie bewegte, sondern das, was ihre Umfragen ergaben.

Nelia war klar, dass Paris eine Chance war, wieder zu sich selbst zu finden, und diese wollte sie nutzen.

»Nein, gib mir bitte nur die Adresse. Ich werde in Paris nicht die gleichen Fehler machen wie in Berlin.«

René nickte, ließ sich seine Enttäuschung jedoch nicht anmerken. Dass Nelia es für einen Fehler hielt, mit ihm mitzufahren, hinterließ einen bitteren Beigeschmack. Man musste sie verletzt haben, wenn sie alles so vehement abblockte.

Auch wenn René nicht wohl dabei war, akzeptierte er die Entscheidung der jungen Frau und nannte ihr die Adresse der Pension in der Rue Paul Albert im Künstlerviertel Montmartre.

»Merci, René«, hauchte Nelia und wusste nicht so recht, wie sie sich von ihm verabschieden sollte.

Aber der Franzose machte es ihr leicht. Er kam auf sie zu, küsste sie zweimal zum Abschied auf die Wange und flüsterte: »Du wirst deinen Weg finden, Nelia. Bonne chance

»Merci

René ging und ließ Nelia allein in Bercy zurück. Sie atmete tief durch und fühlte die Freiheit, die sie plötzlich überkam. Sie konnte nicht glauben, dass sie in Paris war. Die Stadt bot ihr so viele Möglichkeiten, auch wenn sie es noch immer für unklug hielt, hier ihr gesamtes Geld auszugeben. Aber daran wollte sie jetzt unter keinen Umständen denken.

Nelia wollte leben, lachen und eine neue Welt kennenlernen. Paris sollte ihr helfen, Erinnerungen zu sammeln und eine Geschichte zu erleben, die sie eines Tages ihren Kindern und Enkelkindern erzählen konnte. Es war ein Abenteuer und mit Abstand die beste Entscheidung, die sie in den zweiundzwanzig Jahren, die sie auf dieser Welt war, getroffen hatte.

Zu ihrer Überraschung fand Nelia den Weg zur Pension Vive la France ohne Probleme. Worüber sie sich mehr Gedanken machte, war die Tatsache, dass sie im Laufe des Tages eine Grundausstattung an Kleidung, Schuhen und Make-up kaufen musste. Im Vergleich zu vielen anderen Frauen war Nelia eindeutig keine Shopping-Queen. Die meisten ihrer Sachen hatte sie im Internet bestellt, weil es bequemer war, als den kompletten Nachmittag wie ein aufgestochenes Huhn durch die Stadt zu laufen und Sachen anzuprobieren. Dieses ständige Aus- und Wiederanziehen ging ihr einfach nur auf die Nerven. Außerdem bekam sie viele ihrer Sachen günstiger im Internet, als in den überteuerten Boutiquen.

Nach einigen Minuten Fußweg von der Metro-Station zur Pension blieb Nelia vor einem weißen Gebäude stehen. Florences Bäckerei machte einen verspielten, mädchenhaften Eindruck. Die weißen Tische und Stühle vor dem Laden waren besetzt und auch im Inneren herrschte wildes Treiben.

Nelia betrat den Verkaufsraum und der verspielte Eindruck bestätigte sich. Das Vive la France war ein rosaroter Mädchentraum mit weißen Vintage-Elementen. Die Tische waren liebevoll eingedeckt und dekoriert. Es funkelte in jeder Ecke, die frischen Schnittblumen gaben dem Café einen lebendigen Eindruck und die nach Kaffee und Gebäck duftende Luft tat ihr übriges.

Hinter dem Landhausstil-Tresen stand eine Frau, Ende zwanzig, mit dunkelblonden Haaren, blauen Augen und einem freundlichen Lächeln auf ihren knallpink geschminkten Lippen. Sie trug ein schlichtes weißes Petticoat-Kleid und darüber eine Schürze mit bunten Cupcakes. Als sie Nelia entdeckte, kam hinter dem Tresen hervor.

»Bonjour, du musst Nelia sein«, begrüßte sie Nelia und küsste sie auf die Wange. »Je suis Florence.«

»Es freut mich, dich kennenzulernen«, erwiderte sie freundlich. »Dein Laden ist bezaubernd.«

»Merci.« Florence lächelte, wurde aber sofort ernster. »René sagte mir grob, was dir passiert ist. Je suis désolée. Es tut mir leid.«

»Vielleicht ist es ja aus einem bestimmten Grund so gekommen.«

»Oui, du darfst auf keinen Fall aufgeben.« Florence wurde wieder fröhlich und lief hinter den Tresen, wo sie einen Schlüssel aus einer kleinen Schachtel holte. »Du möchtest dich bestimmt erst einmal frisch machen. Vielleicht ist dir die grüne Eingangstür neben dem Café aufgefallen. Dort kommst du zu den Zimmern. Dein Zimmer – Nummer 45 – liegt im vierten Stock, links den Gang runter. In der Zwischenzeit bereite ich dir ein kleines Frühstück zu, das ist inklusive. Alles Weitere klären wir später.«

Florence reichte Nelia den Schlüssel. Diese bedankte sich und verließ das kleine Café, um ihr Zimmer zu beziehen.

Gespannt öffnete Nelia die Tür und trat in einen modern eingerichteten Raum. Man sah der Pension an, dass sie offenbar neu war. Ein weißes Boxspringbett stand in der einen Ecke des Raumes, in der anderen Ecke gab es eine Sitzecke mit Fernseher und vor dem Fenster stand ein Schreibtisch, von dem aus man direkt auf die Stadt schauen konnte. Nelia traute ihren Augen nicht, als sie bemerkte, dass das Zimmer zudem über einen Balkon verfügte. Es war traumhaft, viel größer als erwartet und wahrscheinlich so sündhaft teuer, dass Nelia kaum eine Woche bleiben konnte.

Plötzlich fiel ihr ein Paar Sneakers und zwei Tüten auf dem Bett auf, die mit dem Logo einer Boutique und mit dem einer Drogeriekette bedruckt waren. Irritiert nahm Nelia die größere Tüte in die Hand und packte sie aus. Zum Vorschein kam eine schlichte, weiße Bluse, eine blaue Jeans, sowie eine extravagante schwarze Lederjacke mit schwarz-weiß gestreiftem Innenleben. Sie traute ihren Augen nicht, als sie auch schlichte, schwarze Unterwäsche und einen Zettel darin fand.

Ich hoffe, die Sachen passen dir und ich habe deine Größe richtig geschätzt. Meiner Mutter gehört die Boutique, sie hat die Sachen ausgesucht.

Herzlich willkommen in Paris!

- R.

Für einen kurzen Moment machte Nelias Herz einen nervösen Sprung. René hatte ihr diese Sachen besorgt? Er hätte das nicht tun müssen und sie wusste seine fürsorgliche Geste zu schätzen. Dennoch nahm sie sich vor, später in der Boutique vorbeizuschauen, sich zu bedanken und die Sachen zu bezahlen. Auch wenn René es lieb gemeint hatte, geschenkt haben wollte sie die Kleidung und alles andere nicht.

In der Tüte des Drogeriemarktes fand Nelia neben einer Zahnbürste, Zahnpasta, einer Haarbürste, auch noch ein Parfüm, Haarshampoo und -spülung, Duschbad, Make-up, Eyeliner, Mascara und Nagellack. Sie musste gestehen, dass René ein glückliches Händchen bei der Auswahl gehabt hatte – oder ebenfalls seine Mutter, das wusste sie nicht.

Nachdem sie all die Sachen unter die Lupe genommen hatte, gönnte sich Nelia eine ausgiebige Dusche. Sie wusch ihre Haare, trocknete sich ab und zog sich die neuen Sachen an, die tatsächlich wie angegossen passten. Anschließend föhnte sie ihre Haare so glatt wie möglich, putzte sich die Zähne und legte etwas Make-up auf. Innerhalb einer Stunde machte sie aus sich wieder einen Menschen und ließ das Chaos des letzten Tages endgültig hinter sich.

Nelia verließ das Badezimmer, schlüpfte in die Sneakers, die erstaunlicherweise ebenfalls passten – mittlerweile fragte sie sich, was René alles mit ihr angestellt hatte, als sie im Bus geschlafen hatte – und legte etwas Parfüm auf. Der blumig-süße Duft rief sofort ein positives Gefühl in ihrem Inneren hervor und machte Hoffnung auf einen perfekten ersten Tag in der Stadt der Liebe.

Nelia verließ ihr Pensionszimmer und Florence wartete schon auf sie. Sofort bot sie ihr einen Platz vor dem Café an und brachte ihr gleich darauf einen Café au Lait und einen bunt gemischten Frühstücksteller. Ein Croissant, Marmelade und frische Erdbeeren sowie ein Baguettebrötchen mit Käse und etwas Salat, Gurke und Tomate. Es war fast zu gut, um wahr zu sein, und absolut kein Vergleich zu dem Burger-Menü, das sie am Vorabend gegessen hatte.

»Merci, Florence.« Nelia lächelte glücklich und trank einen Schluck Kaffee.

»Avec plaisir. Mit Vergnügen. Gefällt dir dein Zimmer?«

Weil Florence keine neue Kundschaft hatte, setzte sie sich einen Moment zu Nelia.

»Oui, es ist sehr schön. Mit einem Balkon habe ich überhaupt nicht gerechnet.«

Nelia bestrich ihr Croissant mit etwas Marmelade und biss genüsslich hinein.

»Mon Dieu, das ist das beste Croissant, das ich in meinem ganzen Leben gegessen habe!«

»Das höre ich gern. Im Übrigen hat René noch etwas gut bei mir. Du kannst so lange hierbleiben, wie du möchtest.«

Fassungslos sah Nelia in Florences blaue Augen. »Was soll das bedeuten?«

»Ich möchte kein Geld von dir haben und das Zimmer gehört dir so lange, bis du die Nase voll von Paris hast.«

»Nein, das kann ich auf keinen Fall annehmen.«

»Keine Widerrede. René hat nur grob angedeutet, was passiert ist, aber ich hätte an deiner Stelle ebenfalls so gehandelt und wäre abgehauen. Natürlich helfen wir dir, wo wir können.«

»Aber ihr kennt mich doch kaum.«

»In Paris geben wir aufeinander acht, Nelia. Da spielt es keine Rolle, wie lange man sich kennt.«

»Danke, das weiß ich sehr zu schätzen. Wenn du irgendwann Hilfe im Café oder mit der Pension brauchst, bitte frag mich, ja?«

»Was hältst du davon, wenn wir heute Abend etwas trinken gehen?«

Nelia überlegte nicht lange und stimmte zu. Sie konnte nicht glauben, wie nett hier alle zu ihr waren. So etwas passierte doch sonst nur in Filmen und nicht im wahren Leben. Glücklich aß sie ihr Frühstück auf und schwor sich, dass ab heute alles besser werden würde.

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