Читать книгу Celeste - Gott und der König - Sabrina Kiefner - Страница 10
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Das Mittagessen wird in der großen Küche im Erdgeschoss serviert. Celeste steigt, auf ihren Krückstock gebeugt, langsam die Stufen hinab, eine nach der Anderen. Dabei bemerkt sie, dass es sehr viel einfacher für sie ist, diese tägliche Übung auf sich zu nehmen, als ihrer Dienerin aufzubürden, alle Mahlzeiten in den ersten Stock zu tragen. Die beiden Damen betreten den Empfangsraum, den Aurore am Vortag bewundert hatte und sie bleibt vor der Radierung der Kriegerin zu Pferd stehen und erkundigt sich: „Ist die Dame auf dem Bild nicht Ihre Schwester, Madame de Sapinaud?“
Celeste wendet sich, sichtlich amüsiert über diese Frage, um und gibt lachend zurück: „Meine Schwester Jeanne mit einer Waffe? Sie belieben zu scherzen! Aber nein, meine Liebe, ich war es, die an der Seite des General Charette kämpfte. Es handelt sich hier um das Scharmützel der Clouzeaux, von denen ich Ihnen in den nächsten Tagen berichten werde. Haben Sie die Memoiren meiner Schwester gelesen?“
Aurore läuft rot an, sie ist sich ihrer mangelnden Vorbeitung bewusst. Noch auf der Reise hatte sie versucht, diesen Umstand durch geeignete Lektüre auszugleichen, doch das Lesen auf der Fahrt war ihr nicht bekommen. Sie rechtfertigt sich : „Um ehrlich zu sein, habe ich das Buch nur überflogen. Mein Lehrmeister hat mich mit so vielen Büchern ausgestattet, dass es mir unmöglich war, sie vor meiner Abreise zu lesen. Ich werde dies nachholen, sobald ich zurück in Paris bin.“ Die betagte Dame erwidert : „Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, dann lesen Sie besser die Memoiren der Marquise de la Rochejaquelein als die meiner Schwester. Sie werden Ihnen eine weniger konfuse Vorstellung vom Krieg der Vendee vermitteln, es sei denn, Sie interessieren sich im Besonderen für das das Los der Frauen, die auf ihren Ländereien blieben. Sie wurden Zeugen unbeschreiblicher Grausamkeiten.“
Nach einer Pause fährt Celeste fort: „Um auf meine Schwester zurückzukommen – ich denke, sie kann nicht viel besser mit der Feder umgehen als mit einer Waffe, bei allem Respekt, den ich ihr schulde! Jeanne nahm an keiner einzigen Schlacht teil. Als der Krieg ausbrach, war sie bereits Witwe. Ihre Söhne waren ausgewandert und sie wurde von ihrer Tochter und ihren Enkeln getrennt, nach denen sie verzweifelt suchte. Meine Schwester versteckte sich in den Wäldern, die ihren Besitz umgaben, als sie vom Staat enteignet wurde. Ihre Unterstützung unserer Bewegung beschränkte sich auf das Sticken der heiligen Herzen, die unsere Soldaten auf ihren Wämsen trugen. Ich möchte weder schlecht über sie reden, geschweige denn ein Urteil über sie fällen. Ich empfinde längst keinen Groll mehr, glauben Sie mir, obwohl Jeanne sich von mir abgewandt hat – aus Gründen, die Sie später erfahren werden. Ihre Memoiren handeln vor allem von der Lage derer, die der königlichen Armee nicht gefolgt waren. Sie erwähnte darin Gerüchte über den Ablauf verschiedener Schlachten, die ihr zu Ohren kamen, die aber nicht ganz der Wirklichkeit entsprachen. Und leider wurden dabei eine Menge Menschen verschwiegen, die es verdient hätten, darin vorzukommen, absichtlich oder nicht, das ist mir nicht bekannt.“
Aurore spürt, dass sie es hier mit einem heiklen Thema zu tun hat. Sie fragt Celeste nach den Namen der Anführer, die auf den Stichen zu sehen sind: der Marquis de Bonchamps, Lescure und der erste General, Cathelineau. Es gibt auch ein Portrait des jungen Charette in seiner Uniform der königlichen Marine. Die junge Frau folgt Celeste in die Küche und setzt sich ihr gegenüber. Während des Essens plaudert die Gastgeberin mit ihrer Dienstbotin und schlägt Aurore vor, nach der Mahlzeit im schattigen Hof eine Tasse Kaffee zu trinken.
Erst dort kommt sie auf ihre Vertraulichkeiten zurück: „Ich hatte ein etwas kühles Verhältnis zu meiner Schwester Jeanne, die uns vor zehn Jahren verließ. Wir waren so verschieden! Meine älteste Schwester wies alle Vorzüge einer perfekten Ehefrau und Mutter auf. Sie häkelte Tischdecken, die der Zartheit Brüsseler Spitzen gleichkamen. Ihre Biskuittörtchen waren weicher und saftiger als die unserer Köchin aus Lyon. Jeanne wusste sich immer nützlich zu machen. Ihre Konfitüren waren perfekt: nie waren sie von einer grünlichen Schimmelschicht überzeugen, wie etwa meine eingemachten Erdbeeren schon nach wenigen Tagen. Meine Schwester wusste die Fabeln von La Fontaine zu rezitieren, ohne auch nur einziges Mal bei einem komplizierten Vers ins Stammeln zu geraten und fand immer eine zufriedenstellende Antwort auf die Klagen unserer betagten Tanten. Sie war für meine Brüder und mich die Schulmeisterin und inspizierte unsere Lektionen und Hefte mit außerordentlicher Strenge. Meine Leidenschaft für Abenteuer konnte sie weder nachvollziehen noch akzeptieren.
Wegen der großen Distanz zu meiner älteren Schwester, verbrachte ich viel Zeit mit meinen Brüdern. Sie teilten meine Vorliebe für Tiere, Wälder und frische Luft. Ihre Gesprächsthemen schienen mir unendlich viel interessanter als die Konversation meiner Schwestern mit ihren Freundinnen. Unser wesentlicher Altersunterschied verstärkte unsere Distanz noch. Jeanne vermählte sich mit einem Mitglied der angesehenen Familie Sapinaud, deren weitverzweigte Dynastie den Royalisten zahlreiche Kämpfer stellte, von denen zwei zu renommierten Chefs ernannt wurden. Jeannes Gemahl war bereits vor der Revolution verstorben. Sein Bruder, der Ritter Sapinaud de la Verrie, kommandierte die Armee der Mitte; Sie werden noch etliche Male von ihm hören.
Als Jeanne Witwe wurde, war ihre jüngste Tochter sechzehn Jahre alt. Meine Schwester zog sich in ihr Schloss zurück und entschied, nicht wieder zu heiraten. Ich verstand diesen Entschluss nicht: an ihrer Stelle hätte ich die Lust am Leben verloren. Für mich ist ein Leben ohne Liebe nicht lebenswert. Zu Beginn des Krieges versuchte Jeanne alles Erdenkliche, um mich von meiner Teilnahme an den ersten Kämpfen der Konterrevolution abzuhalten. Sie schickte mir lange Briefe, in denen sie erläuterte, dass eine Dame aus guter Familie auf den Schlachtfeldern nichts zu suchen hatte. Während ich in der königlichen Armee unsere Religion, den rechtmäßigen Herrscher und unser Land verteidigte, entschied sie sich für ein Leben im Verborgenen. Im folgenden erlaubte meine Schwester es sich, die Strategien bestimmter Generäle zu verurteilen; ihre Kritik betraf vor allem den General Charette. Dabei machte sie sich keinerlei Gedanken über die Ursachen, die unseren Chef zu seinen Entscheidungen bewegt hatten. Wir hatten seit zwanzig Jahren kein Wort mehr miteinander gewechselt, als ich von ihrem Tod erfuhr. Und doch fehlte sie mir und ich litt unter der Distanz, die sich zwischen uns aufgebaut hatte. Als mir ihre posthum erschienene Erzählung in die Hände fiel, wurde mir übel. Ich las sie mit Enttäuschung und stellte fest, dass einzig der Verleger des Werkes meinen Namen auf dem Einband erwähnt hatte, vermutlich um seine Verkaufschancen zu erhöhen. Blutsverwandtschaft kann man sich eben nicht aussuchen!“
Die alte Dame seufzt, ihre Finger trommeln nervös auf die Oberfläche des Eichentischs. Mit leiser Stimme fügt sie hinzu: „Diese vertraulichen Angelegenheiten sind nicht für meine Biograhie bestimmt, aber sie werden Ihnen zweifellos helfen, den Lauf meines Lebens besser zu verstehen.“
„Ja, ich kann gut nachempfinden, wie schwierig es sein muss, wenn sich Verwandte wegen der Entscheidungen, die das Leben von uns verlangt, von uns distanzieren. Ich hatte selbst nicht das Glück, in einer großen Familie aufzuwachsen..“
„Das Leben ist manchmal voller Reue, nicht wahr?“, antwortet Celeste. „Ich schrieb meiner Schwester, erhielt jedoch keine Antwort auf meine Briefe. Also las ich ihre Memoiren und litt mit ihr unter den Bürden, die ihr auferlegt wurden. Diese Lektüre nahm mir all die Bitterkeit, die ich Jeanne gegenüber empfunden hatte und man könnte behaupten, dass ihre Geschichte uns letztendlich versöhnt hat.“
Die zwei Frauen verstummen, jede in ihre eigenen Gedanken versunken, während ihre Blicke auf den schnurgeraden Reihen des Gemüsegartens ruhen, bis Aurore ein leises Schnarchen vernimmt. Sie steht behutsam auf und geht auf Zehenspitzen in ihre Wohnräume.
Dort will sie den Brief an ihren Verlobten zu Ende schreiben; sie hat nicht die geringste Lust auf einen Stadtrundgang in der flirrenden Hitze des Nachmittags. Sie setzt an die schwungvoll und gleichmäßig geschriebenen Sätze an, die die Hälfte des Briefpapiers bedecken, findet jedoch nicht die richtigen Worte; ihre Feder scheint steckenzubleiben. Aurore öffnet ein jungfräuliches Notizheft und beginnt damit, ein erstes Kapitel ins Reine zu schreiben, das sie Von der Kindheit bis zur Jugend nennt. Sie fühlt sich von einer Art Fieber befallen und voller Tatendrang. Eine unwiderstehliche Lust, etwas Neues zu schaffen hat von ihr Besitz ergriffen, und sei es nur, um eine Spur in diesem Leben zu hinterlassen, das so schnell zu vergehen scheint.