Читать книгу Celeste - Gott und der König - Sabrina Kiefner - Страница 11

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IV

Die Hochzeit meiner Schwester Marie-Adelaide war ein wichtiges Ereignis in den verschlafenen Dörfern des Loire-Tals. Zu dieser Zeit durften Mädchen erst im Alter von achtzehn Jahren ausgeschnittene Kleider tragen; ich war bereits ein Jahr älter! Die Zeiten haben sich geändert wie die Gewohnheiten, doch wie ich glaube, nicht unbedingt zum Vorteil der Frauen. Das Hochzeitsmahl war oft eine Stätte der Verhandlungen, bei denen neue Bande geknüpft wurden. Kandidaten wurden ausgesondert, unter die Lupe genommen und anschließend ausgiebig kommentiert. Entlang der langen Tischreihen beschlossen die Familien, welcher Bräutigam unter den Gästen für welche hereitsfähige Tochter in Frage käme.

Dies war der Fall für meine Patentante, Julie. Meine Schwester wurde dem Ritter Louis-Félicité de Jousbert de la Roche-Tremer versprochen. Er gehörte zur Gemeinde von Luzon*, wo die beiden planten, sich am 6. Juli 1775 das Jawort zu geben. Ich war inzwischen volljährig und würde diesmal an allen Tänzen und Festlichkeiten der Heirat teilnehmen dürfen! Maman nähte mir ein wunderschönes Kleid aus scharlachroter Seide. Mit einundzwanzig Jahren hatte ich es gelernt, nicht mehr beim kleinsten Kompliment eines Bewunderers zu erröten. Ich freute mich regelrecht darauf, im Mittelpunkt zu stehen, denn ich war an der Reihe, für das nächste Bündnis in Frage zu kommen. Einige Wochen später bereiteten wir die Einladungen für die Hochzeit meiner Schwester vor, als meine Mutter sich über Schwindelanfälle beklagte und kurz darauf zusammenbrach. Ihre körperlichen Leiden und der Überdruss, der sie schon so lange bedrückte, hatten ihr Antlitz ausgehöhlt – sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Die Ursachen des Schwächeanfalls lagen vermutlich in ihrem Schlafmangel und der Nahrungsverweigerung, die sie sich zur Gewohnheit gemacht hatte. Mein Vater sagte traurig zu mir, dass sie aus Kummer sterben wollte – er war ein klardenkender Mensch. Gibt es etwas Schlimmeres für eine Mutter, als ihre Kinder zu verlieren?

* * *

Der Tod Mamans, so vorhersehbar er auch war, quälte meinen Vater so sehr, dass er ihr Verhalten nachahmte; er zog sich immer mehr zurück und erschien nicht mehr zu den gemeinsamen Mahlzeiten. Nach einigen Wochen des Leidens folgte er ihr nach. Er hatte sich nicht an ein Leben ohne meine Mutter gewöhnen wollen. Julies Hochzeit fand im kleinen Kreise und nur wenige Monate nach der Beerdigung unserer geliebten Eltern statt.

Auf dem denkwürdigen Fest wurden mir so viele Honoratioren und Standespersonen vorgestellt, dass ich die meisten langen und komplizierten Namen trotz aller Bemühungen sofort wieder vergaß. So wusste ich nicht, wer der junge Reitmeister war, der unter dem kritischen Blick des alten Marquart eine atemberaubende Vorführung präsentierte. Er zog bewundernde Blicke auf sich während des Sektempfangs, bei dem sich die Notabeln* von Stadt und Kirche unter die Gäste mischten.

Der junge Mann bediente sich einer Art Sattel, wie ich ihn nie zuvor gesehen hatte. Am Vorderzwiesel war eine Eisenstange angebracht, an der sich der junge Reiter festhielt, als er sich aufschwang und im Kniefall auf seinem galoppierenden Pferdchen balancierte. Er fand sein Gleichgewicht in Lederschlaufen, die ihm als Steigbügel dienten und präsentierte die unglaublichsten akrobatischen Übungen, die vom Publikum ausgiebig beklatscht wurden. Er ließ den Kopf nach unten hängen, streckte die Beine in die Luft und verharrte lange in dieser unbequemen Haltung, bevor er plötzlich unter dem Bauch des Pferdes verschwand und wir alle den Atem anhielten. Dann zog er sich geschickt auf der anderen Seite seines Reittiers hoch und setzte sich in den Damensitz, bevor er eine letzte Runde im Sattel stehend darbot. Sein feuriges Pferdchen raste nach wie vor, ganz ohne offensichtliche Hilfen, und zeigte nicht die kleinste Ermüdungserscheinung!

Marquart, der meine Bewunderung für das erstaunliche Spektakel bemerkte, flüsterte mir zu: „Das ist die Reitkunst der Kosaken! Sie sind ein sehr altes Reitervolk der ungarischen Steppen – die sogenannte Puszta.“

Der Akrobat war nicht sehr hochgewachsen, doch von erstaunlicher Behändigkeit. Außerdem schien er in perfekter Harmonie mit seinem Pferd zu sein, das erst jetzt wieder in einen passageähnlichen Trab zurückfiel. Es gab großzügigen Applaus und sein triumphierendes Lächeln brannte sich in meine Erinnerung.

Ich wand mich an den Stallmeister:

„Sprechen die Kosaken eigentlich französisch?“

Marquart sah mich amüsiert an, als er begriff, dass ich mich mehr für den jungen Reitmeister interessierte als für die Disziplin, die er beherrschte.

„Aber nein, gnädiges Fräulein“, antwortete er in hochmütigem Ton – er wusste, dass ich es nicht mochte, wenn er mich so nannte; denn ich bewunderte ihn maßlos! – „der Sattel kommt aus Ungarn, nicht der Reiter! Er ist genauso französisch wie Sie, es ist der Sohn eines Freundes Ihres verstorbenen Herrn Vaters. Sein Reitmeister ist Kosake; er lebt schon seit geraumer Zeit in Frankreich und hat diesen waghalsigen Kunstreiter ausgebildet.“

„Ach so“, antwortete ich, worauf das Orchester unsere Unterhaltung beendete.

Die Paare schwärmten zur Tanzfläche. Ich beobachtete sie gelassen und kämpfte innerlich gegen den Drang an, dem alten Reitmeister zu folgen, der sich zu den Stallungen aufgemacht hatte. Von weitem sah ich den jungen Mann dem von alten Eichen beschatteten Weg folgen, der um die Weiden führte. Ich sagte mir, dass es nicht in Frage käme, mich in meinem herrlichen Kleid im Pferdestall zu zeigen – warum hatte ich nur kein Reitkostüm mit Messingknöpfen bestellt? So hätte ich seine Bekanntschaft machen können!

Toussaint kam auf mich zu und riss mich aus meinen Träumereien. Er machte einen glücklichen Eindruck und war schön anzusehen in seinem schwarzen Frack. Mein Bruder machte mir eine ganze Reihe Komplimente. Seine Frau hatte ihn nicht zum Fest begleiten können, denn meine Nichte, die kleine Pauline, war dem Kindbett noch nicht entwachsen. Meine Schwägerin war im Schloss Villenière geblieben, das mein Vater der jungen Familie vermacht hatte.

„Verehrte Schwester, gewähren Sie mir diesen Tanz?“

Mit einer galanten Verbeugung nahm Toussaint mich am Arm und ich durfte zum ersten Mal im Leben die erlernten Schritte vorführen. Toussaint war ein fabelhafter Tanzpartner, der es verstand, mich behutsam durch die Quadrille zu führen. Mein jüngerer Bruder sah uns dabei zu und klatschte im Takt. Alexandre war erstmals aus seinem zurückgezogenen Kloster gekommen, um das frisch vermählte Paar zu segnen.

Der schönste Moment war für mich der Augenblick, an dem ich den mysteriösen Reiter nach dem Essen wiedersah, frisch gekleidet und parfümiert. Mit einem unwiderstehlichen Lächeln auf den Lippen kam er auf mich zu und forderte mich zum Tanz auf, und ich schritt stolz an seinem Arm durch die schwingende Menge. Kaum waren wir jedoch in der Mitte des hölzernen Podests angekommen, als das Orchester plötzlich verstummte. Wir klatschten, etwas befangen, wie die anderen Tänzer und zogen uns zurück zu einem Pavillon, unter dem er stehenblieb, um sich förmlich dafür zu entschuldigen, dass er sich nicht vorgestellt hatte. So erfuhr ich endlich seinen Namen, den ich zeitlebens nie vergessen würde: Louis-Henri Chappot de la Brossardière.

Er war im gleichen Alter wie ich und machte mir zwei Jahre lang den Hof, bevor er um meine Hand anhielt. Er überschüttete mich mit Briefen voller Komplimente und romantischer Gedichte. Zu unserer Verlobung lud er mich zu einer Reise nach Paris ein, zum ersten Auftritt des jungen Mozarts, der seine Pariser Symphonie vorstellte. Später bezeichnete Louis diese Reise mit einem Augenzwinkern an meinen Bruder als würdigen Rahmen für seinen Heiratsantrag. Wir feierten 1779 unsere Vermählung und mein Gatte ließ nichts unversucht, mich über das Unglück, das meine Kindheit überschattet hatte, wegzutrösten. Er war der Haupterbe einer alten Familie von Edelmännern, von denen einige zu unserem Hochzeitsfest gekommen waren.

Unser Bündnis wurde in Angers besiegelt. Mein Bruder Alexandre übernahm die Einsegnung in seiner neuen Funktion als Priester des Genoveva-Ordens. Meine großen Schwestern waren mit ihren Gatten gekommen, Toussaint mit seiner Frau und den Kindern. Etwa fünfzig Freunde waren geladen, unter denen sich Marie-Aurore von Sachsen befand. Sie wurde mir zunächst unter ihrem Jungmädchennamen vorgestellt, obschon sie in Begleitung ihres Gatten erschienen war: Louis Dupin de Francueil. Der glorreiche Name ihres Vaters war jedoch landesweit bekannt, und darüber hinaus. Ihr Sohn war noch keine zwei Jahre alt. Monsieur Dupin unterhielt die Hochzeitsgesellschaft mit köstlichen Anekdoten, die er mit unvergleichlichem Humor zum Besten gab. Er war deutlich älter als Marie-Aurore – ihr Altersunterschied betrug über dreißig Jahre. Trotzdem machten sie den Eindruck eines glücklichen, freudestrahlenden Ehepaares. Sie hatten sich vor zwei Jahren vermählt und wir verstanden uns auf Anhieb.

Die Feier ähnelte in keiner Weise den prunkvollen Festlichkeiten, die meine Eltern zu ihren Lebzeiten für meine Geschwister organisiert hatten. Ihre Erbschaft war einige Wochen zuvor verteilt worden und ich war mit einer ansehnlichen Mitgift bedacht worden. Die mit Goldstücken gefüllte Kassette war so schwer, dass mein Bruder sie aus dem Notariat tragen musste. Mein Vater hatte mir außerdem in seinem letzten Willen drei Stuten von edler Abstammung vermacht, mit denen ich meine eigene Pferdezucht aufbaute. Mein Bruder schenkte mir ein leichtes Kabriolett*, das, wie er sagte, perfekt für romantische Ausfahrten geeignet war. Es war die alte Kutsche meines Großvaters, die Toussaint mit viel Geduld und Liebe zum Detail restauriert hatte.

Während des Hochzeitsmahls unterhielten wir uns lange über den selbstlosen Charakter unseres verstorbenen Vaters. Um dem Leser eine Vorstellung von diesem tugendhaften Mann zu geben, sollte er wissen, dass er unserem Stallmeister eine bequeme Rente hinterließ. Der gute Marquart erfuhr mit Tränen in den Tagen, dass er des Weiteren die normännischen Hengste zugesprochen bekam, die der ganze Stolz meiner Familie waren. Dies geschah aus dem einfachen Grunde, dass man weit und breit keinen besseren Piqueur** finden konnte als unseren betagten Reitmeister.

Ist es nicht seltsam, dass ich mich noch genau an den Wortlaut der Klauseln des Testaments erinnern kann, das schon seit über vierzig Jahren verschwunden ist? Gott hat uns mit einem bemerkenswerten Erinnerungsvermögen ausgestattet – so neigt der Mensch dazu, unangenehme Momente zu vergessen, um statt dessen Augenblicke großer Freude zu bewahren.

* * *

Mein Angetrauter war ein fürsorglicher und großzügiger Mensch. Zwei Tage nach unserer Heirat machten wir uns auf die Reise zu dem Gut meiner Schwiegerfamilie, das in über dreißig Stunden Entfernung lag, bei La-Roche-sur-Yon. Als ich mich im Arm meines Gatten von meinem Elternhaus entfernte, blickte ich mit dem nostalgischen Gefühl zurück, dass dieser vertraute Ort nie wieder derselbe für mich sein würde. Es war mir, als hörte ich aus der Ferne das Echo unseres kindlichen Lachens.

Sowohl meine treue Zofe Anne, genannt Lacoudre, wie auch der Kutscher meines Mannes begleiteten uns auf der Reise. Stellen wir uns das Abenteuer bildlich vor: unser Tross wurde von zwei Kutschen angeführt, dem ein Karren und die Zuchtstuten mit ihren Fohlen folgten. Zu dieser Epoche war die gepflasterte Straße, die an der Loire entlangführte, noch befahrbar. Sie würde uns zu der ebenfalls gut ausgebauten Trasse von Nantes nach La Rochelle bringen. Lein- und Hanffelder säumten den Weg in den ersten Tagen; die auflebende Textilherstellung meiner Heimat prägte die Region bis zum breiten Loiretal um Ancenis und zu den Hügeln von Cholet. Danach waren auf den Feldern vor allem Kohl- und Bohnenanpflanzungen zu sehen. Wir umgingen die Stadt Nantes weitläufig und die Landschaft war dichter bewaldet. Unsere Gespanne überquerten zahlreiche Flüsse und Bäche und ich stellte fest, dass die Kulturlandschaften denen des Anjou glichen. In erster Linie wurden Reben, Buchweizen, Weizen und Dinkel angebaut.

Die Landwirte hatten weitläufige, von Hecken und Gebüsch eingerahmte Wiesen, auf denen Vieh weidete. Vereinzelt thronten in dieser einsamen Landschaft Hinkelsteine, wie riesige Zeugen der Antike. Manche von ihnen bildeten kleine Gruppen, andere formten mannshohe Unterstände, Hünengräber genannt. Einst mussten sie ruhmreichen Heerführern gewidmet worden sein, deren Namen von den vorüberziehenden Jahrhunderten verschluckt wurden. Während unserer Etappen lernte ich mehrere Mitglieder der Familie Chappot kennen. Louis stellte mir ebenfalls einige Freunde vor und wir wurden bei jedem Halt herzlich empfangen. Diese Besuche dehnten unsere Überfahrt noch weiter hinaus und nach sechs Tagesreisen begann ich, unsere Ankunft im Hause meines Mannes ungeduldig zu erwarten. Als wir auf einer Anhöhe ankamen, zügelte Louis die Pferde und wir blieben unter den kreisenden Flügeln einer Windmühle stehen. Mein Gatte zeigte mir seine Ländereien.

Von Weitem konnte man auf einem Hügel die Zinnen und das Schieferdach des Brossardière-Schlösschens ausmachen, die über die Baumspitzen ragten. Etwas weiter im Süden sah ich den Kirchturm von La Roche-sur-Yon. Wir kamen durch einen Wald, bevor der Weg abfiel und die Landschaft sich in eine teilweise bewirtschaftete Ebene weitete, die sich vor uns ausbreitete. Die Gemüsebauern grüßten von Weitem unseren Umzug. Dieser wurde immer wieder von den Launen eines Hengstfohlens zurückgehalten, welches mit einem widerspenstigen Charakter geboren zu sein schien. Ich gab ihm den Namen Achilles.

Als wir durch einen Weiler kamen, dessen wenige Häuser sich um eine Kapelle schmiegten, hielt mein Gemahl erneut an, um mit einem Pächter zu plaudern. Der Greis starrte mich neugierig an, bevor er uns willkommen hieß. Dann bat er uns um einen Moment Geduld und verschwand in seinen Gemäuern. Er kam kurz darauf mit seiner Frau zurück, die mir einen Strauß zartrosa Pfingstrosen darbot. Sie verströmten einen exquisiten Duft und ich bedankte mich überschwänglich, bevor sich unser Zug wieder langsam in Bewegung setzte. Unterwegs beglückwünschte ich Louis zu seinem herzlichen Verhältnis mit seinen Pächtern. Er gab in aller Bescheidenheit zurück, dies sei das Werk seiner Vorfahren, in deren Dienst diese Familien seit Generationen standen.

Nachdem wir ein weiteres dichtes Wäldchen durchquert hatten, stieg der Weg an und wir betraten eine lange, von alten Buchen beschatteten Allee, die uns endlich zu dem Gutshaus führte. Von seiner Anhöhe aus fiel mein Blick auf einen dunklen Weiher, in dem sich Weiden und Ulmen spiegelten. Zwischen seinem Ufer und dem Herrenhaus stand eine kleine Kapelle. Doch schon öffnete sich die schwere Haustür und die Bediensteten meines Gemahls kamen auf uns zu, um uns zu empfangen. Louis stellte sie mir vor, dann kümmerten sie sich um die Pferde und das Gepäck und ich folgte meinem Mann in den Hof, um ein Rosenbeet zu bewundern, das er rund um den Brunnen angelegt hatte. Er hob mich ohne Vorwarnung hoch und trug mich die Stufen hinauf, worauf wir die Türschwelle des Hauses überschritten, wie es bei jungen Ehepaaren der Brauch war. Ich war so glücklich in seinen Armen…

* Luzon – Luçon

* Notabeln (hist.) = Honoratioren

* Kabriolett – aus dem Französischen: leichte, einspännige Kutsche mit Lederverdeck

**Piqueur = Hengsthalter

Celeste - Gott und der König

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