Читать книгу Celeste - Gott und der König - Sabrina Kiefner - Страница 9

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II

„Ich wurde am 14. Mai 1753 in Angers geboren und getauft auf den Namen Celeste Julie Michelle Talour de la Cartrie. Das riesige Landgut, das mein Vater geerbt hatte, war sechs Meilen* von Angers entfernt. La Cartrie, früher Carterie genannt, war einer der besten Schiefersteinbrüche der Region.

Ich war das achte Kind in der Familie. Meine Schwester und Patin Julie erzählte mir sehr viel später von den dramatischen Ereignissen, die das Leben meine Eltern kurz nach meinem ersten Geburtstag geprägt hatten. Meine Mutter brachte Zwillingsschwestern zur Welt und war sehr erschöpft von deren schwieriger Geburt. Sie brauchte lange Zeit, um sich davon zu erholen. Als es ihr endlich besser ging, wäre mein Bruder fast den Pocken zum Opfer gefallen. Einer meiner Onkel verstarb kurz darauf an den Komplikation einer Blinddarmoperation, während meine kleinen Schwestern an Herzschwäche litten. Der Gedanke, dass eine weitere Tragödie unsere Familie heimsuchen könnte, nahm daraufhin von meiner Mutter Besitz.

Ihr Mädchenname war Jeanne Ollivier; sie war die Tochter eines Konsuls der Stadt Angers. Ihre allgegenwärtigen Befürchtungen blieben bestehen, was ihr das Leben keinesfalls leichter machte. Meinen Vater hörte ich oft sagen, Angst sei ein schlechter Ratgeber. Es gab zu dieser Zeit keine Arznei gegen Trübsinn und der Arzt verschrieb ihr Johanniskraut. Das Mittel linderte ihr Leiden, wirkte aber dennoch keine Wunder gegen die Angstzustände, die im Alter von vierzig Jahren an ihr nagten. Ihre Furcht schien mich genährt und abgehärtet zu haben, um mich besser auf die Tragödien, die das Schicksal mir vorbestimmt hatte, vorzubereiten. Ich würde nicht behaupten, dass ich unempfindsam war für Ängste, doch habe ich nie die Seelenqualen kennengelernt, die meine arme Mutter ausstehen musste. Ich war wie die Fohlen, die mein Vater, der königlicher Reitmeister war, aufzog, und die er geduldig auf die Zwänge vorbereitete, die sie in ihrem späteren Pferdeleben erwarteten. Er konfrontierte sie bereits im jüngsten Alter mit allem, was sie erschrecken könnte und bediente sich ihrer natürlichen Neugier, um sie ihre Furcht überwinden zu lassen. Die Offiziere der königlichen Armee rissen sich um die Pferde aus seiner Zucht. Die Tiere stammten aus normannischen Blutlinien ab und fürchteten weder Kanonenschall noch Feuergeruch. Und wie die Fohlen, die auf unseren Weiden geboren wurden, wuchs ich zu einem Wesen heran, das sich seinen Ängsten stellte, ohne sich ihnen auszuliefern.

Mein Vater, Barthélémy Talour de la Cartrie, war der Nachkomme einer langen Reihe von Rittern und Herren aus der Normandie und besaß außer seinen Ländereien und dem Vieh ein ansehnliches Vermögen. Seine Gepflogenheiten waren die eines einfachen Menschen geblieben; sein bescheidenes Dasein war den damaligen, strengen Traditionen unterworfen. Mit uns Kindern pflegte er strikt zu sein ohne jemals ungerecht zu werden, indem er jedem von uns die gleiche Aufmerksamkeit zukommen ließ. Nachdem meine Mutter zwei Brüder und zwei weitere Schwestern zur Welt gebracht hatte, stellte einen jungen Gouvernanten ein, der uns Griechisch und Latein unterrichtete und natürlich das Rechnen, sowie Völkerkunde und Geschichte. Ich hatte eine glückliche Kindheit im Kreise dieser großen Familie mit vierzehn Kindern, der es an nichts fehlte. Mein Vater stand im Dienst des Königs, er war Rechnungsrat in der Kammer der Bretagne. Wir lebten in der Stadt, verbrachten jedoch die Feiertage und Ferien auf unserem Landbesitz La Cartrie.

In meiner Erinnerung höre ich noch das Flüstern der Pappeln, die unsere weitläufigen Koppeln umgaben. Ich brauche nur die Augen zu schließen, schon tauchen meine Brüder vor meinem geistigen Auge auf, bei einem ungestümen Wettlauf inmitten der von Korn- und Mohnblumen übersähten Wiesen. Meine älteren Schwestern empfanden nicht das kleinste Vergnügen an unseren Eskapaden und gingen nur selten an die frische Luft – selbst die Reitlektionen, die der alte Stallmeister meines Vaters uns täglich erteilte, weckten kein Interesse bei ihnen.

Was mich betraf, so hätte ich den ganzen Tag bei den Pferden verbringen können – so sehr faszinierten sie mich seit diesen frühen Tagen, wenn es meine Mutter auch nur ungern sah, dass ich mit verschmutzter Kleidung und meiner vom Erntestaub ergrauten Haube nach Hause kam. Mein Vater konnte diese Leidenschaft, die ich von ihm geerbt hatte, nur zu gut verstehen. Ich verbrachte mehr Zeit mit meinen Brüdern als mit meinen großen Schwestern. Die Erstgeborene, Jeanne, war siebzehn Jahre älter als ich und kümmerte sich die meiste Zeit um die kleinsten Geschwister.

Einer meiner Brüder, den ich als Kind geradezu anhimmelte, stand mir immer sehr nahe – Toussaint-Ambroise weihte mich in sein Wissen über Pferdedressur ein. Er brachte mir auch die Pflanzenzucht näher, die er sich wiederum durch geduldiges Fragen von dem passionierten Gärtner, der unser Vater war, angeeignet hatte. Ab und zu fuhr mein Bruder ins Dorf, nach Becon-les-Granits. Auf seinen Karren hatte er einen Käfig mit zwei Brieftauben geladen. Dann warteteten wir im Taubenschlag, den mein Großvater gebaut hatte, auf die Rückkehr der Vögel mit der Ungeduld, die kleine Kinder auszeichnet. Die Tauben lieferten uns bunte Zeichnungen, die in einen Metallbehälter gerollt an ihren Krallen hingen, und manchmal gab es Streit um die winzigen Bilder. Wir bewahrten sie in Sammelheften auf, als handele es sich dabei um Heiligenreliquien.

Mein Herr Vater war ein angesehener Mann; die Pächter und Bauern der Umgebung wussten seine weise, stille Art zu schätzen. Ab und zu begleitete ich ihn auf seine Runden, zunächst auf einem Sattelkissen sitzend und als ich heranwuchs, im Seitsitz auf der Kruppe des Pferdes, wie die spanischen Frauen. Doch zuvor musste ich mir auf einem der Ponys, die ein schottischer Freund der Familie von den britischen Inseln importierte, meine Sporen verdienen. Auf seinen Koppeln standen wunderschöne Zuchtstuten zum Verkauf, die es in verschiedenen Größen gab; sie sahen geradezu aus wie Miniaturpferde. Diese Rasse galischen Geblüts wurde Welsh genannt. Unser Freund bot auch winzige, rundliche Ponys mit dicken Mähnen an, die bis dahin in unserer Gegend gänzlich unbekannt waren: die liebenswerten Tierchen entstammten den Shetland-Inseln im Norden Schottlands.

Mein Vater sagte, sie seien äußerst beliebt bei den Arbeiten in der Kohlengrube von Montrelais, was meine junge Seele in Aufruhr versetzte. Es kam nur selten vor, dass der Pferdehändler sie an Familien verkaufte, zur Freude derer Kinder. Die kleinen Vierbeiner erwiesen sich als sehr vielseitig, und wir spannten die Stuten binnen kurzem vor eine Karre, und meine Brüder führten sie stolz der Familie vor. Im Sommer ritten wir über niedere Hecken und Wassergräben. Ich lebte nur für die langen, hellen Tage auf unserem Landsitz und langweilte mich während der langen Wintermonate in unseren städtischen Gemächern, wenn ich, über Stickereien gebeugt, den Geigenlektionen meiner Schwester zuhörte.

Wenn mein Vater Marquart, unseren alten Stallmeister, losschickte, um die Kutsche anzuspannen, rannte ich glücklich in unser Zimmer, um mich umzuziehen, bevor ich mich in den Pferdestall aufmachte. Ich war kaum groß genug, um die vier Füchse striegeln zu können, aber der Geruch ihres Fells, vermischt mit dem frischen Heus, war mir lieber als all die Blumenessenzen, die meine Schwestern in winzigen Flakons auf ihren Toilettentischchen sammelten…

Reiten Sie eigentlich, Aurore?“, fragt die Erzählerin unvermittelt.

Die junge Frau blickt auf, als sie ihren Namen hört. Ganz auf ihre Notizen konzentriert, hat Aurore den Redefluss ihrer Gastgeberin in präzisen Sätzen zusammengefasst und fühlt sich ihr bereits sehr viel näher. Sie hat Verständnis für deren Vorliebe für die Natur, die Freude über einen schnellen Galopp, bei dem das von der Geschwindigkeit berauschte Herz so schnell klopft wie das des Pferdes. Sollte sie der illustren Dame gestehen, dass sie bei ihrem Reitmeister regelmäßig darauf bestanden hatte, im Herrensattel reiten zu dürfen? Irgendwann hatte der alte Herr nachgegeben und geknurrt: „Aber nur in der Reitbahn!“

Der Einzelunterricht war ihr teuer zu stehen gekommen.

Nach einer nachdenklichen Pause antwortet die junge Frau: „Nun, ich bin früher sehr viel geritten, aber ich bin weit davon entfernt, mich mit ihren Reitkünsten messen zu können. Nach dem furchtbaren Unfall meines Vaters behielt meine Großmutter nur ihr Jagdpferd und die Kutschpferde. Sie ließ mich dennoch weiterhin in die Reitkunst einweihen und ab und zu ritten wir aus.“

Von ihrem Vater bleibt Aurore nur noch eine verblichene Vorstellung, sie war erst vier Jahre alt gewesen, als er starb. Die Zeit hatte die wirklichen Erinnerungen durch Portraits und Erzählungen ihrer Nächsten ersetzt. Die Erwachsenen hatten in den Himmel aufgesehen, wenn sie von ihm sprachen und Aurore hatte ganze Stunden ihrer Kindheit damit zugebracht, die Wolken anzustarren, um eine Spur dieses ständig abwesenden Vaters zu erblicken.

„Natürlich beherrschen Sie das Reiten“, erwidert Céleste. „Ah, Ihre Großmutter…wie konnte ich Marie-Aurore nur vergessen? Sie brennen sicher darauf, mehr über sie zu erfahren, Mademoiselle. Verzeihen Sie mir bitte, wenn ich Ihre Geduld weiterhin strapaziere. Ich habe meine Notizen vorbereitet und würde gerne dem roten Faden meiner Geschichte folgen, die sich darauf beschränkt – das verspreche ich Ihnen – einige Szenen aus meinem langen Leben unter die Lupe zu nehmen. Ich bin mir im Klaren darüber, dass es zu viel zu sagen gibt, um Ihnen weiterhin von meiner Kindheit zu erzählen. Es war mir wichtig, Ihnen eine Skizze meiner Herkunft anzufertigen. Sie könnte Ihnen helfen, ein Portrait zu erstellen, das Ihren Dienstherrn überzeugen wird, meine Biographie zu veröffentlichen. Sie wird nicht nach jedermanns Geschmack sein; nichtsdestotrotz wünsche ich, dass sie erzählt wird. Es geht mir dabei weniger um mich selbst, ich bin mir längst nicht so wichtig, wie es vielleicht den Anschein erregt! Ich werde bald friedlich sterben, jedenfalls habe ich alle Chancen, darauf zu hoffen. Sehr viel wichtiger sind mir meine Freunde, die fast alle auf dem Schlachtfeld gefallen sind; meine Memoiren sind ihrem Andenken gewidmet. Es ist für mich unwesentlich, welche Meinung die Nachwelt über mich hat, wenn ich nicht mehr da bin. Ich möchte für ein misshandeltes Volk plädieren, das in einem hoffnungslosen Kampf gegen die Neuerungen seiner Epoche unterlag. Ich denke, es ist noch lange nicht genügend Tinte geflossen über die mutigen Partisanen der Vendee, die in ihrer wenn auch etwas rüpelhaften Eigenart oberflächliche Höflichkeiten durch Offenheit und Großzügigkeit ersetzen, wie sie nur den Menschen eigen sind, denen das Herz an der rechten Stelle sitzt. Es ist ein stolzes und würdiges Volk, das seine tausend Jahre alten Traditionen beibehalten wollte..“

„Es tut mir leid, wenn ich Sie unterbrechen muss, fügt Aurore ein, aber mein Tintenfass ist leer.“

Celeste zeigt auf einen Sekretär aus Ebenholz am Fenster ihres Schlafzimmers: „Würden Sie die Güte haben, das Fässchen zu holen, das auf meinem Schreibtisch steht?“

Die alte Frau zieht an der Glocke für die Hausangestellte und fügt hinzu: „Ich werde Agnès bitten, uns Tee zu kochen. Sie muss in der Küche zu tun haben.“

Aurore setzt sich wieder zu ihrer Gastgeberin, die sich erkundigt: „Gelingt es Ihnen denn, der Erzählung zu folgen und gleichzeitig Notizen zu machen?“

„Jawohl, Madame, ähm, Verzeihung, Celeste“, antwortet Aurore, „ich habe ihren Sätzen so gut wie nichts hinzuzufügen, sie scheinen mir klar und präzise. Ich befürchte fast, Ihnen Ihr Werk zu stehlen! Ich werde den Text später überarbeiten, um ihn auf Unstimmigkeiten zu überprüfen. Es genügt manchmal, die Reihenfolge von Sätzen oder Abschnitten zu vertauschen, damit der Leser sie besser verstehen kann; ich werde alle Veränderungen notieren.“

„Sie sind wirklich eine rare Perle, meine Liebe, M. Latouche hatte Recht, auch wenn ich Ihnen seine Komplimente nicht verraten sollte!“

Aurore fühlt sich geschmeichelt vom Lob ihres griesgrämigen Direktors. Ihre Bewunderung für den Verleger grenzt an einen Kult. Celeste fährt fort : „Es gibt eine andere Sache, die mir nennenswert erscheint, bevor wir mit der Arbeit fortfahren. Mein lieber Gemahl hat mir aufgetragen, Sie zu grüßen. Ich soll Ihnen ausrichten, dass er sich schon im voraus dafür bedankt, dass Sie sich diesem Projekt widmen, dessen Auslöser er übrigens war. Er begab sich letzte Woche auf eine Wasserkur in die Alpen. Es gibt ein paar Feinheiten in meinen Memoiren, die meinen Gatten verstören könnten. Deshalb wünsche ich, dass meine Geschichte nicht vor meinem Tod herausgegeben wird. Ich versichere Ihnen, dass dieser mir unmittelbar bevorsteht, mein Arzt bestätigt dies übrigens.“

Aurore hat ihre Feder beiseite gelegt und hört aufmerksam zu, ihre Hände ruhen auf den Falten ihres langen, dunkelblauen Rocks.

„Hören Sie, meine Teure, ich muss Ihnen ein Geständnis machen“, fährt Celeste zögernd fort, indem sie ihre Gesprächspartnerin, neugierig auf deren Reaktion, beobachtet. „Ich habe bei meiner Hochzeit den Behörden – und meinem Mann – mein wirkliches Alter verschwiegen. Das ist fast dreißig Jahre her!“ Die zwei Frauen tauschen ein komplizenhaftes Lächeln aus, bevor die ehemalige Kriegerin weiter ausführt: „Ich werde sicherlich in meiner Erzählung darauf zurückkommen. Sie werden leicht verstehen, wie heikel es wäre, wenn mein Gemahl mein tatsächliches Alter und andere Neuigkeiten dieser Art in der neuesten Ausgabe des Figaros erfahren würde!“

Celeste bricht in ansteckendes Gelächter aus, bevor sie fortfährt: „Mein Mann war erst dreiunddreißig Jahre alt, als er um meine Hand anhielt, ich aber stand kurz vor meinem fünfzigsten Lebensjahr. Ich sah wohl sehr viel jünger aus, was alle bestätigten, also war ich so kokett, ihm einige Jahre zu unterschlagen. Das war nicht die größte meiner Sünden, die der Herr, so hoffe ich, mir in seiner Güte vergeben wird. Das ist der Grund, warum ich nicht möchte, dass meine Lebensgeschichte vor meinem Tode an die Öffentlichkeit kommt.“ Sie seufzt und fügt hinzu: „Aurore, versprechen Sie mir, darauf zu achten, dass diese zweite Klausel des Vertrags mit M. Latouche eingehalten wird. Denn es gibt noch weitere Einzelheiten, die mein Gatte nicht kennt. Wenn ich einmal nicht mehr auf der Welt bin, wird er meine Entscheidung verstehen, davon bin ich überzeugt. Manche Tatsachen zu verschweigen, die nicht von besonderer Bedeutung sind, ist meiner Meinung nach weniger schlimm als eine Lüge. Möge man den Betrug an meinem Gatten verurteilen; was geschehen ist, ist geschehen und ich stehe dazu, doch möchte ich lieber zur Stunde der Wahrheit abwesend sein, verstehen Sie? Ich hoffe, er wird mir verzeihen. François ist ein guter Ehemann – der Beste, den eine Frau sich wünschen kann, auch wenn wir nur selten einig sind, was politische Fragen angeht. Ich denke, unsere angeregten Diskussionen beleben und unterhalten unsere Liebe, denn jeder respektiert die Meinung des Anderen. Wissen Sie, in unserem Alter beschränken sich die Vergnügungen des Ehelebens in erster Linie darauf, sich gemeinsam an einem guten Essen zu erfreuen, einige Zärtlichkeiten auszutauschen und sich die Langeweile am Kartentisch oder beim Schachspiel zu vertreiben!“

Die beiden Frauen lachen noch, als die Bedienstete anklopft, um Tee zu servieren.

* * *

Nach einer kurzen Pause erzählt Celeste weiter: „Der heitere Himmel meiner Kindheit verdüsterte sich, als Toussaint zur Armee ging; mein geliebter Bruder war erst elfeinhalb Jahre alt. Ich zeigte mich erstmals aufständisch und protestierte lautstark, doch letztendlich stieg er mit bleierner Miene in die Kutsche. Ich hatte gesehen, wie er sich eine Träne abwischte, als er sich von mir verabschiedete und versicherte ihm, dass er mein Lieblingsbruder bleiben würde, was auch immer geschehen möge. Dann sah ich dem Wagen nach, der durch die lange, von Buchenhecken gesäumten Allee fuhr und hob meine kleine Hand. Ich war vier Jahre alt.

Toussaint war kaum abgereist, als wir vom Tod meines ältesten Bruders erfuhren. Nachdem er ein schweres Erdbeben in Portugal überlebt hatte, wo sein Regiment an Land gegangen war, nahm er an den ersten Seeschlachten des siebenjährigen Krieges teil. Die Schlacht von Menorca war einer der wenigen französischen Angriffe, die von Erfolg gekrönt waren. Zu dieser Seite war die britische Vorherrschaft auf See längst kein Geheimnis mehr. Die Offiziere der französischen Marine kannten die Gründe dieses Umstands: die Reichweite ihrer Kanonen war den unseren überlegen, und der Rumpf ihrer Schiffe war mit Kupfer beschlagen, wodurch sie sich bei Seeschlachten besser verteidigen konnten. Um diesen Nachteil auszugleichen und der britischen Übermacht zu widerstehen, war Bravour und Heldentum gefragt. Die königliche Marine Frankreichs siegte gegen die perfiden Briten, doch meinen Bruder, der als junger Kapitän in einer Einheit an Land kämpfte, kostete es sein Leben. Es geschah am Vortag seines zwanzigsten Geburtstages. Meine Eltern waren zutiefst erbittert über den schweren Schickschalsschlag.

Einige Wochen später kamen meine älteren Brüder zu Besuch auf La Cartrie, sie waren beurlaubt und ihre Anwesenheit tat der ganzen Familie gut. Als ich sie mit ihren Schwertern üben sah, bat ich sie darum, mich in die Kunst des Fechtens einzuführen. Meine Brüder hatten viel Spaß daran, mir die majestätischen Gesten näherzubringen, die ich inbrünstig imitierte.

Nun können sie kommen, die Engländer! Ich löste großes Gelächter aus in meinem kindlichen Überschwang. Die damals erlernten Handgriffe brachte ich später meinen kleinen Brüdern bei.

Toussaint war dem Beispiel seiner älteren Brüder gefolgt, die bereits Unteroffiziere des königlichen Heeres waren. Er hatte sich dem Regiment von Berry verpflichtet und ging kurz darauf nach Übersee, um dort Neufrankreich zu verteidigen. Meine Eltern begleiteten ihn mit meinen Schwestern nach Brest, wo sein Schiff im Hafen lag. Mein Bruder war stolz darauf, im Unabhängigkeitskrieg Amerikas mitzukämpfen, doch meine Mutter zählte die vielen Gefahren auf, die auf die Seefahrer lauerten. Meine kleinen Brüder und ich blieben zu Hause, unter dem achtsamen Auge meine Amme, Anne Lemanceau. Sie wurde von allen Lacoudre genannt; so hieß der Bach, der durch unsere dicht bewaldeten Ländereien floss. Eines Tages erklärte sie mir den Ursprung ihres seltsamen Spitznamens in ihrem lustigen Dialekt, den meine Eltern vergeblich versuchten, zu korrigieren: „Ich bin in den Boch gefollen, als ich kleen war. Die Leute sogten, ich sei nur durch ein Wunder mit dem Leben davongekommen. Aber wir onderen, wir wussten, dass das Wosser an dieser Stelle nüch sehr tief war.“ Ihr Lachen riss alle mit. Ihre Mutter hatte ihr ganzes Leben im Dienst der Talour gestanden, nachdem sie im Alter von elf Jahren aus ihrer Familie gerissen worden war. Die Witwe lebte damals noch; sie war eine Frau von starkem Charakter, streng gläubig und viel strikter als ihre Tochter. Diese hatte mich ins Herz geschlossen und gab häufig nach, wenn ich sie drängte, im Freien spielen zu dürfen. Lacoudre fand, dass Bewegung an der frischen Luft kleinen Mädchen gut tue.

Auf der Rückkreise von Brest hatte mein Vater einen furchtbaren Unfall. Als er an einer Kreuzung angehalten hatte, um eine Viehherde den Weg überqueren zu lassen, kam von hinten eine Kutsche im Galopp angeschossen. Die zwei viel zu jungen Zugpferde waren in Panik geraten und ihrem Meister gelang es nicht, sie anzuhalten. Die enge Landstraße bot keinen Ausweg: zu ihrer Linken verlief ein reißender Fluss, die andere Seite war von hohem, dichtem Gebüsch begrenzt. Der Aufprall war fürchterlich! Meine Schwestern, die auf der hinteren Bank saßen, wurden dabei geradezu zerquetscht. Mein Vater zog sich nur leichte Verletzungen zu, doch das Unglück brach ihm das Herz. Er hat es sich nie verziehen, meine Schwestern auf die Reise nach Brest mitgenommen zu haben.

* * *

Während der Krieg in Europa nach den Eroberungen Friedrichs des Zweiten intensiver wurde, kam es wiederholt zu Kämpfen in Deutschland. Meine Eltern erfuhren vom Desaster der Mindener Schlacht, die der französischen Armee eine große Anzahl ihrer besten Offiziere raubte. Unter ihnen fielen meine zwei Brüder für unser Königreich. Die Nachricht traf meine Eltern wie eine Kugel mitten ins Herz. Mein Vater schickte die Medaillen an den General zurück und schrieb ihm, dass er ein Andenken seiner geliebten Söhne bevorzugt hätte, um ihre Mutter damit zu trösten – und sei es nur eine einzige Haarsträhne! Maman war in Ohnmacht gefallen, als sie die ungeheuerliche Nachricht erhielt. Sie konnte ihren Gram niemals überwinden, ihre drei jungen Offiziere nicht nach Hause zurückkehren zu sehen. Selbst der geringe Trost, ihre Söhne begraben zu dürfen, blieb ihr versagt. Und noch vor Ende dieses vermaledeiten Jahres traf es meine Zwillingsschwestern, die von Geburt an sehr gebrechlich geblieben waren. Sie erlagen ihrer Herzschwäche, die Eine nach der Anderen. Mein Vater war untröstlich. Er schrieb an Toussaint, um ihm die traurigen Neuigkeiten zu überbringen und bat ihn, die Armee zu verlassen und nach Hause zurückzukehren, wo ihn eine beträchtliche Erbschaft erwartete. Doch der Brief konnte nie zugestellt werden: sein Schiff war bereits ausgelaufen und fuhr unter vollen Segeln, Kurs auf La Rochelle, wo es an einem nebligen Wintertag im Januar eintraf. Die Nachrichten waren in den Armeen des Königs schneller unterwegs als bei den Postmeistern des Anjou*.

War das eine Freude, meinen Bruder wiederzusehen! Mein Vater hatte mir erlaubt, nach La Rochelle mitzukommen, um Toussaint abzuholen und ich war stolz und glücklich mit meinen sieben Jahren. Wir nahmen eine Brieftaube mit, die wir im Hafen von La Rochelle fliegen ließen, als mein Bruder ankam. Der Vogel hielt auf ein Fischerboot zu und schnappte sich eine Sardine. Toussaint lachte, aber letztendlich kam die Taube lange vor uns an und machte meine Brüder auf unsere baldige Rückkehr aufmerksam. Ich verstand nur wenige der Einzelheiten, die Toussaint aus Neufrankreich mitbrachte, das inzwischen für das Vaterland verloren war.

Im Wagen zog mein Bruder seine weißen Handschuhe aus und nahm meine Hand, die er lange in seiner behielt. In seiner schmucken Ausgangsuniform war Toussaint mir zunächst fremd gewesen. Erst jetzt wurde mir klar, dass ein Mann aus ihm geworden war. Mein Vater hörte seinen Erzählungen aufmerksam zu und bat ihn erneut, seine militärische Funktion aufzugeben. Er versprach, meinem Bruder weitreichende Verantwortung in der Verwaltung unserer Domäne zu übertragen. Unsere Ländereien hatten sich erheblich vergrößert. Mein Vater, der dem Reiz der Spekulation niemals nachgab, meisterte seine Pachtgeschäfte mit so viel Geschick, dass er beträchtliche Reichtümer angesammelt hatte. Ich werde mich immer an meinen zehnten Geburtstag erinnern, an welchem mein Bruder seinen Beschluss verkündete, seine Offizierskarriere zu beenden. Er hatte ganz andere Gründe als die, die meinen Vater dazu bewogen hatten, ihn von seiner militärischen Laufbahn abzubringen. Toussaint war verliebt!

Die Glücklichste von allen war ich. Ich war über unsere schottischen Ponys herausgewachsen und mein Vater hatte einen Damensattel bei einem Sattler in Saumur in Auftrag gegeben, den er für ein cremefarbenes Pony anfertigen ließ; mein erstes eigenes Pferdchen. Der zauberhafte Wallach hatte einen kleinen, ausdrucksvollen Kopf, der den konkaven Profilen der aus Afrika stammenden Vollblutaraber ähnelte, die ich in meinem Buch über Pferderassen bewundert hatte.

„Du wächst so schnell zu einer jungen Dame heran, Celeste. Aber ein junges Mädchen aus gutem Hause zeigt sich nie im Herrensitz. Alles Gute zum Geburtstag!“

Mit diesen Worten zog mein Vater ein hellrotes Seidentuch von einem kostbaren Damensattel.

Seine Sitzfläche und die Hörner* waren mit Hirschleder überzogen, einem edlen Material, das der Reiterin guten Halt bot. Das Sattelblatt der rechten Seite, das den Blicken ausgesetzt war, war mit Blumenornamenten bestickt worden und enthielt ein kleines Taschentuchetui aus Leder. Der Sattel roch wunderbar nach Leder und Sattelöl, doch sein Duft störte meine Mutter so sehr, dass sie sich beklagte und dem Diener auftrug, das gute Stück in die Sattelkammer zu bringen. Ich stand immer noch sprachlos davor und bedankte mich euphorisch, unter Freudentränen.

Ich hatte zunächst Schwierigkeiten, das Gleichgewicht in dieser neuen, ungewohnten Haltung zu finden. Dank unseres erfahrenen Reitmeisters, Marquart, gewöhnte ich mich jedoch schnell an die neue Sitzweise und lernte weitere Dressurlektionen. Mein Pony stand hoch im Blut und beherrschte bereits Pirouetten. Der alte Marquart hatte mir das Aufsitzen erleichtert, indem er ihm den Kniefall gezeigt hatte – eine Zirkuslektion, bei der sich der Wallach in einer Art Knicks auf ein Kniegelenk stützte und das andere Bein ausstreckte, sodass ich bequem in den Sattel steigen konnte. Schon bald würde Sultan in die Kunstsprünge eingeführt werden!

Ich war noch keine elf Jahre alt, als am 14. Februar 1764 ein gewisser René Sapinaud de Bois-Huguet meine Schwester Jeanne zur Frau nahm. Er stammte aus einer ritterlichen Offiziersfamilie, der im späteren Bürgerkrieg eine wichtige Rolle zukam. Die Hochzeit fand auf der Cartrie statt und über zweihundert Gäste waren zu dem glücklichen Ereignis eingeladen. Der Herzog der Bretagne erwies unserem bescheidenen Landgut die Ehre seiner

Anwesenheit. Meine große Schwester sah märchenhaft aus mit ihren blonden, um die Stirn gelegten Zöpfen. Der Schleier ihres wunderschönen Kleids wurde von zwei kleinen Mädchen getragen, während sie würdig am Arm meines Vaters durch den Kirchgang schritt. Meine Mutter war in Tränen ausgebrochen – dabei war es sie selbst gewesen, die darauf bestanden hatte, ihre Erstgeborene mit M. de Sapinaud zu verheiraten. Die Welt der Erwachsenen schien mir oft unbegreiflich, doch die Festlichkeiten waren faszinierend…bis zu dem Moment, an dem Jeanne in die Hochzeitskutsche stieg: erst dann begriff ich plötzlich, dass meine Schwester unser Elternhaus für immer verlassen würde, um sich im Schloss meines Schwagers einzurichten. Da war ich diejenige, die Tränen in den Augen hatte.

Ich sah meine Schwester Jeanne im folgenden Jahr wieder, zur Taufe ihrer Tochter, Charlotte. Das winzige Kind war in weiße Spitze gewickelt, nur der kleine rote Kopf, der von einem blonden Flaum überzogen war, lugte hervor. Das Mädchen schrie aus vollen Kräften während der kirchlichen Zeremonie. Ein großartiger Empfang erwartete uns anschließend: Jeannes Familie lebte in einem prachtvollen Schloss, das Barbinière genannt wurde.

Toussaint nahm mich manchmal mit auf seine Ausritte: er auf seinem stolzen Jagdpferd, ich im Damensattel meines schönen Sultans. Wir ritten durch die Alleen bis zur Burg von Landeronde, die etwa eine Stunde entfernt war. Es war meine bevorzugte Runde, die uns in die Frische des Unterholz führte, wo uns im Galopp Zweige das Gesicht peitschten und mir ein begeistertes Kichern und seltener einen kleinen Aufschrei entlockten. Auf einem dieser langen Ritte bat ich meinen Bruder, seine Feuerwaffen ausprobieren zu dürfen, was er mir versprach. Er ließ mich bis zu meinem zwölften Lebensjahr warten, bis er endlich meinen wiederholten Bitten nachkam. Toussaint erklärte mir die erstaunliche Technik der Musketen und wies darauf hin, was ich beim Abfeuern zu beachten hatte. War ich nicht damals schon in meinen geheimsten Träumen eine Kriegerin im Damensattel, aufgebracht gegen den Krieg, der meine Brüder verschluckt hatte?

Mein Vater wünschte zu dieser Zeit, dass Toussaint eine gewisse Mlle de l'Etoile heirate, eine äußerst reiche Kousine, die er adoptiert hatte nachdem sie beide Eltern verloren hatte. Allerdings war mein Bruder einem anderen Mädchen zugetan: Mlle de Turpin war die bildhübsche und lebenslustige Enkelin des Marschalls von Loewendahl. Meine Eltern fügten sich Toussaints Plänen und schon bald feierten wir die Verlobung mit seiner Auserwählten. Mein Bruder machte einen so glücklichen Eindruck und ich freute mich für ihn. Doch am Abend des Verlobungsfestes, als wir gerade bei Tisch über die Hochzeitsvorbereitungen sprachen, entschuldigte zog sich Mlle de Turpin und zog sich kreidebleich zurück. Die junge Verlobte blieb daraufhin mehrere Tage auf ihrem Zimmer, vom Fieber geschüttelt, bis sie schließlich nach einer Woche ihrer Krankheit, den Pocken, erlag. Mein Bruder war von seinem Unglück überwältigt. Erst nach langer Trauerzeit begann er, über die vom Vater vorgeschlagene Braut nachzudenken, und hielt schließlich um ihre Hand an. Das junge Paar gab sich 1768 das Jawort und Toussaint übernahm die bedeutende Lehnsherrschaft des Grafen von Villenière, im Westen Angers, in dessen Schloss ihn große Aufgaben erwarteten.

* * *

Die vielen leeren Zimmer in unserem Haus machten mir manchmal das Herz schwer, doch wie jedermann weiß ist kindliche Traurigkeit gewöhnlich nicht von langer Dauer. Die Vormittage waren dem Katechismus und unserem Hauslehrer gewidmet. Nach dem Essen gingen wir zu Marquart in den Pferdestall, der aus uns ausgesprochen gute Reiter machte und sein Wissen großzügig mit uns teilte. Sehr viel seltener begleitete ich meinen Bruder, der mit einem Stallburschen Freundschaft geschlossen hatte, zum Frösche fangen, zu Mamans Verzweiflung!

Einige Jahre später feierten wir die Verlobung meiner zweiten Schwester. Marie-Adelaide wurde dem renommierten Ritter des königlichen Ordens Saint-Louis mit dem klangvollen Namen Hercule de la Grandière versprochen. Bei der grandiosen Feier ordnete meine Mutter an, drei leere Plätze im Gedenken an meine verstorbenen Brüder zu bewahren. Mein Vater sprach sich zunächst gegen diese Idee aus, doch dann gab er seiner kranken Frau nach. Sie führte weiterhin ein zurückgezogenes Leben und es gelang ihr niemals, das Kapitel ihrer verlorenen Kinder abzuschließen. Sie verschwand oft stundenlang im Zimmer der Jungen, in dem nichts verändert worden war und betete den Rosenkranz im Schein der Kerzen. Mit fünfundfünfzig Jahren bot Maman das Bild eines erschöpften Menschen; ihre Gesundheit war äußerst zerbrechlich und unsere Amme, Lacoudre, verbrachte mehr Zeit mit uns als sie selbst.

* * *

Das nächste Jahr war für mich von einer unvergesslichen Erfahrung geprägt. Ich ritt meine erste Jagd, die von einem Freund meines Vaters organsiert wurde: Jean-Nicolas Dufort, der zukünftige Comte de Cheverny. Was für ein Abenteuer! Mehr als dreihundert Pferde ließen den Boden erbeben, angeführt von einer zahlreichen Meute Jagdhunde. Im Galopp rief mein Vater mir zu: „Ich habe der Weisheit schon immer die Tollheit der Leidenschaft vorgezogen!“ Ich konnte nur ein engelhaftes Lächeln darauf erwidern, denn mir fehlten die Worte. Schon bald würde ich seine Parole zu meiner Devise machen.

Das Schloss von Cheverny wurde zu dieser Zeit von seinem neuen Eigentümer restauriert. M. Dufort ließ einen wunderschönen Park entwerfen, den es noch immer gibt. Ich entdeckte mit größter Neugier die unbekannte, faszinierende Welt der Jagd. Die Sankt-Huberts-Messe, die Segnung der Reiter und Pferde, die heulende Hundemeute und die bezaubernden Kleider der Reiterinnen. Man konnte die diversen Jagdgesellschaften an den Farben ihrer Jacken erkennen, die Reiter bliesen in ihre blitzenden Jagdhörner und mein Vater lächelte mir zu. Es gab so viele Details zu bestaunen und ich ließ mich, geradezu berauscht vor Glück, bereitwillig von der verrückten, wilden Stimmung der Jagd mitreißen.

Mein Pony folgte brav den anderen Pferden und sprang mit Leichtigkeit über Hecken und Bachläufe. In ein hellbraunes Kleid aus englischer Wolle gekleidet, galoppierte ich vor meinem Vater her, der mich nicht aus den Augen ließ. Am Abend aßen wir Wildschweinbraten und Perlhühner und unser Gastgeber machte mir Komplimente über die Geschicklichkeit, mit der ich der Treibjagd gefolgt war. Diese Augenblicke brannten sich in meine Erinnerung ein wie die schönsten Tage meiner Kindheit. Wir blieben vier Tage vor Ort, bevor wir uns auf den Rückweg entlang der Loire machten.

Mein Charakter festigte sich mit dem Kontakt zu den Pferden, die Zweiflern kein Vertrauen schenkten. Marquart sagte immer, dass sich Pferde nur dem Reiter unterwerfen, der sie mit klaren Befehlen und einfachen Hilfen führt. Die Jahre vergingen wie im Flug und ich hatte die Gelegenheit, das romantische Schloss am Ufer der Loire in seinem neuen Glanz wiederzusehen. Es lag auf dem Weg unserer Reise nach Paris: in Begleitung des Herzogs von Cheverny nahm mich mein Vater mit auf die Hochzeit des zukünftigen Königs Ludwig XVI mit einer gewissen Marie-Antoinette. Es war eine unerwartete Gelegenheit, denn ich war das einzige Kind, das dieses Abenteuer erleben durfte. Meine Mutter hatte es nicht gewagt, sich auf diese lange Fahrt zu begeben. Mein Bruder Alexandre war in ein Kloster eingetreten; unser Nesthäkchen hatte sich indessen im Heer des Königs engagiert.

Wir feierten meinen siebzehnten Geburtstag auf der Fahrt und der Freund meines Vaters empfing mich diesmal mit mehr Galanterie. Er bemerkte, dass meine Schönheit die Eifersucht der Kurtisanen des Königs auf sich ziehen könnte! Auf diese charmante Anspielung hin färbte sich mein Antlitz purpurfarben und ich verbarg es, indem ich durch die Fenster der Kutsche auf die Wiesen sah. Mein Vater spürte, dass ich peinlich berührt worden war und brachte das Gespräch schnell auf andere Themen. Die Festivitäten am Hof von Versailles waren von unbeschreiblichem Reichtum. Es war uns nicht gelungen, die Kapelle zu betreten, die viel zu klein war für die vielen Menschen, die herbeigeströmt waren, um an der Feier teilzunehmen. Von weitem sah ich den Erzbischof von Reims, aber wir mussten bis zum Ende der Zeremonie warten, um endlich einen Blick auf die zukünftige Königin Frankreichs werfen zu dürfen, die ein herrliches Kleid aus silbernem, mit Diamanten besetzten Stoff trug. Mein Vater teilte mir mit, dass die Kronprinzessin des Habsburger Königshauses erst vierzehn Jahre alt war. Ich erfuhr, dass sie vom Hof Österreichs in einem ganzen Menschenzug mit vierhundert Pferden angereist war. Sie würde für den Frieden in Europa bürgen und unsere beiden Länder miteinander verbinden, die dadurch besser gegen die Allianzen des Nordens gefeit wären.

Doch die Kronprinzessin machte einen so jungen und zerbrechlichen Eindruck! Seine Majestät, der Enkel des Königs, schien mir ebenfalls sehr unerfahren, um bald an der Spitze unseres geliebten Landes zu stehen. Er war genau ein Jahr jünger als ich. Wir verfolgten den Empfang der Botschafter, um uns danach zum berühmten Spiegelsaal zu begeben, der von tausend Lichtern erhellt war. Dort wurden die Spiele des Königs gegeben. Ich beobachtete durch die riesigen Fenster das Kommen und Gehen in den prächtigen Gärten, in denen wunderschöne Wasserspiele sprudelten. Da ich nicht sehr hochgewachsen war, konnte ich hinter den vielen aufgeputzten Menschen, die sich um das herrschaftliche Paar drangen, nichts sehen. Man hatte ein Feuerwerk am späten Nachmittag angekündigt, doch plötzlich färbte sich der Himmel grau und bedrohliche, schwarze Wolken zogen auf. Donnerschläge übertönten das Orchester und ein Wolkenbruch ergoss sich über die riesigen Menschenmengen im Park, die bis auf die Knochen genässt wurden und durch das Tosen des Unwetters hörte man kaum die Durchsage, dass das Feuerwerk unter diesen Umständen abgesagt werden musste.

Ein Besuch der kurz zuvor fertiggestellten, königlichen Oper sollte uns für das verpasste Spektakel entschädigen. Ich war indessen enttäuscht: mein erstes Feuerwerk war buchstäblich ins Wasser gefallen. Dank der guten Beziehungen unseres noblen Freundes hatten wir die Ehre, von einer Loge aus das Hochzeitsmahl beobachten zu dürfen. Die Familien des Königspaars waren hier vereinigt und ich bewunderte die kunstvoll angerichteten Speisen, die bunten Blumendekorationen auf den Tischen und die blitzenden Instrumente der Musiker. Meine Augen glänzten vor Faszination von den Kleidern der reich geschmückten Damen und den vielen herrlichen Eindrücken.

Zahlreiche Besucher drängten sich darum, das junge Hochzeitspaar in die königlichen Schlafgemächer zu begleiten, doch mein Vater wollte bei der traditionellen Überprüfung der Bettlaken, die er als peinlich empfand, nicht teilnehmen. Wir zogen uns in das Herrenhaus zurück, in dem wir die Gastfreundschaft eines Verwandten genossen. Bereits am nächsten Morgen verabschiedeten wir uns von unserem Gastgeber, um uns auf die lange Strecke nach Hause zu begeben, während der Herzog von Cheverny vor Ort verweilte, um die weiteren Festivitäten zu verfolgen, die sich bis Ende Mai hinzogen. Bei seinem Besuch im folgenden Sommer erzählte er von dem traurigen Zwischenfall, der sich am Ende der Feiern abspielte. Das Feuerwerk auf dem Platz der Concorde, das den Höhepunkt der Festivitäten darstellte, war zu einer Katastrophe ausgeartet: eine Explosion hatte den Holzturm in Brand gesetzt, in dem die Sprengmeister arbeiteten. Das Volk, das sich auf dem riesigen Platz tummelte, geriet außer Kontrolle und die panische Raserei der Massen verursachte eine hohe Anzahl von Opfern: über hundert Menschen wurden in dem Gedränge zerquetscht! Dies war der verhängnisvolle Auftakt einer tragischen Herrschaft!

* Meile, Fußmeile, Reise- oder Wegstunde: im Gegensatz zur englischen Meile etwa 4 km

* Anjou - die Gegend um Angers

* Hörner: Gabelförmige Vorrichtung an der Vorderseite des Damensattels, in der das rechte Bein der Reiterin ruht

Celeste - Gott und der König

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