Читать книгу Celeste - Gott und der König - Sabrina Kiefner - Страница 12
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Im Gutshaus Brossardière begannen meine schönsten Jahre mit einem Ehemann, der mich auf Händen trug. Meine Schwiegerfamilie nahm mich herzlich auf und lud uns zu diversen Empfängen ein, um unser junges Glück mit uns zu feiern. Jeanne stattete uns einen Besuch mit ihren drei Kindern ab. Einige Mitglieder von Louis' Familie kannte sie bereits, denn das Schloss meiner Schwester war nur fünfzehn Meilen entfernt. Im weiten Freundeskreis meines Mannes machte ich Bekanntschaft mit diversen Notabeln aus der Umgebung. Die meisten seiner Kameraden teilten unsere Vorliebe für Pferdezucht und natürlich die Jagd. Mein Gemahl hatte eine zahlreiche Equipage, an unseren Treibjagden nahmen nicht selten über hundert Jäger teil. Die Pferde, die auf unserem herrschaftlichen Hof geboren wurden, hatten einen soliden Knochenbau und viel Ausdauer; man sah ihnen ihre normännische Abstammung an. Louis verbrachte viel Zeit mit den Fohlen, die er mit den gleichen Prinzipien aufzog, wie es mein Vater getan hatte. Natürlich hatte mein Mann auch seine Schattenseiten wie alle Menschen, die er jedoch durch seine konstante Stimmung, Optimismus und seine Weltoffenheit ausglich.
Unsere junges Glück wurde schon bald durch die Geburt meiner Tochter Aminte bereichert, am 31. März 1781. Meine Großmutter, väterlicherseits, machte mir die Ehre, die Patenschaft zu übernehmen, trotz ihres beträchtlichen Alters, das sie nicht mehr genau angeben konnte. Toussaint wurde ebenfalls Pate des Kindes; er war inzwischen zum Landvogt der Ländereien Villenière, Goubrie und Droère aufgestiegen und zum Ritter geschlagen worden. Er hatte seine Familie zur Taufe mitgebracht: sein ältester Sohn hieß Guy und war bereits elf Jahre alt, der Jüngste, René, wurde erst fünf. Louis und mein Bruder schlossen Freundschaft.
Ich begleitete meinen Mann häufig auf Reisen, sei es, um unsere Familien zu besuchen oder um uns in Nantes oder Paris vom Alltag abzulenken. Im folgenden Jahr tröstete mich mein Gemahl über den Verkauf unseres Elternhauses hinweg, als mein Bruder Jean-Barthélémy den Besitz der Cartrie auf die äußerst wohlhabende Witwe des Fürsten von Meaulne übertrug. Mein Gatte war ein zuvorkommender Vater und wir führten eine glückliche Ehe, sogar eine sehr glückliche, bis zu dem fatalen Morgen, der mein Leben schlagartig veränderte. Aminte war um fünf Uhr nachts aufgewacht, was sehr eigenartig war. Im Alter von vier Jahren hatte sie sonst einen durchaus gesunden Schlaf. Die Schreie meiner Tochter beunruhigten mich, und ich stand auf, um nach ihr zu sehen. Ihr Bett stand im Vorzimmer, in welchem auch Lacoudre und eine junge Amme schliefen. Noch bevor ich an deren Türe klopfen konnte, öffnete mir meine Zofe mit bleicher Miene : „Verzeihung, meine Herrin, Ihre Tochter atmet schlecht – ich weiß nicht, aus welchem Grund. Kommen Sie schnell!“
Aminte streckte ihre Händchen nach mir aus. Als ich sie in den Arm nahm, ließen Ihre Schreie nach, doch sie weinte noch immer und ich spürte ihren rasenden Herzschlag. Sie war sehr aufgeregt und bekam kaum Luft. Ich wiegte meine Tochter sachte und sprach ihr ruhig zu, um sie zu beruhigen: „Es war nur ein Alptraum, mein Schatz.“
Als ich ein Wiegenlied sang, wurde ihr Atem regelmäßiger und schließlich schloss sie die Augen und wir legten uns wieder schlafen. Nachdem ich leise die Türe zu unserem Schlafzimmer geschlossen hatte, wunderte ich mich – ich kann mich noch genau daran erinnern – dass Louis nicht aufgewacht war. Im milden Licht des Kandelabers beugte ich mich über ihn und flüsterte ihm leise Worte zu, bis ich plötzlich innehielt: sein Gesicht war leichenblass. Ungläubig und entsetzt begriff ich, dass alle Hilfe zu spät kommen würde und wollte schreien, doch meine trockene Kehle brachte nicht den kleinsten Laut zustande. Ein Hoffnungsschimmer wallte in mir auf und ich näherte meine Hand seinem Antlitz. Noch bevor ich ihn berührte, spürte ich die Kälte seiner Haut. Ich warf mich kreischend auf meinen toten Ehemann und verlor das Bewusstsein.
Louis war erst zweiunddreißig Jahre alt gewesen. Die Ärzte führten sein plötzliches Ableben auf Herzschwäche oder Apoplexie zurück. Diese Todesarten konnten in jedem Alter zuschlagen, wenn sie auch nach dem vierzigsten Lebensjahr sehr viel öfter vorkamen. Gott sei Dank, dass ich kaum die Zeit fand, mich über die Grausamkeit meines Schicksals zu beklagen, denn ich musste mich um alles kümmern: die Bestattung, die Formalitäten bei den Behörden und die Pachthöfe. Meine Tochter wurde Haupterbin der Domäne und ich musste mich um die Verwaltung unserer umfassenden Besitztümer kümmern. Die unterschiedlichsten Aufgaben kamen auf mich zu, denn die Mühlen drehten sich weiter, die Trauben reiften und das Vieh verlangte nach seinem Heu, ganz ohne sich darum zu kümmern, dass ich Witwe geworden war! Meine Tochter brauchte größere Aufmerksamkeit, jetzt wo ihr Vater uns so sehr fehlte. Lacoudre stand mir damals in dieser schweren Zeit bei und Marie-Aurore kam für einige Tage zu Besuch. Aminte zeigte sich tapfer, doch stellte sie mir schmerzhafte, ihrem Alter entsprechende Fragen, bevor sie friedlich einschlief und mich so um meine Nachtruhe brachte.
Seitdem mir die Leitung seiner Unternehmungen auferlegt worden war, stellte ich fest, wie unermüdlich und redlich mein Mann unseren Gutshof verwaltet hatte. Unsere Pächter unterstützten mich mit Rat und Tat bei meiner neuen Verantwortung; ihre Angehörigen zollten mir großen Respekt. Dies war bei gewissen Mitgliedern meiner Schwiegerfamilie nicht der Fall: sie statteten mir am Folgetag der Beerdigung meines Mannes einen Besuch ab, bei dem sie im Gedenken an Louis verschiedene Dinge einheimsten. Ich versuchte keinesfalls, meine Enttäuschung zu verbergen, ließ sie aber – in christlicher Barmherzigkeit – walten. Erst später wendete ich mich von ihnen ab, denn ihr ungeniertes Verhalten hatte mich verletzt.
Die meisten unserer Pächter kannte ich längst, andere traf ich nun zum ersten Mal. Sie zeigten sich zuvorkommend und hatten Mitleid mit uns und unserem Malheur. Die vielfältigen, ungewohnten Pflichten zwangen mich dazu, meinen Pferdebestand zu verkleinern. Louis hatte seit unserer Heirat kein einziges Fohlen verkauft!
Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Interessenten und Pferdehändler auf das Folgejahr zu vertrösten und immer die gleiche Antwort parat gehabt: „Wir hängen viel zu sehr an unseren Pferden. Was für ein abscheulicher Gedanke es wäre, sie zu verkaufen!“
Aber Louis war nicht mehr da. Und nur wenige der Freunde, die sich früher in unseren Salons gedrängt hatten, verkehrten noch mit mir, seit er von uns gegangen war.
Ich fühlte seine Gegenwart noch lange Zeit wie eine fast greifbare Spannung, die sich allmählich aufzehrte. Ich hatte einen Traum, der sich mit erbarmungsloser Regelmäßigkeit wiederholte: ich wachte an seiner Seite auf und erlebte erneut den grausigen Moment, in dem ich seinen leblosen Körper vorfand. Der Alptraum war schmerzhaft wie ein Messerstich und ich schlief forthin in einem anderen Zimmer. Lacoudre bereitete Johanniskrauttee zu und ich trank das heiße Gebräu, um meine treue Amme nicht zu enttäuschen, die mich von Geburt an versorgt hatte. Ich gedachte meiner verstorbenen Mutter und verbrachte ganze Nächte über Briefe und Bücher gebeugt. Jeden Abend zog ich mich zurück in die kleine Kapelle, die ein Ritter der Familie Chappot erbaut hatte, und zündete die Kerzen an. Ich hatte die Gepflogenheit, meine Beichte beim Probst der Fontenelles-Abteil abzulegen, Pierre de Mornac. Eines Morgens, es war am Palmsonntag, ritt ich in Begleitung der Tochter einer Nachbarin zur Messe. Das Mädchen half mir oft im Stall aus und hatte sich unter meiner Instruktion zu einer versierten Reiterin entwickelt. Wir nahmen einen Umweg in Kauf, um die im Frühjahr durchnässten Waldpfade zu meiden.
Auf einem breiten, sandigen Weg angekommen, ließen wir die Halbblüter in einen angenehmen, ruhigen Galopp fallen. Die Sonne schien durch den morgendlichen Dunst und aus einer überschwänglichen Frühjahrslaune heraus gaben wir ihnen die Zügel hin. Das Wettrennen, das wir uns lieferten, löste Lachsalven aus, die unsere Pferde, die aus reinem Vergnügen voranzupreschen schienen, noch weiter anstachelten. Doch dann, ohne dass ich begriff, was geschah, erschrak mein Wallach vor einer Bewegung und machte einen gewaltigen Satz zur Seite, bei dem ich meinen Steigbügel verlor und fast gestürzt wäre. Meiner jungen Freundin, die sich dicht hinter mir gehalten hatte, war es indessen gelungen, ihr Pferd zu zügeln; sie näherte sich mir beunruhigt und fragte nach meinem Befinden. In diesem Moment hörten wir eine tiefe Stimme, die uns unterbrach, obgleich kein Mensch zu sehen war: „Meine Damen, es tut mir leid!“
Wir sahen uns um, während die Stimme mit einem höchst seltsamen Akzent fortfuhr:
„O Herr, sei gesegnet, sie sind gesund und wohlbehalten! Ich bitte Sie um Verzeihung, werte Damen.“
Inmitten der Ginsterbüsche richtete sich mit lautem Rascheln ein bärtiger Riese vor uns auf. Er stand auf einer kleinen Erhöhung im Gegenlicht der Sonne, was ihn noch größer erscheinen ließ. Der Hüne musste gute sechs Fuß und zehn Zoll* messen – ich hatte noch nie einen so hochgewachsenen Mann gesehen! Er hielt ein schwarzes Pferd am Zaum, das ebenfalls von enormem Wuchs war. Er schien einem Gemälde von der Landung der Wikinger an den Küsten Frankreichs entsprungen zu sein, und ich sagte mir, dass er Wikingerblut in den Adern haben musste. Die rote Uniform mit weißem Besatz des Fremden verriet nichts über seine Herkunft, gleichwohl mir eine gewisse Anzahl an Armeemonturen geläufig war, da ich aus einer Offiziersfamilie stamme..
Der Koloss nahm seine Kopfbedeckung ab und machte eine elegante Verbeugung. Dabei fiel mir sein langes, blondes Haar auf, das im Gegensatz zu seinem kupferroten Spitzbart stand. Wegen seines Akzents, der dem englischen ähnelte und doch anders klang, verstand ich seinen Namen nicht.
„Mein Kompliment, werte Dame! Eine weniger sattelfeste Reiterin hätte sich Hals und Bein gebrochen!“, sagte er mit strahlendem Lächeln.
Sein eigenartiger Akzent konnte auf keinen Fall mit seinen nordischen Vorfahren zusammenhängen. Als er es wagte, auf uns zuzukommen, sah ihn die junge Reiterin mit ängstlichem Blick an, worauf er stehenblieb. Er entschuldigte sich erneut mit höflichen, eines Edelmannes würdigen Wendungen. Da mir offensichtlich die Sprache versagte, schlug er die Hacken zusammen und nickte uns nochmal zu, bevor er wieder aufsaß und genauso schnell verschwand, wie er aufgetaucht war.
Wir sahen ihn kurz darauf wieder, nach dem Gottesdienst. Mein Beichtvater kam mit dem Iren auf uns zu.
„Madame Chappot, ich habe die Ehre, Ihnen meinen Neffen vorzustellen, der Unteroffizier William de Bulkely.“
Diesmal ließ es sich der junge Mann nicht nehmen, mir die Hand zu küssen und während sein Onkel erläuterte, wie der Ire nach Frankreich gekommen war, tauchte mein Blick in die Tiefen seiner hellen, wassergrünen Augen, die im Sonnenlicht geradezu durchsichtig wirkten.
Ich hörte mich sagen: „Wir hatten bereits das Vergnügen, aber ich konnte mir Ihren Namen nicht einprägen…“
„Bulkeley“, wiederholte er ganz langsam.
Ich erfuhr, dass seine irische Truppe, das Walsh-Regiment, auf der südwestlich gelegenen Ile d'Oleron in Garnison war. Die Anwesenheit der irischen Soldaten ging auf die Belagerung von Limerick zurück. Ich hatte noch nie von der Belagerung von Limerick gehört!
Vater Mornac fügte hinzu: „Mein Neffe ist ein Nachkomme der souveränen Prinzen von Wales. Einer seiner Ahnen war Erzbischof von Dublin: Lancelot von Bulkeley.“
Von diesem Moment an kreuzten sich unsere Wege mehrfach – die Weinberge der Abtei grenzten an meine Ländereien. Ich verdächtigte Monsieur Bulkeley, diese Treffen gezielt stattfinden zu lassen, sie schienen mir zu regelmäßig, um sie dem Zufall zuzuschreiben. Dann erhielt ich Einladungen zu Empfängen von ihm. In einem dieser Briefe gestand er mir seine grenzenlose Bewunderung und bezeichnete mich als die „Gewandteste aller Damen im Sattel“. Es wäre eine Lüge, zu behaupten, seine Worte hätten mich nicht berührt, seine Briefe mir nicht geschmeichelt, und doch beschloss ich, sie zu ignorieren. Einerseits war ich noch in Trauer. Andererseits befürchtete ich, Gemunkel auf mich zu ziehen. Daraufhin sah ich Monsieur Bulkeley mehrere Monate nicht mehr, trotz häufiger Ausritte.
Eines Tages fuhr ich zur Abtei, um Landwaren gegen verschiedene Heilkräuter einzutauschen, die dort von den Mönchen angebaut wurden. Vater Mornac befand sich vor der Pforte im Gespräch mit Monsieur Bulkeley, der im Sattel saß und vermutlich auf Abreise war.
Auf seinen Anblick reagierte mein Herz auf ungewohnte Weise, denn ich spürte ein deutliches Stechen, als ich sah, wie der Leutnant seinen Onkel verließ und auf mich zukam. Meine Hände, in denen die Leinen* ruhten, begannen zu zittern, und mein Pferd schnellte nach vorn!
Auf dem Rückweg blieb ich nachdenklich. Es war mir unangenehm, vor dem jungen Mann errötet zu sein wie eine Siebzehnjährige, ganz zu schweigen vom Bocksprung meines braven Kutschpferdes, das sich vor seinen Augen meiner Kontrolle entzogen hatte.
Kaum eine Woche später, die Sonne ging gerade unter, sah ich Monsieur Bulkeley am Waldrand, wo er erneut wie aus dem Nichts erschien. Ich war dabei, Sauerampfer und Brennesseln zu sammeln, mit denen meine Köchin einen saftigen Farci** zubereitete. Er stieg eilig ab und kam auf mich zu.
Als er meine Hand nahm und begann, unverständliche Sätze zu stammeln, spürte ich angenehme Schauer im Nacken und musste mir eingestehen, dass ich einer ansteckenden und wunderbaren Krankheit zum Opfer gefallen war: ich war verliebt!
* fünf Fuß und zehn Zoll = 1 m 90
* Leinen = lange Zügel, die beim Fahren mit Pferden verwendet werden
** le farci = regionale Spezialität: eine Art Auflauf mit Spinat, Brennesseln oder wildem Mangold