Читать книгу Das perfekte Grau - Salih Jamal - Страница 10
Оглавление6. ALT OTTOKING
»Schöööön!« Rofu strahlte. »Machen wir alle einen großen Ausflug. Ich freue mich sehr, dass du überlegt hast«, sagte er zu Mimi. »Ist gute Entscheidung. Ist sehr gute Entscheidung!« Er tanzte einige Schritte.
»Und Dante ist guter Captain. Er ist früher um gaaanze Welt gesegelt.« Dabei breitete er seine Arme aus und bleckte zufrieden die Zähne. Er packte Mimi am Arm, der das sichtlich unangenehm war, und zog sie runter zur Marina. Ich wurde von Novelle gezogen, die mich immer noch festhielt.
Auf dem Boot platzte mir ein bisschen der Kragen. Ich fühlte mich überrollt.
»Verdammt! Wieso weiß jeder, wohin wir fahren?« Ich hatte mich auf einen ruhigen Nachmittag mit etwas Reggaemusik, einem Buch und den Leckereien aus Rofus Provianttasche gefreut. Jetzt wurde es ein Ausflug mit Damen und mir schwante nichts Gutes. Alle schauten mich an. Mimi mit verkniffenem Gesicht, Novelle und Rofu erstaunt.
»Ich habe allen gesagt, dass du ein guter Seemann bist und wir heute einen großen Ausflug machen werden. In die Natur.« Dabei zeigte Rofu stolz mit dem Finger auf mich und klopfte mit der anderen Hand auf die Reling des Bootes.
»Das ist ein gutes Boot und wir haben viel Platz und wir machen Picknick. Guck hier: Mimi hat mir Artischocken aus Küche gegeben.« Er zog zwei große Blüten aus einer der Sporttaschen und hielt sie uns wie ein Kokosnussverkäufer unter die Nasen.
Unsere Insel hatte eine zum Land hingeneigte Seite und eine nach hinten aufs offene Meer. In der Mitte gab es noch einen kleinen, circa fünfzig Meter breiten Grünstreifen mit Gehölz und Gebüsch. Sogar einige verirrte Pinienbäume standen dort. Auf der Meerseite hatten die Robben im Sommer ihr Freibad. Sie ließen sich die Sonne auf den Speck scheinen, robbten hin und wieder ins kühle Nass, um dann vollgefressen weiter in den Nachmittag zu dösen.
Ich war mir nicht sicher, was ich mit den Verrückten da eigentlich wollte. Mimi würde kaum etwas sagen, und Novelle war eine einmeterundsechzig große Wundertüte. Ich machte das Boot fest und wir wateten das letzte Stück durch das Wasser. Unser Platz lag auf einer kleinen Anhöhe mit genügend Entfernung, um die kleinen, süßen, knopfäugigen Heuler nicht zu stören. Wir breiteten zwei große Picknickdecken auf einer schönen, flachen Stelle aus, und da ich eh nichts anderes machen konnte, schnappte ich mir mein Buch und legte mich hin. Novelle war aufgekratzt und sprang die ganze Zeit über die Felsen oder verschwand hinter ihnen. Mimi spazierte am Strand, die Wellen leckten an ihren Zehen. Rofu machte sich weiter an seinen Sachen zu schaffen. Novelle war anders als sonst. Seit sie mich am Arm aus ihrer Hütte gezogen hatte, waren die scheue Zurückhaltende und auch die wilde Unberechenbare wie fortgewischt. Jetzt war sie eine, die auf ihren dünnen Beinen mit großen Schuhen neugierig durch den Tag schritt und an jedem Punkt entlang des Weges wie ein junger Hund erstaunt stehen blieb, kurz die Situation erschnüffelte und dann freudig und zufrieden weiterging. Sie trug immer noch ihre große runde Sonnenbrille, die ihr Veilchen verdeckte, aber das schien im Moment das einzige Undurchsichtige an ihr zu sein. Schließlich kam auch sie zu uns und schnappte sich ein Dosenbier.
Mimi hatte sich aus einigen Stöcken und einer Decke ein kleines Sonnensegel gespannt, unter dem sie mit hochgerafftem Rock lag und in einer alten Vogue blätterte. Manches Mal knickte sie ein Eselsohr ein. Sie hatte wirklich schöne sommersprossige Beine mit schlanken Fesseln und einem perfekten runden Schwung ihrer Waden. Ihre Zehnägel waren lackiert.
Ich war schon tief in meinem Buch. Ein Roman eines Franzosen, der beinahe wie eine Senfmarke aus dem Supermarkt hieß. Die Geschichte schien auch am Meer zu spielen. Ein verkappter Schriftsteller strich in einem heruntergekommenen Ferienort Bungalows und bumste mit einem quirligen Mädchen. Das kam mir bekannt vor. Nur das bei mir weit und breit kein Mädchen in Sicht war und ich eigentlich auch keines wollte.
Es wurden wunderbare und leichte Mittagsstunden. Das Meer rollte endlos wiederkehrend mit brausendem Rauschen und brach sich über die im Wasser verstreuten Felsen, bis sich der Schaum sachte im Sand verlief und dort das Perlmutt tausender Muscheln mit Nässe überzog. Wie ein funkelndes, ausgebreitetes, paillettenbesetztes Kleid glänzte der Strand im Licht der Sonne. Die kühlen Brisen seufzten und strichen mit dem salzigen Geruch einer entfernten und fremden Sehnsucht über unsere Haut, und im endlosen Blau des Himmels trieben kleine, weiße Wolken wie zarte Daunen im Wind. Schwerelose Federn, auf die wir alles Schöne und auch unseren Schmerz und unser Verlangen legten, weil da oben alles frei war und weit fortreisen konnte. Es gab nichts Besseres und man hätte meinen können, dass die Zeit das Atmen vergessen hatte.
Still saßen wir um den Campingkocher und lutschten das zarte Fleisch der Artischockenblätter mit süßlicher Chilisoße. Wir brauchten nicht zu reden, weil für die Schönheit des Augenblicks keine Worte nötig waren und wir uns frei fühlten. Alles Drängen war unwichtig geworden, das Meer und der Wind flüsterten jedem seine ganz eigene Geschichte zu. Das endlose Meer: An kaum einem anderen Ort spürt man derart wahrhaftig die unbesiegbare Freiheit.
»Ist es nicht ein wunderbarer Tag?« Rofus Frage lag wie ein Fremdkörper in der Luft und riss uns zurück in die Gegenwart. Er blickte in die Runde. Alle nickten, während wir genüsslich weitere Blätter abzupften.
»Was hast du mit Lippe gemacht?«, fragte Rofu Novelle und schaute sie an.
»Nichts«, antwortete sie knapp.
»Wo kommst du her?«, fragte er weiter. Er schien sich unterhalten zu wollen und suchte sich ausgerechnet Novelle dafür aus.
»Aus Altötting«, antwortete sie und schnippte ein Blatt in den Sand.
»Alt Otto-King?«, fragte Rofu.
»Altötting! Das ist im Süden«, erklärte Novelle. »Ein kleines Scheißdorf.«
»Ich denk, du kommst ausm Elsass?«, fragte ich sie verwundert.
»Wie kommst du denn darauf?« Novelle kniff die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf, als ob man ihr einen Löffel Kinderbrei vors Gesicht hielt, den sie nicht mochte.
»Was gibt’s in Alt Ött-King?«, wollte Rofu wissen. Das »Ö« verlangte ihm wirkliche Mühe ab.
»Da hat der Papst ein Wochenendhaus.«
Novelle spuckte eine Faser der Artischocke, die sich zwischen ihren Zähnen verheddert hatte, zur Seite.
»Ohh. Wiiirklich? The Pope?« Rofu konnte es nicht fassen.
»Nein, das sagt man nur so. Weil da die Leute alle ganz katholisch sind. Und weil da ein Pilgerweg ist und weil auch ab und an der Papst zu Besuch kommt.«
»Dann muss das ein sehr schöner Ort sein.«
»Nichts ist schön da!«, donnerte Novelle den armen Rofu an und sprang auf. Sie rannte zum Wasser und stampfte und trat gegen das sich zurückziehende Meer.
»Was ist mit diesem Girl?« Rofu sah etwas ratlos aus.
»Seht ihr denn nicht, dass sie irgendwelche Probleme hat?« Mimis erste Worte an diesem Nachmittag auf der Insel. »Vielleicht hat es eben was mit dem Ort zu tun, aus dem sie kommt? Warum seid ihr Kerle immer so unsensibel?« Sie schüttelte den Kopf und legte ihr Stück von dem Boden der Artischocke, dem sie schon die Härchen abgekratzt hatte, auf einen der Teller.
»Magst du nicht?«, fragte Rofu. Anstatt einer Antwort erhielt er Mimis Giftblick. Ich überlegte, ob ich den beiden von Novelles Sauftouren erzählen sollte. Vielleicht auch von den Tattoos und den Narben. Aber ich verkniff es mir. Mimi hatte das bestimmt schon alles selbst bemerkt. Novelle war ganz offensichtlich sonderbar. Außerdem war ihr blaues Auge trotz der Brille nicht zu übersehen. Ihre Stimmungen schienen wie Wolken zu sein, die wie im Zeitraffer im Sturm über den Himmel rasten und kurzzeitig entweder das helle Blau oder die Sonne oder beides verdeckten, um dann wieder zu verschwinden. Nach ein paar Minuten trottete Novelle zu uns zurück, wand sich etwas verlegen und setzte sich wieder auf ihren Platz. Dann nahm sie Mimis Stück vom Artischockenherz und stopfte es ungefragt in ihren Mund. Keiner sagte etwas. Schließlich löste sich die Spannung, bis wir in der warmen Sonne und vom Wind gestreichelt zwanzig Minuten oder vielleicht sogar eine Stunde satt und mit dem köstlichen Geschmack der Artischocken auf der Zunge wegdösten.
»O. k.! Du möchtest wissen, was in Altötting ist?« Novelle saß auf der Decke, und als Rofu auffuhr, guckte sie ihm direkt ins Gesicht und fixierte ihn. Dann schob sie die Ärmel ihres Shirts nach oben und streckte ihm ihre vernarbten Unterarme entgegen.
»Fuck! What?« Entsetzt und mit verzerrtem Gesicht nahm Rofu ihre beiden kleinen, bleichen Handgelenke und umfasste sie mit seinen Pranken. Entgeistert und erschrocken betrachtete er die ins Fleisch geschnittenen Höllen einer jungen Frau. Dabei strich er vorsichtig mit den Fingern über ihre Narben – so als ob er versuchte, die verwachsenen Furchen auf ihrer Haut wieder glatt zu streicheln oder zu heilen und vielleicht die Angst und ihren nie verklingenden Hall zu lindern. Er ließ ihre Arme gar nicht mehr los. Tränen rollten über sein Gesicht. Novelle saß still vor ihm. Auch ihre Augen wurden feucht. Ich glaube, sie zitterte. Es lag so viel Zerbrechlichkeit und Fürsorge in Rofus Geste. Zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein konnten, hielten sich in einem zeitlosen Moment an den Händen. Es war tief berührend, mit anzusehen, wie er ihr dabei half zu weinen. Wie die Schmerzensmutter einer Pieta.
Nach einer Weile durchbrach Mimi die Stille. Wortlos kramte sie vier Zigaretten hervor, zündete nacheinander zwei an und reichte jedem eine. Mimi hatte ein Gespür für den richtigen Moment.
Rofu ließ Novelles Arme los. Er nahm einen tiefen Zug. Sofort fing er an, zu husten, und ließ sich nach hinten in den Sand fallen.
»Allah! Fuck, das machst du zwanzig Mal am Tag?« Fragend schaute er mich an und hielt die Zigarette wie einen gefährlichen Feuerwerkskörper vor sich.
Wir fingen alle an zu lachen, und auch Novelle schmunzelte verlegen. Ich beobachtete sie. Ich konnte gar nicht anders. Seit ich sie das erste Mal sah, als ich die Heizung strich, schaute ich nach ihr und wartete, was als Nächstes geschehen würde. Entweder erdrückte sie einen mit ihrer raumgreifenden Präsenz oder sie floh wie ein Tier ins Unterholz. Heute glaube ich, dass ihr Murmeln in ihrer unverständlichen Sprache verbotene Tränen waren, die sich ihren Weg in Worten suchten. Und dann war da noch die unwiderstehlich wirkende Zuckerwatte-Novelle. Man wusste nie, was passieren würde. Schließlich holte sie tief Luft und stimmte lauthals in unser Gelächter über Rofus Raucherversuche ein. Dabei boxte sie sogar Mimi auf den Arm.
Dann wurde Novelle wieder anders, deckte ihre kurze Enthemmung wieder zu. Sie ließ sich auch auf den Rücken fallen und schaute in den Himmel und faselte ganz kurz wieder etwas von ihrem unverständlichen Zeug. Nach einigen tiefen Zügen von Mimis Zigarette sagte sie lakonisch:
»Ich wurde einfach an einem Abend geholt … und dann, dann zog man mir zusammen mit meinen Kleidern meine Kindheit aus.«
Stille. Ein Satz wie ein Schuss aus einer Hecke. Novelle griff mit einer Hand in den Sand und hob ihn auf. Ihre Nasenflügel flatterten und sie betrachtete ihre Faust, während der Inhalt zwischen ihren Fingern herausrieselte. Mir war, als umklammerte etwas mein Herz, das mich nicht mehr atmen lassen wollte, und ich bekam Angst, dass es, gefangen in seiner kalten Zwinge, beim nächsten Schlag zerbersten würde. Einerseits war Novelle die fragwürdigste Person, die mir je begegnet war. Anderseits wollte ich nichts von ihrer Geschichte wissen. Nicht wie Kindern Gewalt angetan wird. Meine Welt hatte zwar Tiefen, und auch ich musste an Abgründen balancieren. Aber das hatte ich mir selbst zuzuschreiben. Ich kannte keine wirklichen Opfer, die wehrlos eine Willkür erfahren mussten, und ich wusste nichts davon und wollte auch nichts darüber erfahren, weil ich die Verantwortung, die nun damit drohte, auf meinen Schultern Platz zu nehmen, nicht tragen wollte.
Ich sah zu Mimi, die ihre Hände vor ihren Mund presste, als ob sie so Novelles Lippen versperren könnte, damit sie das, was jetzt kommen würde, nicht hören müsste. Rofu saß starr und bewegungslos im Schneidersitz und stützte sein Gesicht auf seinen Händen.
Novelle stockte. Sie fasste sich jetzt an ihren Hals, massierte ihn und machte kleine Fäuste mit weißen Fingerknöcheln, die aus ihrer dünnen Haut herausplatzen wollten. Dann berichtete sie von dem Attentat auf ihre Identität.
Sie sprach leise und ihre Stimme fauchte wie ein röchelnder, leerer Wasserkocher:
»Das Schönste mit meiner Mama war, wenn wir das Bettzeug gefaltet haben. Ich stand an der einen Seite und sie hat von der anderen zu mir rübergelacht. Ich konnte es kaum erwarten, mit meinem Ende in den Händen auf sie zuzulaufen, um die Tücher weiter zusammenzulegen. Dabei hat sie dann oft, wenn ich dicht bei ihr stand, das Laken um mich gedreht, bis nur noch mein Kopf herausgeragt ist, und dann hat sie mich, so umhüllt und eingepackt, ganz fest gedrückt. Wenn du Kind bist, lebst du mit der tiefen Überzeugung, das nichts passieren kann. Dass alles seinen Platz hat und dass alles, was du kennst, klar und für immer ist. Dann passiert doch etwas und deine Welt bricht zusammen, du fällst aus ihr hinaus in eine andere. Du zerspringst zusammen mit allem um dich herum, so wie ein Glas, das auf den Boden gefallen ist, und liegst da in tausend Scherben. Ich war elf, als ich eines Tages nach Hause gekommen bin und meine Mama tot war. So hat das angefangen. Nur noch mein Vater und ich waren da. Zuerst haben wir uns gegenseitig getröstet. Er hat tagsüber geweint und ich am Abend. In der Nacht haben wir zusammen geweint. Wenn ich ihn fragte, warum, hat er nur noch mehr geweint. Ich wusste es damals nicht. Sie hatte sich vergiftet. Dieses Schwein!«
Novelle war im Begriff, ihre Geschichte abzubrechen. Sie stockte und schluckte, als würde sie Steine nach oben würgen, an denen sie zu ersticken drohte. Wir alle wussten, was jetzt kommen würde. Keiner wollte hören, wie sie ihre eigene Mutter ersetzen musste. Mimi legte ihre Hand auf Novelles Schulter und flüsterte: »Ist gut, Kleines. Ist gut.« Doch Novelle schluckte mit einem zur Fratze verzerrtem Gesicht hinunter und machte weiter.
»Es sind diese Augen. Scheiße. Wisst ihr? Irgendwann merkst du, ganz zufällig, dass der Blick etwas anderes, etwas Neues, Zusätzliches hat. Dass es nicht die Traurigkeit ist. Es ist etwas, was du noch nicht kennst, nicht einordnen kannst. Ein Unbehagen vor dem Unbekannten sticht dich kurz, und dann hast du das auch schon wieder vergessen. Dann kommt der Tag, wenn aus diesem sonderbaren Blick, für den du noch keine Antwort hast, die Raserei ausbricht. Und schon wieder ist alles anders. Alles! Alles! Alles ist dann anders! Das, was du gerade erst, nachdem das für dich Wichtigste auf der Welt nicht mehr da ist, mühsam, allein und ohne Hilfe sortiert hast, zerbricht zum zweiten Mal. Deine aufgekratzten Scherben, die du, so gut es eben geht, mit vielen Tränen zusammengeklebt hast, das, was du geglaubt und aufgebaut hast, das, was beinahe wieder sicher war, ist jetzt für immer und in noch kleinere Teile zerschlagen. Dann liegst du da und findest keine Geborgenheit. Wisst ihr, ohne das Gefühl der Geborgenheit versinkst du eines Tages. Oder du erfrierst, wahnsinnig geworden im Eismeer. Und deshalb lässt du’s geschehen.«
Sie schaute uns hilflos und zugleich fragend an. Dann fuhr sie fort. Ich hatte sie noch nie so viel reden gehört.
»Alle haben den. Diesen Blick, der wie bei tollwütigen Tieren jederzeit in Tobsucht ausbrechen kann. Schau den Männern in die Augen! Sie sehen dich an. Ihre Augen heizen sich auf. Dann fixieren sie dich auf eine Weise, die dich oder etwas in dir wirklich bewegungslos werden lässt. Und kurz nach einem luftleeren Moment, und bevor dann alles umschlägt, hat ihr Blick für diesen einen Wimpernschlag etwas Herausforderndes. Nur ganz kurz. Mit der Zeit lernst du, in dieser halben Sekunde das Ausmaß der Raserei zu lesen. Wie sich der Griff um deinen Hals legt. Scheiße! Alle haben diesen Blick. Die Hotelgäste, die Kellner, der Taxifahrer. Gierig.«
Sie stockte und rang nach Luft oder nach Worten.
»Auch mein Vater hat diese Augen. Die Augen sind das Schlimmste. Sie tun so viel mehr weh. Der Schmerz zwischen den Beinen lässt nach und vergeht. Aber die Augen. Wenn sie weit aufgerissen sind und dieses fürchterliche Toben aufbraust, dann weißt du, dass man dir weh tun wird, dass man dir ein weiteres Stück aus deinem Herzen rausreißt. Zurück bleibt eine Wunde, die sich nie wieder schließt, aus der es immerzu sickert. Tropfen um Tropfen. Bis du völlig ausläufst. Egal ob Blut oder Tränen. Irgendwann ist dann nichts mehr davon da. Nur noch ein verschissenes Loch, das in dir klafft, das dich ehrlos macht, weil nichts mehr von dem übrig ist, was mal dort an dem jetzt leeren Platz gewohnt hat. Genau an der Stelle, wo du selbst geborgen warst. Diese Scheißaugen! Und diese Scheißgeborgenheit!«
Sie hustete und presste wieder ihre Fäuste. Dann fuhr sie fort:
»Irgendwann ist dann alles leer. Sogar die Wut ist aus dir ausgeräumt. Dann ist da nur noch dieses verfickte dunkle Loch! Ein Loch in meinem Leben. Nur wegen dieser Scheißaugen. Immerzu schauen sie auf mich, und ich weiß, was dann passiert.«
Sie stand auf, trat den Sand in unsere Richtung und rannte weg. Der Wind hatte gedreht und blies jetzt vom Festland über das Meer.