Читать книгу Das perfekte Grau - Salih Jamal - Страница 9

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5. MITTERNACHT

Am Bingoabend verkaufte die Schmottke die Spielscheine für einen Fünfer und verdiente an den Getränken und den kleinen Kanapees, die Argor und Mimi tagsüber zubereitet hatten. Die Preise, die sie auslobte, waren von einem unwürdig niederen Wert. Ein paar Flaschen Spumante, Bootsfahrten nach draußen zu den Austernbänken und ab und an etwas aus der Fundgrube. Es war ein richtiges Schrottwichteln. Die Veranstaltungen waren meist gut besucht. Die Schmottke zog im umgebauten Frühstücksraum die Nummern und las die Zahlen vor.

Novelle stand dabei oft in einer Ecke des Saals und fieberte mit. Außer der Reihe. Sie murmelte wie immer etwas vor sich hin und presste und zerdrückte die Spielscheine, die sie sich heimlich besorgt hatte, in ihren verkrampften Fingern, ohne nach jeder aufgerufenen Zahl nachzuschauen. Sie wirkte dabei immer sehr aufgeregt und es schien, als ob sie die fünfundzwanzig Nummern in ihrer Anordnung auswendig gelernt hatte. Ich sah, wie sie ab und an, und ohne es vorher nachzuprüfen, mit ihrem Mund ein »Bingo« formte und dann den Zettel endgültig zerknüllte und ihn mit enttäuschtem – nein, mit einem unendlich verzweifeltem Blick – in ihrer Tasche unter der weißen Schürze verschwinden ließ. An einem Abend glaubte ich, dass ich sie weinen sah, als ihren Lippen wieder ein lautloses Bingo entwich. Ich ging zu ihr hinüber und ich wusste nicht, ob sie mich wie den Taxifahrer anspringen, kratzen oder beißen würde. Aber wie sie dort stand, in dem Saal voller Leute, in eine Ecke gepresst, und wie sie dort so völlig verloren aussah, konnte ich nicht anders. Seit der Geschichte mit den Namensschildern hatten wir so gut wie kein einziges Wort miteinander gesprochen. Ich wusste nicht warum, aber ich legte meinen Arm um ihre Schultern. Sie schaute noch nicht einmal zu mir auf. Wir standen nur da, redeten nicht, und das Licht, die Leute und die Stimmen im Raum verschwanden für einen ganz kurzen Moment. Ich traute mich nicht, sie anzuschauen. Es war, als ob ich ein hauchdünnes Glas berührte. Wir standen einfach nebeneinander, doch ich spürte die Nähe, die sie zuließ, und vielleicht machte sie sogar einen kleinen Schritt auf mich zu. Nach einer Weile fragte ich sie leise:

»Was ist mit dir?«

Sie schaute zu Boden und flüsterte: »In meinem Kopf ist fast immer Mitternacht.«

Dann löste sie sich von mir und rannte raus. Später, nach der Arbeit, sah ich sie, wie sie ausgehfertig das Hotel verließ und in der Nacht verschwand.

Ich fand wie immer keinen Schlaf. Wieder hatte ich dieses wattige und gleichsam sinnenscharfe Gefühl, das mich nur nachts heimsuchte. Vor Müdigkeit fielen mir die Augen zu, um kurz danach über den Gedanken wach zu werden, dass es Zeit sei, den Schlaf zu suchen. Als ob ich in eine Zwischenwelt glitt, auf deren Schwelle ich in der dunklen Stille verweilte, mich dort umblickte und an mir herunterschaute. Wie Wasserfarbe verlief die Realität in etwas Abstraktes und dann in etwas Surreales. Erst in der Dämmerung erkannte ich wieder alle Konturen. Dann, als die Träume getrocknet und das Fieber verflogen waren. Stunde um Stunde lag ich im dunklen Zimmer. Von draußen leuchtete es gelblich hinein, und die Lamellen am Fenster zeichneten Streifen aus hellen und dunklen Schatten an die Wand. Der Qualm meiner Zigaretten formte sich im Licht zu Figuren aus Nebel, die kurz miteinander tanzten und sich wieder aus ihrer Umklammerung auflösten, um zu entfliehen.

In der Nacht schreckte ich hoch. Gerade in dem Moment, als ich von dem Dach stürzte, von dem ich damals nicht gesprungen bin. Vor Jahren war das, als mein Leben in Scherben lag und ich leichtfüßig das Wertvollste der Welt verspielte. Ich konnte nicht anders. Nicht vom Hochhaus springen und nicht mehr weitergehen und schon gar nicht zurück. In mir tobte das tiefe Verlangen nach einer selbstbestimmten Ungebundenheit, eine brennende innere Sehnsucht nach Freiheit und gleichzeitig die Scheu vor der damit verbundenen Verantwortung. Nirgends blieb ich länger. In den Jobs, die ich hatte, und auch nicht in den Beziehungen, die ich einging. Es war dieses Wissen um das Erlöschen der Extreme, das Bewusstwerden von Grenzen und die damit einhergehende Bürde all der Pflichten, damit das Leben, das nun mal jeder zu leben hat, überhaupt funktionieren kann.

Damals, als dann alles vorbei war, und ich wieder von dem Dach, auf dem ich alles beenden wollte, heruntergeklettert war und es nichts mehr gab, was mich hielt, stieg ich in einen Zug und fuhr davon. Ohne Ziel. Weil ich keine Wurzeln hatte, konnte ich überall hin. Sieben Jahre war ich fort. Drei davon auf See. Die andere Zeit bei wechselnden Arbeiten in unterschiedlichen Orten mit verschiedenen Bekanntschaften. So wie ich sie jetzt mit Rofu hatte. Immer mit einem gewissen Abstand. Nie wieder wollte ich jemandem so nahe kommen, dass es mir gefährlich werden konnte. So isolierte ich mich lieber. Ich glaubte, den Ruck nicht aushalten zu können, wenn wieder eine Bindung reißen würde. Dabei war es die Bindung selbst gewesen mit all ihren unausgesprochenen Verträgen, die ich nicht ertragen hatte. Ich konnte mich gut verstellen und meine Emotionen regulieren. Die Leute glaubten, ich sei zugänglich für das, was sie im Innersten trieb, als hätte ich eine Antenne für ihre Dringlichkeiten, Hoffnungen oder Schmerzen. Aber in Wirklichkeit ließ ich nichts und niemanden an mich heran. Zuletzt strandete ich hier an der Küste. Ich hatte nicht viel. Etwas Kleidung, ein paar Bücher. Sie waren der beste Ort für mich, die Poesie entband mich vom Gewicht der Welt.

Ich ging in die Küche und trank aus dem laufenden Wasserhahn. Dann wusch ich mir den Traum vom Fallen aus dem Gesicht, es war mir völlig unmöglich, mich nochmals hinzulegen, um weiterzuschlafen.

Mimi und Novelle waren mir auf ihre unnahbare Weise ähnlich. Wir drei schienen etwas Geheimes hinter uns gelassen zu haben. Wie zufällig waren wir uns in dem Hotel begegnet, das für uns wie ein Wartesaal an einer dieser verlassenen Anlegestellen für die großen Fähren war. Ein Ort im Nichts, in dem wir rasten konnten während unserer Suche nach neuen Routen, hin zu etwas, von dem wir nicht wussten, was oder wer uns erwartete. Wir waren gestrandet, um kurz zu verweilen. Auf einem Weg aus einem Früher, das es nicht mehr gab.

Mimi, die irgendwie zum Inventar des Hauses gehörte, wirkte, als stünde sie vor einem Absprung. Jederzeit bereit zu gehen, ohne eine Erinnerung oder einen Schatten zu hinterlassen. Als ob sie in den ganzen Jahren ihre Koffer nie ausgepackt hätte. Diesen Eindruck hatte ich auch von Novelle. Und ich war sowieso in ständiger Alarmbereitschaft. Die Frage war, wann und wohin und vor allem wie weit wir springen würden? Und ob wir es überleben könnten?

Das beschäftigte mich besonders, wenn ich an Novelle dachte. Man konnte ihr dabei zusehen, wie sie ihre Reserven aufbrauchte. Sie war noch so furchtbar jung. Das Leben sollte nicht gleich zu Beginn grausig mit einem umgehen. Es sollte leuchten, sirren und flackern. Wenn man jung ist, sollte sich an jedem Tag etwas von dem Wunder und all den großen Geheimnissen da draußen offenbaren, die einem die Gewissheit geben, dass man mit weit ausgebreiteten Armen der Welt entgegenspringen kann und dass sie einen tragen wird. Novelle schien in ihr unterzugehen und zu verschwinden.

In den Mitarbeiterbaracken wohnten noch zwei andere Zimmermädchen. Beide hatten ihre erste Saison. Katja aus Österreich und Severine aus der Schweiz. Sie waren Studentinnen auf Weltreise. Katja war der burschikose Typ und studierte Germanistik, Severine hatte Dreadlocks, sie studierte BWL. Ich hatte außer den Dingen, die die Arbeit betrafen, nicht viel mit ihnen zu tun. Meist waren sie an den Abenden für sich oder sie erkundeten die Gegend. Ich versuchte herauszufinden, ob sie ein Liebespaar waren, aber es gab keine Anzeichen.

Dienstags und mittwochs musste je die halbe Belegschaft ihren freien Tag unter sich ausmachen. Da Severine und Katja bereits den Mittwoch für eine gemeinsame Wanderung belegt hatten, beschlossen Rofu und ich, am Dienstag raus zu den Robbenbänken zu fahren. Eine willkommene Abwechslung. Wir wollten dort in der Sonne liegen, in den Tag dösen und den Tieren zusehen. Novelle war noch nicht aus ihrem Zimmer herausgekommen, was so viel bedeutete, dass sie auch den Dienstag als ihren freien Tag für sich beanspruchte. Ich hatte mir am Pier ein einmastiges Catboot gemietet. Rofu war etwas skeptisch, aber ich versicherte ihm, dass ich in einem anderen Leben bereits auf Schiffen gesegelt sei, und letztendlich war seine Neugierde groß genug, um sich auf den kleinen Turn mit mir einzulassen. Dass er eine gewisse Scheu vor Booten hatte, konnte ich nur zu gut verstehen. Rofu hatte mir von der langen Fahrt erzählt, die er von der libyschen Küste aus in einem überfüllten Schlauchboot angetreten war. Wie er gesehen hatte, als Kinder ertranken, und wie Panik und Furcht die Menschen in dem überfüllten Boot lähmte oder sie elektrisierte. Wie einige Männer das Zuviel an Frauen und Kinder in dem schrecklichsten Moment, als die Wellen zu hoch und das Boot zu instabil wurden, einfach über Bord warfen. Er hatte von der Schuld des Schweigens gesprochen, die fortan an ihm klebte, und davon, wie sich das in den Nächten anfühlte, dass seine eigene Angst zu groß gewesen war und ihm befohlen hatte, reglos zu bleiben, und wie ihn seitdem und wahrscheinlich für immer die Schreie und die weit aufgerissenen Augen der Ertrinkenden im Wasser verfolgten. Er erzählte von der Leere, als sie alle still und lethargisch, paralysiert beieinander kauerten, nachdem der Sturm vorübergezogen war und sich die Schreie im Wasser langsam entfernten. Wie er an den Schultern der Mörder in Agonie verweilte. Wie er letztendlich bei Lampedusa gerettet worden war. Er hatte auch von der anderen Schuld erzählt. Die, die auf den unzähligen namenlosen Straßen mit jedem Schritt, den er von zu Hause fort machte, schwerer wog. Weil er mit dem Zurücklassen nicht klarkam und seine Freunde, seine gelbe Erde und seine Mutter wohl nie wieder sehen würde.

Ich merkte ihm an, dass er trotz seiner sonnigen Art eine große Last trug. Jeder merkte das. Deshalb schien es mir gut, über seine Heimat und sein Dorf zu sprechen, um ihn etwas aufzuheitern. Wie fast alle anderen blühte er im Licht seiner Erinnerung auf und ein warmes Strahlen zog über sein Gesicht. Doch war es schwer, wieder in die Gegenwart zurückzufinden, nachdem wir so schön über vergangene Tage gesprochen hatten, die wie bei jedem in der wehmütigen Rückschau glänzender schienen, als sie gewesen waren. Einmal, wir saßen abends draußen bei seinen Kerzen und die Zikaden zirpten im Dunkeln, kam Rofu gerade aus der Küche zurück. Er hatte unsere Teller abgewaschen. Mit dem Spültuch über seinen Schultern schenkte er mir Wein nach. Dabei sagte er:

»Du schaust auf die Sterne und träumst von etwas wie Zukunft, denkst dir, dass die Welt so groß und so weit ist und dass sie woanders vielleicht etwas Besseres für dich bereithält. Dabei ist das Leuchten im Himmel ein Blick in die Vergangenheit, da das Licht, das du dort siehst, seit Hunderten von Jahren erloschen ist. Aber diese Wahrheit verdrängst du und fängst stattdessen an zu träumen, und in den vielen langen Nächten wird die Sehnsucht oder deine Verzweiflung immer stärker, so dass es dich ganz langsam zerreißt. Da oben ist das Funkeln zum Greifen nah und du denkst, jeder Stern ist ein Wunsch. Du müsstest nur einen auswählen und seinem Licht folgen. Nur einem einzigen, der vielleicht ganz allein für dich dort strahlt. Du schaust so lange in diese unfassbare Weite, bis du es nicht mehr aushältst, und so werden deine Träume immer größer und dein Leben, aus dem du weglaufen willst, immer kleiner, und dann brichst du endlich auf. Gefüllt mit Zuversicht fliegst du los. Du bist leicht wie ein Vogel, der vom Wind getragen wird. Doch anstatt dich den Sternen zu nähern, bleiben sie immer gleich weit von dir entfernt. Erschöpfung und Müdigkeit lasten auf dir, und du fängst an zu taumeln, bis du das erste Mal fällst. Mit dem ersten harten Aufschlag stellst du dann fest, dass das Unerreichbare immer unerreichbar sein wird, dass nichts vor dir liegt, aber alles hinter dir, und es gibt kein Zurück mehr. Flucht ist wie Fallen. Ein nicht enden wollendes Stürzen in ein schwarzes Loch. Du brichst auf, willst zu den Sternen, aber du verschwindest in unendlichem Nichts. Bist du erst einmal hineingeraten, kannst du nicht mehr entkommen. Egal wie viel Licht du in dir trägst, es wird von allem Schwarz geschluckt, bis du selbst ganz in der Düsternis verschwindest. Flucht ist endlose Einsamkeit. Du verlierst die Zeit, deine Sprache, und selbst der Schlaf gewährt dir keine Ruhe und keinen Trost. Bis nichts mehr bleibt. Flucht ist wie ein vorweggenommener Tod, ein unentwegtes Sterben.«

Er sagte es nicht wörtlich so, weil er ja sein Ding mit Artikel und Substantiv hatte und oft Englisches dazumischte, dennoch war es die traurigste Poesie, die ich über das Flüchten gehört hatte. Zum Schluss fügte er noch hinzu:

»Du willst Hilfe, doch keiner kommt. Alle denken nur noch an sich, und jeder bleibt allein.«

Aber heute stand er mit seiner gelben Schlabberhose und zwei riesigen Sporttaschen mit mulmigen Gefühl vor dem Hotel und wartete auf mich. Er hatte sein Gute-Laune-Gesicht aufgesetzt und sah aus wie ein Profibasketballer.

»Wir wollen nicht nach Amerika«, rief ich ihm zu, als ich für zwei neue Gäste noch die Koffer an der Rezeption abholte und nach oben trug. Trotz des Hochsommers hatten wir kaum Besucher. Nur vierzehn der siebenundzwanzig Zimmer waren belegt. Rofu grinste und winkte mir zu. Dabei sah man seine kindliche Zahnlücke, die nicht zu seinem Äußeren mit den Narben und der Glatze passen wollte.

Die beiden Neuankömmlinge waren sonderbar. Zwei Typen mit wenig Gepäck. Jeder hatte einen Koffer und eine dicke Aktentasche, so als wären sie auf Geschäftsreise. Vertreter? Ich sah Mimi, wie sie aus der Küche in den Flur kam, kurz zu uns herüberschaute und dann wieder verschwand. Jedenfalls bekam jeder der Herren ein kleines Zimmer. Dann beeilte ich mich, nach draußen zu kommen. Ich lief noch schnell zu meinem Appartement hinten im Hof, um meine Zigaretten und das Buch, das ich in diesen Tagen las, zu holen. Ich schloss gerade die Tür hinter mir ab, da kam Novelle aus ihrem Zimmer. Barfuß. Nur mit Tanktop und Slip. Die Haare waren strubbelig, sie hatte ein blaues Auge und auf ihren Lippen und an ihrem Kinn klebte getrocknetes Blut. Sie schaute in die Mittagssonne, verweilte einen Moment, als ob sie am Horizont etwas suchte, und dann musste sie kotzen.

»Mann, Mann, Mann«, rief ich. Ich kratzte sie wieder auf, schob sie in ihre Bude und setzte sie auf ihr Bett. Es war das erste Mal, dass ich bei ihr war, und ich schaute mich kurz um.

Das Zimmer war dunkel und ihre Klamotten lagen über dem Tisch und den beiden Stühlen verteilt. Ob es dreckige Wäsche oder sauberes Zeug war, konnte ich nicht erkennen. Vermutlich beides. Auf jeden Fall lag ein Slip, in dem vorne noch eine Einlage klebte, zwischen den Sachen. Nur ihre Zimmermädchenuniform hing ordentlich auf einem Bügel am gekippten Fenster. An den Wänden waren überall Bilder aus Zeichentrickfilmen mit Nadeln angesteckt. Alles Farbaus-drucke in A4. Da hing Lisa Simpson, Bernd das Brot, Wicki von den starken Männern und jede Menge Mangas.

»Was machst du nur für einen Scheiß?«, blaffte ich sie an. Gleichzeitig reichte ich ihr eine Packung Taschentücher.

Sie fummelte eines raus, schniefte und antwortete: »Ich hab immer Kopfschmerzen. Aber sie tun nie weh.«

Die Frau war wirklich gaga.

»Also, ich HÄTTE Kopfweh, wenn ich so scheiße aussehen würde.«

»Wie, wie meinst du das?«

Jetzt schaute sie mich mit zusammengekniffenem Blick an und ihre Augen funkelten wie kleine scharfe Wurfsterne von einem dieser Ninja-Manga-Mädchen an der Wand.

»Haste schon mal in den Spiegel geguckt?«

Sie blickte mich fragend an und rannte ins Bad. Vor dem Spiegel fummelte sie mit den Fingern in ihrem ramponiertem Gesicht herum und murmelte immerzu: »Oh, Ohhh, OH!« Dann gab sie der Tür einen Tritt und rief:

»Dante, mein Lieber, warte bitte einen Moment.« Seit wann war ich ihr Lieber? Ich blieb im Zimmer stehen und Fragezeichen regneten auf mich herab wie ein Monsun im Juli. Schließlich kam sie aus dem Bad. Das Gesicht gewaschen, eine Sonnenbrille vor ihrem lädiertem Auge und sonst nackt. Sie beachtete mich gar nicht und kramte aus ihrem Klamottenstapel eine Jeans, Socken und ein Shirt. Eine Unterhose suchte sie nicht. Ihre Haut war weiß wie Weizenmehl. Überall hatte sie kleine Tattoos. Eine Seejungfrau, einige schlecht gestochene Messer, unerklärliche Tribals und wieder die Mangafiguren mit den großen Augen und den schwarzen Haaren, die sie sich wohl für ihre eigene Frisur abgeguckt hatte. Auf ihrem Bauch stand ein Spruch, den ich nicht lesen konnte. Ihre Brustwarzen waren durchstochen und auch an ihrer Scham meinte ich mehrere glänzende Ringe entdeckt zu haben. Über ihrem kleinen Dreieck blickte einem das aufgerissene Maul einer Kobra entgegen. Sie schlängelte sich durch ihr Gekräusel hinunter bis zu ihrem linken Knie. Diese Tätowierung war bunt und mit genialen Schatteneffekten, die dem Körper der Schlange eine real wirkende Plastizität verschafften. Bei näherem Hinsehen konnte man erkennen, dass sich das kunstvoll gestochene Tier häutete. Ich bemühte mich, nicht so zu starren, aber es gelang mir nicht wirklich. Doch Novelle beachtete mich gar nicht. Mir fielen die Narben über ihren Handgelenken auf. Mehrere quer und darüber an jeder Seite zwei große längliche, die entsetzlich entschlossen aussahen. Auch hatte sie einige blaue Flecken, einen großen an ihrer Seite. Novelle war wirklich kaputt. Als sie die Sachen übergezogen hatte, zog sie mich an meinem Ärmel aus ihrem Loch, schloss die Tür und sagte mit einer selbstverständlichen Bestimmtheit:

»Gehen wir!«

Jetzt beantwortete sich meine Frage, weshalb sie auch bei heißem Wetter immer Hemden oder Shirts mit langen Armen trug. Das war aber auch schon alles. Wer war dieses Mädchen? Ein derb fluchendes und saufendes Miststück? Oder dieses süße, scheue, traurige Ding, das jeder wie automatisch beschützen oder retten wollte. Mein Fragezeichen-Monsun wuchs zu einer Überschwemmung heran.

Novelle hielt mich immer noch am Ärmel und zog mich vorausgehend über den Hof durch den Hintereingang des Hotels, durch die Küche in Richtung draußen.

»Moment!« Mimi stoppte uns. Sie zog ihre Schürze aus, legte sie auf einen der Tische und blickte zu Polischuk hinüber. Mimi beherrschte die Kunst der wortlosen Kommunikation. Nur mit ihrem kleinen schielendem Blick konnte sie Anweisungen geben oder ihre Meinung äußern, die jeder verstand. Sie huschte kurz die Treppen nach oben und stand keine Minute später mit einem Strohhut auf dem Kopf und einer Tasche unter dem Arm bei uns auf der Straße vor dem Hotel.

Das perfekte Grau

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