Читать книгу Das perfekte Grau - Salih Jamal - Страница 8

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4. STÜHLE RÜCKEN

Rofu war pechschwarz, bullig und glatzköpfig. Ein Typ, der eine herzliche Offenheit ausstrahlte. Vielleicht war das sein ganz eigener Weg, all dem Grauen, vor dem er einst fortlief und das ihm immer wieder mit anderen und neuen Gesichtern einholte, zu entgehen. Sein Rezept, den Schrecken und das Furchtbare nicht an sich heranzulassen? Auf seiner linken Seite fehlte ihm das Ohr, sein Handgelenk stand, vermutlich durch einen schlecht verheilten Bruch, etwas schief von seinem Arm ab. Außerdem war er gläubig. Schon das alleine ist in der heutigen Zeit suspekt. Zu allem, was er sagte und was ihm wichtig erschien, packte er ein »Allah« entweder vorne oder hinten an seinen Satz, um die Notwendigkeit und die Wichtigkeit des Himmels nochmals zu unterstreichen.

Mimi gesellte sich nie zu uns. Sie ging zweimal die Woche, immer an den gleichen Tagen, auf die Promenade zu ihrem Austernteller mit Weißwein, zog an ihrer Zigarettenspitze und blickte in die Ferne.

Wenn Novelle mit ihrer Arbeit fertig war, fuhr sie die zwanzig Kilometer mit dem Zug in die größere Stadt. Das machte sie beinahe an jedem Abend. Durch die dünnen Wände hörte ich oft, wenn sie nachts nach Hause kam und ihre Schuhe in eine Ecke des Zimmers pfefferte oder über etwas stolperte. Sie war so um die zwanzig Jahre alt. Ich wusste, dass sie sich nicht nur abends, wenn sie ausging, betrank. Sie soff auch tagsüber. Sie stahl die kleinen Schnapsflaschen aus den Minibars. Ich sah sie einmal, als sie aus einem bereits gemachten Zimmer kam und eine Handvoll von Minileergut in dem Müllsack an ihrem Reinigungswagen verschwinden ließ. Jacks, Gins, Beans und eine kleine grüne Piccolo-Flasche.

Wenn ich ihr auf dem Flur begegnete, dann murmelte sie immer etwas Unverständliches vor sich hin. Es hörte sich an, als würde sie in einer fremden Sprache leise flüstern. Es klang klagend, beschwörend und auch ein wenig traurig. Manchmal blitzte ihr Gesicht unter den langen schwarzen Fransen ihres Ponys auf, dann sah man trotz der dicken Kajallinien die harten Drinks, die ihre Augen so trübe machten wie die Anisschnäpse, die sie in sich hineinschüttete.

Freitags wurde im großen Frühstücksraum Bingo gespielt. Ich musste am Nachmittag die Tische rumrücken, das Mikrofon aufbauen und die Lautsprecherkabel so verlegen, dass man sie nicht sah. Rofu half mir bei den Stühlen.

»Hast du Kabel gut versteckt?«

»DAS Kabel«, antwortete ich, während ich mit drei Stühlen balancierte.

»Ja, sag ich ja. Kabel.« Rofu guckte mit seinen großen weißen Augen aus seinem schwarzen Gesicht.

»DAS Kabel, heißt es. Da muss ein Artikel vor das Substantiv.«

Ich ließ die Stühle ab, stützte mich mit einer Hand auf ein Knie und versuchte mit der anderen

meinen Rücken einzurenken.

»Hä?« Rofu tat verwundert. »Vorne steht doch das Stativ. Für Mikrofon! Und was für ein Artikel fehlt? Kabel ist da, Mikrofon und auch kleiner Verstärker.«

Ich wusste nicht, ob er mich wegen seiner mangelnden Sprachkenntnisse oder wegen des fehlenden Ohrs nicht verstand.

»DAS Kabel, DAS Mikrofon und DAS Stativ.«

»Verstehe.« Er grinste. »Alles da.«

»Ich meinte SUBSTANTIV. Und ja, alle Artikel sind da. Oder auch nicht«, murmelte ich noch in mich hinein.

»Was ist Sub-Stativ?«

Das hätte jetzt noch ewig so mit meinem Wumbaba gehen können.

»Das Stativ ist völlig okay. Es steht da gut.«

Rofu konnte einen mit seinem auf dumm gestellten Gesicht einfach zu Boden grinsen. Ich mochte den Kerl. Also schleppten wir weiter Stühle, bis ich durchgeschwitzt und fertig war. Ich richtete mich auf und fühlte, wie meine Bandscheiben wieder an ihre richtigen Stellen rutschten. Ich trug immer drei ineinander gestapelte Stühle, was mich an meine Grenzen brachte. Rofu hatte jedes Mal fünf in den Händen. Ich kam mir vor wie ein Würstchen. Herausfordernd und schnaufend sah ich ihn an.

»Weißt du, Rofu, für jeden Arsch gibt es rein rechnerisch eine bestimmte Anzahl an Stühlen. Die Sessel und Sitzgruppen, auf denen mehrere Ärsche Platz nehmen, nicht eingerechnet, sonst wird es unübersichtlich. Es gibt Stühle in Schulen, auf Flughäfen, Bürostühle in den Büros und Konferenzstühle für Konferenzetagen. Stühle stehen in Ämtern, in Hotels, bei mir zu Hause und wer weiß sonst wo. Es gibt Milliarden Stühle. Die der Chinesen noch nicht einmal eingerechnet. Was meinst du, wie viele Stühle ein einzelner Arsch so im Schnitt hat? So überschlägig. Ich habe zum Beispiel bei mir auf der Terrasse zwei und einen in der Küche. Aber ich schätze mal, ich hatte für meinen einzigen bescheidenen Arsch, der gar keine großen Ansprüche stellt, bestimmt zwanzig eigene Stühle und dann noch die, die mir angeboten und bereitgestellt worden sind. Das müssen Hunderte gewesen sein. Bei sechs oder acht Milliarden Menschen kann man sich schon ausrechnen, welch gigantisches Stuhlvolumen da draußen ist und wie viele Ärsche für andere Ärsche genau diese Stühle bis zum letzten Stuhlgang von hier nach dort schleppen. Dabei ist das Sitzen erwiesenermaßen gar nicht so gesund.«

Rofu schaute mich verwirrt an, dann schüttelte er den Kopf, als wäre ich ein bisschen meschugge, und machte kommentarlos weiter. Schließlich richteten wir den Saal her und ich prüfte noch mal, ob die Kabel auch keine Stolperfallen bildeten. Das war der Schmottke besonders wichtig. Wenn die alten Leute einmal hinfielen und sich die Oberschenkelhälse brächen, dann wär’s vorbei und die Stammgäste checkten für die nächsten Jahre in Rehazentren oder gleich auf Demenzstationen ein, anstatt hier an der Küste ihr Geld zu lassen, bevor sie es ihren Enkeln

vererben.

Ich hasste die Geldgeilheit der alten Wachtel und ich verachtete ihre krummen Finger, die nach jeder Münze griffen, die man ihr vor die Füße legte.

Wenn Gäste auscheckten, schlich sie wie eine hungrige Vogelspinne oft noch vor der Reinigung in die Zimmer, um hingelegtes Geld oder sonst ein Dankeschön, das für die Zimmermädchen bestimmt war, in ihrem Kleid verschwinden zu lassen. Auch was von den Gästen vergessen wurde, konfiszierte sie erst einmal, und für das, was sie freigab, ließ sie sich den Rückversand per Post immer mit dem doppelten Porto im Voraus bezahlen. Wertvolle Sachen behielt sie einfach oder sie tauchten als Gewinne beim Bingo wieder auf. Wegen ihrer Körperfülle konnte sie sich nicht gut bücken. Deshalb streute ich gerne ab und an ein paar Münzen. Nur damit sie sich zum Aufheben anstrengen musste. Dabei ächzte sie und hielt sich mit einer Hand irgendwo balancierend fest, während sie mit der anderen versuchte, die Geldstücke aufzukratzen.

Immer wenn sie knauserig war und uns den kleinen Lohn kürzte, zum Beispiel für ominöse Stromverbräuche unserer überteuerten Kaninchenställe mit Durchlauferhitzer und Nachtspeicheröfen, wollte ich ihr zuraunen, dass das letzte Hemd keine Taschen hat. Aber ich verkniff es mir lieber. Alles in allem war das Leben hier gut, und ich wollte es mir nicht verscherzen.

Das perfekte Grau

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