Читать книгу Das perfekte Grau - Salih Jamal - Страница 6

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2. ZIMMER 13

Die Besitzerin des Hotels, Frau Schmottke, eine verwitwete, sehr resolute Frau in ihren Sechzigern, hatte in diesem Jahr neue Läufer spendiert. Die alten Teppiche mit ihren durchgetretenen und zerfransten Löchern mussten ausgetauscht werden. Doch noch saß ich vor den röchelnden Heizkörpern und pinselte über die rostigen Stellen, ohne diese vorher geschliffen und grundiert zu haben.

Bald würde es Mai werden und die ersten Gäste waren schon da. Die üblichen Frühankömmlinge, die irgendeinen Vorteil darin sehen, vor den anderen die Ersten zu sein. Am Supermarktregal, im Büro oder hier im späten Frühjahr an der Küste. »Morgenstund hat Gold im Mund« und »der frühe Vogel fängt den Wurm« – das sind ihre Leitmotive. Ich war schon immer der Meinung, dass dem späten Wurm der frühe Vogel den Buckel runterrutschen kann. Also saß ich jetzt, um circa zehn Uhr dreißig, in Zimmer 13 auf dem Boden zwischen Heizkörper und Bett. Die 13 war das kleinste Zimmer und war früher ein Teil der 12 gewesen, als die noch eine stolze Suite war. Irgendwann, als die große Zeit der Suiten vorüber war, wurde die 12 zerteilt, so dass das neue Zimmer 13 entstand. Man sah es an der zu schmalen Tür, die knapp neben dem Fahrstuhl in die Wand gepresst worden war.

Auf dem Weg vom Keller nach oben hatte ich mir, mit Lackdose, etwas Verdünner, Lappen und Pinsel bewaffnet, bei Mimi noch schnell einen Kaffee und zwei Croissants mitgenommen. Der Frühstücksraum wurde immer ab zehn Uhr abgedeckt. Mimi war vor vielen Jahren, so erzählte man mir, mit ihrer zu großen Brille und auf ihren stöckeligen Schuhen im Grand Hotel angekommen. Sie blieb und wurde trotz ihrer gleichbleibend jungen Klamotten jedes Jahr etwas älter. Mimi war mir bei all den zufriedenen Momenten auch immer eine Warnung, nicht den Absprung zu verpassen. Aber es ging gerade erst in meine zweite Saison und eigentlich war nichts zu befürchten. Mit ihrer viel zu dünnen Statur, ihren Absatzschuhen, den zu großen und bunten Brillen, zu engen Pullovern, den leicht aus der Zeit gefallenen zu kurzen Röcken und ihrer Doris-Day-Frisur war Mimi in diesem kleinen Küstennest beinahe eine Attraktion. Das wäre sie aber ganz sicher auch in Paris gewesen. Abends sah man sie oft mit rot angemalten Lippen und aus einer Zigarettenspitze rauchend bei einem Teller Austern an der Promenade sitzen und aufs Meer blicken. Sie kam aus England, und als ich sie einmal in der Küche fragte, wie sie hierhergekommen sei, erhielt ich keine Antwort. Überhaupt sagte Mimi nicht viel. Sie war hier das Mädchen für alles und führte unter dem Kommando der Schmottke den ganzen Laden. Sie machte Frühstück und auch sehr oft die Betten, und sie ging einkaufen, während die Chefin in ihrem schwarzen Wickelkittel fett hinter dem Rezeptionstresen in einem bequemem Stuhl saß und Anweisungen durch den Flur herrschte:

»MIMI! Wo ist dies? MIMI! Wo ist das? MIMIIIEE!! Hol mir sofort das soundso. MIMI, hast du mir meine Eclairs mitgebracht?«

»DANTE! Neue Gäste sind an-ge-kommen. DIE KOFFÄÄR!«

Frau Schmottke hatte sich aus gefräßiger Faulheit, die sie träge und immer dicker werden ließ, schon längst eine ein Hotel gebietende Diskretion und Zurückhaltung abgewöhnt.

Ante … Meine Eltern gaben mir diesen Namen. In Kroatien eine ziemlich beliebte Kurzform von Anton. Aber seit ich denken kann, nennen mich die Leute Dante. Wie der mit dem Inferno. Mir gefiel das und es passte auch irgendwie. Wenn ich ehrlich mit mir bin, ist alles, was ich bis jetzt hinterlassen habe, nichts anderes als so ein Inferno – Pleiten, Misserfolg und Schiffbruch. Vielleicht bin ich damals nur deshalb den zweiten Sommer geblieben und nicht weitergezogen, weil sich nichts ereignete, das mich erschüttert und somit aufgescheucht hätte. Hier war mein inneres Pochen einfach leiser und so träumte ich mich durch die Tage. Ich hatte schon viele Träume gehabt. Träume, die verblassten oder zerrannen. Andere, die ausgeträumt waren oder die mir genommen wurden.

Es ist nicht die Physik, die die Erde dreht. Es sind die Träume, die alles bewegen und uns zum Leben drängen. Und dennoch bringen dich manche Träume um. Meist sind es die, denen du nachjagst oder die dich verfolgen. Ich wollte keinen neuen Traum, der mich ins Ungewisse führen würde. Ich wollte mir Zeit nehmen, bis sich etwas Richtiges ergab. Zu oft zündeln Träume in der Hitze eines einzigen Momentes, schwelen unbemerkt und heimlich und entfachen neues Feuer, bis man an ihnen zu Asche verbrannt ist.

Die Gelassenheit des Ortes tat mir gut und brachte mich zur Ruhe. Wegen nichts und niemand lief man Gefahr, sich aus einer Laune heraus das Leben zu versauen. Nur Stillstand, Starre und begrabene Fantasie.

Mit Frauen hatte ich seit dieser Geschichte von damals nichts am Hut. Ich schaute nur, und ab und an machte ich es mir selbst. Ansonsten waren sie für mich wie scharf gekochte Gourmetspeisen, die ich durch die Schaufenster feiner Restaurants bei Kerzenschein auf den Tellern von anderen sah. Und das war gut so. Von mir aus konnte alles so bleiben, wie es war. Hier war ich sicher. Nicht anders und ebenso träge wie die Schmottke hinter ihrem Tresen. Nur während sie wie eine Spinne auf Gäste lauerte, wartete ich, ohne es damals gewusst zu haben, auf mein nächstes Inferno.

Mit dem Pinsel in der Hand, im engen Gang unter dem Fenster sitzend, hörte ich draußen auf der Straße Lärm. Eine Frau fluchte in einem vulgären Ton. Ich zog mich am Sims des Fensters etwas hoch, um mir die Szene anzuschauen. Normalerweise war das hier beinahe ein ruhiger Ort, in dem noch nicht einmal mehr die alten Kellner schimpften. Selbst das Schreien der Möwen klang eigenartig gelangweilt. Aber jetzt stand eine junge Frau vor unserem Hotel und wuchtete umständlich ihre Koffer aus dem Heck eines Taxis, während sie den Fahrer aufs Übelste beschimpfte. Dabei warf sie schäumend jedes Gepäckstück in Richtung des armen Kerls. Eine der Taschen öffnete sich und ihr Zeug verteilte sich. Der Wind, der immer vom Meer herüberblies, wehte ihre Unterwäsche durch die Gegend. Slips, Strümpfe, schwarze Herrensocken und Shirts flatterten über den Gehsteig.

»Was fällt dir ein, du Schmierarsch! Man sollte dir die Eier abschneiden oder den Schwanz zuknoten. Warum denkt ihr Typen immer aus der Hose?«

Der Taxifahrer stand verdattert neben ihr auf der Straße und versuchte, sie zu beruhigen. Doch jedes Mal, wenn er einen Schritt auf sie zumachte, schleuderte sie ihm neue Flüche entgegen. Sie schubste ihn zurück, spuckte ihn an, schlug nach ihm und versuchte, ihn ins Gesicht zu kratzen. Dabei sprang ihr die Wut aus den Augen und ich wartete darauf, dass sie über den Mann herfiel. Sie schnaubte und Reste von ihrem Ausgespuckten hingen an ihrem Kinn.

»Ihr Kerle seid Dreck! Verdammter, klebriger, stinkender Dreck! Und euren Schmutz … euren Schmutz … diesen verfickten Dreck, … den ihr … mit euren Schwänzen … Ihr seid verfluchte Schweine. SCHW-E-E-E-I-NE.«

Sie schnappte nach Luft und fuchtelte mit ihren Armen. Dann sah sie entsetzt auf die Menschen, die stehen geblieben waren, erstarrte, sank auf die Knie und fing an zu schluchzen und zu weinen. Dabei versuchte sie, auf allen vieren ihre Wäsche wieder zusammenzukehren, griff nach einem Teil, krallte und presste es zuerst gegen ihre Brust und wischte dann damit über ihr Gesicht, als ob sie gleichzeitig etwas von sich abputzen und sich verstecken wollte. Ihre Tränen verschmierten Mascara und Lippenstift zu einem verlaufenden Bild aus Schwarz und Rot. Sie japste nach Luft und aus ihrer Wut wurde Verzweiflung, die sie irgendwie zu beruhigen und zu trösten schien. Der Fahrer schüttelte den Kopf, ließ sie auf dem Gehsteig sitzen, stieg in sein Taxi und brauste davon. Ich kannte ihn vom Sehen. Ich sah mir das Schauspiel von oben noch eine Weile an. Die Schmottke hatte sich nach draußen bequemt, und Mimi versuchte als Einzige, das Häufchen Elend aufzurichten. Sie setzte sich zu ihr auf die Kante des Trottoirs und kramte eine Zigarette hervor, die sie sich ansteckte und zweimal tief an ihr sog. Dann reichte sie sie wortlos zu der Frau hinüber, deren Strumpfhosen zerrissen waren, und legte ihren Arm um ihre Schulter. Diese Wildkatze, die eben noch wie eine Furie den Taxifahrer beschimpft und mit ihren Sachen um sich geschmissen hatte, bibberte nun wie ein kleiner zerbrechlicher Vogel mit viel zu schnellem Herzschlag in Mimis Arm.

Als nichts mehr weiter geschah und nur noch die beiden Frauen zwischen den Koffern unten an der Straße saßen, zwängte ich mich wieder nach unten zu Lackdose und Pinsel. Nicht besonders sorgfältig überpinselte ich die rostigen Krater an den Lamellen der Heizung und vergaß dabei Mimi und die kleine Szenerie da draußen. Ich war müde und ein unbemerktes Nickerchen war fest eingeplant. Schließlich legte ich mich auf die Tagesdecke des Bettes und schlief tatsächlich ein. Wenn die Schmottke etwas wollte, dann hätte sie nach mir durch den Flur gebrüllt, und so war die Gefahr, entdeckt zu werden, nicht besonders groß. Wenn, dann wurde ich von Mimi oder von einem der Zimmermädchen erwischt, die zwar mit mir schimpften, weil ich ja das gemachte Bett wieder in Unordnung gebracht hatte. Aber das war nicht so schlimm und auch nie wirklich böse gemeint.

Hier am Meer war ich immer schläfrig. Es lag nicht an der Luft oder an der Langeweile. Auch nicht an der Vergänglichkeit, die schon vor Jahren allen Stolz dieses einstmals schönen Fleckchens Erde gebrochen hatte und der man sich wie von selbst ergab. Der Grund für meine Müdigkeit am Tag war ein anderer. Meine Gedanken in der Nacht verwehrten mir den Schlaf. In der nächtlichen Ruhe hörte ich immer noch dieses leise und lockende Trommeln meiner Kindheit. Ich spürte mein fast erloschenes Lebensverlangen, und wie neue Träume in mir anbrandeten und Unrat hinterließen. Wenn es still und dunkel war, donnerten rastlose Gedanken durch meinen Kopf. Wie bei einem Bahnhof fuhren Erinnerungen ein und nahmen alle Fragen, die ich schon längst für beantwortet hielt, wieder mit, um neue zu hinterlassen, die hektisch auf versteckten Fahrplänen nach besseren Antworten suchten. Diese Ruhelosigkeit ist tief in mir, ohne sie kann ich, so scheint es, nicht von mir selbst loskommen. Ich bin wie ein Flüchtling, der vor sich selbst abhaut, weil er den Alltag nicht ertragen kann. Immer wenn mir das Leben mit seinen nie aufhörenden Aufgaben zu viel wird, und das passiert für gewöhnlich sehr schnell, mache ich mich davon. Ich flatterte im Wind wie eine der zerrissenen Fahnen unten am Pier. Nichts hatte sich geändert, und meine innere Unruhe wollte nicht vergehen. Ich fühlte, dass ich auf etwas wartete: auf einen neuen Zusammenstoß. Bei rasender Fahrt über einer engen Küstenstraße. Im Mondschein. Vor mir auf kurviger Strecke die Sterne, unter mir das tosende Meer und hinter mir die dunkle Nacht.

Dann wachte ich auf. Ich stieß tatsächlich mit etwas zusammen. Oder vielmehr stieß mich etwas in den Rücken.

»Verdammt! Dante!« Mimi stand am Bett und rammte mir die untere Seite ihres nassen Schrubbers ins Kreuz. Ich war noch etwas benommen und rappelte mich auf.

»Die neuen Servicekräfte sind da und die Schmottke tobt.« Mimi presste ihre Fäuste an ihre Hüften und schaute streng über den Rand ihrer Brille auf mich hinab. Sie war ungefähr Mitte bis Ende vierzig, vielleicht auch Anfang fünfzig. Ich fragte mich, weshalb sie ihr Leben hier im Hotel verbrachte. Wenn man genau hinsah, war sie eine sehr schöne Frau, und keine Kittelschürze, die sie tagsüber trug, konnte ihr etwas von dieser damenhaften, mondän eleganten und leicht geheimnisvollen Aura entreißen. Mit spitzem und wie immer rot geschminkten Mund zischte sie mich an:

»Los! Nimm deine Farbeimer, wasch dich und mach deine Arbeit.«

»Schon gut, mon General«, sagte ich und sprang vom Bett aus Zimmer 13.

»Was war mit dem Mädchen da draußen?«, fragte ich, als ich meine Malutensilien vom Boden einsammelte.

»Ich weiß nicht. Aber die Kleine ist eine von den Neuen. Sie heißt Novelle. Sie stammt wohl aus dem Elsass.«

»In Frankreich?«

»Kennst du noch ein anderes Elsass?« Mimi rollte mit ihren Augen, die hinter den Brillengläsern und den angeklebten Wimpern wie große, grüne, unendlich tiefe Tümpel aussahen. Auf jeden Fall lag immer etwas geheimnisvoll Beunruhigendes und Dunkles in ihrem Blick. Doch wenn man von Mimis Pupillen zu den Rändern ihrer Iris schaute, veränderte sich das Tief des Grüns von fast schwarz beinahe in einen leuchtenden, hellen Ton.

»Nein, eigentlich nicht«, murmelte ich meine Antwort, »vielleicht noch das Elsass bei Lothringen.«

»Schwachkopf«, zischte sie und warf mir ein Putztuch von ihrem Servicewagen, auf dem alles für das Herrichten der Zimmer bereitstand, entgegen.

»Wieso heißt die wie ein Buch? Novelle? Das ist doch kein Name? Und hat sie der Taxifahrer angefasst oder so?«

»Ich weiß es nicht. Frag nicht so viel. Als wir ins Hotel gegangen sind, war sie jedenfalls zuckersüß, und sie hat sogar vor der Schmottke einen kleinen Knicks gemacht. Als wäre nichts gewesen. Mit der stimmt etwas nicht. Wie ausgewechselt hat sie die Alte um den Finger gewickelt. Sogar die Katze hat sie am Nacken gekrault. Kannst du dir das vorstellen?«

»Echt?« Ich war wirklich überrascht. Die Hauskatze hätte ich allenfalls mit einer Zange gestreichelt.

»Aber ist ja nicht das Schlechteste«, entgegnete ich. »Jemand, der irgendeinen Zugang zu der Schmottke hat. Vielleicht hilft uns das was.«

Wie eine Notgemeinschaft verband uns der Hass auf die fette Wachtel unten am Tresen. Selbst im Winter, wenn kaum oder tagelang gar keine Gäste da waren, saß sie in ihrem Sessel hinter der Rezeption. Ein kleiner Fernseher stand im Eck, die Fernbedienung lag auf der Armlehne und vor sich hatte sie immer einen Teller Eclairs. Zu ihren Füßen schnurrte die Katze. Ein ebenso dickes und heimtückisches Tier wie sie selbst. Mimi richtete das Bett, dann wackelte sie auf ihren Absätzen über den Flur und schob ihren Wagen zum nächsten Zimmer, während ich mit meinem Kram nach unten trabte.

Das perfekte Grau

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