Читать книгу Das perfekte Grau - Salih Jamal - Страница 7
Оглавление3. KLEINE HEIMAT
Das Personal wohnte, genau wie ich auch, hinten im Hof in umgebauten Ställen. Nur Mimi lebte in einem der Hotelzimmer. Zwar auf der obersten Etage, aber immerhin. Die Unterkünfte sahen aus wie typische amerikanische Motels. Es mutete alles ein bisschen wie in Hitchcocks Psycho an. Vorne das alte ehrwürdige, große Hotel mit dem kleinen Türmchen und den Holzschnitzereien, die an jedem Balkon anders aussahen. Hinten auf der einen Seite die Garagen mit rostigen und schiefen Toren. Ostzonen-Einheitstod in Waschbeton. Gegenüber die ehemaligen Stallungen, in denen wir lebten. Verbeultes Blech unter einem Flachdach und nach hinten eine kleine Veranda aus morschem Holz, die früher einmal strahlend weiß gestrichen gewesen sein musste. Jetzt war sie bemoost und zerfiel, so als würden Maden allmählich Stücke aus einer herumliegenden Leiche abtragen, bis nur noch ein Gerippe übrig bleiben würde. Wenigstens das. Es waren insgesamt acht Appartements mit separatem Bad und zerschlissenen Möbeln aus den vergangenen Jahren, die den Hotelzimmern nicht mehr zuzumuten waren. Leider galt das auch für die Matratzen. Verwanzte und durchgelegene Dinger. In zwei Wohnungen sogar dreiteilig – noch mit Sprungfedern. Das waren die Unterkünfte der ärmsten Säue, der illegalen Küchenhelfer.
Der letzte, der da war, ein Afghane, war im vergangenen Jahr einfach verschwunden. Zum Glück erst im späten Herbst, so dass ich Mimi nur an den Wochenenden in der Küche helfen musste. Kartoffeln schälen, wischen und Zeugs hin und hertragen, Essensabfälle entsorgen. Nie hätte sich die Schmottke einen Ersatz gesucht, denn der wäre dann teuer gewesen. Es gab im Hotel noch einen fest angestellten Koch. Argor Polischuk. Neben Mimi die andere feste Größe im Haus. Er hatte zuvor auf einem Frachter aus Sankt Petersburg in der Kombüse gearbeitet. Vermutlich hatte man ihn wegen seiner ekeligen Schmierigkeit, die an seinen Sachen, auf seiner Haut und an seiner Art klebte, in einem Beiboot ausgesetzt und er strandete wie der kleine Moses, aber mit Pest an Bord, hier im Schilf bei Frau Schmottke.
Die Flüchtlinge kamen meist im Frühjahr. Aber eigentlich waren wir alle, die nicht von je her hier lebten oder Urlaub machten, auf der Flucht. Egal ob Zimmermädchen oder Küchenhilfe. Wir waren Ausreißer mit nichts in der Tasche als Sehnsucht. Gefangen in der Gewissheit, dass alles Bleiben sinnlos und vor sich selbst wegzulaufen unmöglich ist. Aber das wusste ich damals noch nicht.
So lernte ich während der Arbeit Mimi etwas besser kennen und, ja, auch ein bisschen zu lieben. Es mag etwas absurd klingen. Mimi war gut fünfzehn bis zwanzig Jahre älter als ich, und dennoch stellte ich mir ab und an vor, es mit ihr zu tun. Danach schämte ich mich jedes Mal ein wenig. Aber sie war eine interessante Frau, und wenn man genau hinsah, war sie auf ihre Art schön. Sie hatte lange Beine, ganz sicher einen wohlgeformten Busen, und ihr Silberblick hinter der Brille über ihrem spitzen Mund war nie ganz zu deuten. Meist beließen wir unsere Unterhaltungen auf der Arbeitsebene. Sie fragte mich nichts, und ich wusste, dass sie mir auch keine wirklichen Antworten geben würde. Sie verrichtete ihr Tagwerk und das war’s. Vielleicht hatte sie es sich abgewöhnt, die Saisonkräfte kennenlernen zu wollen, weil es eh nichts brachte. Mimi stand auf eine gleichgültige Art über all den Dingen, die nicht Teil von ihr waren. Sie war fremd in dem Ort, in dem Hotel, und auch in ihrer Kleidung wirkte sie, als ob sie nicht dazugehören würde. Sie schien hier an diesem Ort festzuhängen und auf irgendetwas zu warten. Also stellte ich keine großen Fragen und nur in meinen Träumen schlich ich ab und an in ihr Zimmer und streifte ihr das Nachthemd ab.
Im vergangenen Winter, als die Schmottke über die Weihnachtsfeiertage weg war – sie besuchte dann ihre Cousine in Frankfurt, die dort mit einem Banker verheiratet in einem dieser großen Häusern mit Vorgarten lebte –, hielt ich meine Kreuzschmerzen nicht mehr aus und tauschte meine Matratze mit einer der neueren aus einem Zimmer im Hotel. Nachts um vier wuchtete ich das unhandliche und bockige Ding durch das Treppenhaus. Dabei stolperte ich über ein Loch in den verschlissenen Läufern, stürzte den ganzen Absatz hinab und landete unter meiner Matratze auf der Zwischenebene der Stiegen. Nachdem ich mich wieder aufgerappelt hatte, sah ich Mimi oben im Flur. Sie saß in einem Pyjama auf den Stufen, rauchte eine Zigarette und schaute vorwurfsvoll auf die Szenerie. Sie trug keine Brille, und jetzt sah ich, dass sie kurze rote Haare hatte, die sie wohl immer unter dieser Doris-Day-Perücke versteckte. Sie sagte nichts, dann drückte sie die Kippe in einer Ecke auf dem Boden aus, ließ sie liegen und ging in ihr Zimmer.
Der Sommer wollte bald kommen und die Tage brachten schon jetzt in gezeitengleicher Regelmäßigkeit ein fortwährendes Ankommen und Abreisen der Gäste. Die neue Küchenhilfe war ein stiernackiger Sudanese, er wohnte tatsächlich in dem Appartement mit den ältesten Möbeln und der verschlissensten Matratze.
Die Neue, Novelle, hatte das Zimmer neben meinem. Wir hatten einen schlechten Start. Während der Arbeit mussten wir alle Namensschildchen tragen. Die Schmottke fand das persönlicher. Als Novelle mit Schürze an ihrem ersten Arbeitstag in die Küche kam, hatte ich für mich ein Schild mit dem Namen »R.OMAN« gebastelt. Für Mimi machte ich eines mit »P.ROSA«, und auch Rofu, der Küchenhelfer aus dem Sudan, hatte ein Schild, auf dem »G.DICHT« stand. Ich fand es spaßig. Mimi verzog ihren Mund, steckte sich das Ding aber an. Novelle fand das zunächst ziemlich lustig. Zuerst kicherte sie darüber und hielt sich dabei vornehm die Hand vor die Zahnlücke in ihrem Mund und legte den Kopf auf die Seite. Danach verfiel sie in schallendes Lachen, ihr Brustkorb und ihre Schultern zuckten immer mehr in ihrem Ringen nach Luft. Sie konnte gar nicht mehr aufhören und wiederholte prustend immer wieder »ROMAAAAN« und gluckste »P Punkt ROSA«. Doch von einem zum anderen Moment erstarrte sie, blieb eine Weile regungslos stehen und spuckte dann vor uns auf den Küchenboden:
»Ich hab mir den Scheißnamen nicht ausgesucht, ihr Wichser. Ihr könnt euch euer literarisches Quartett in eure Ärsche schieben.«
Sehr viel später erzählte sie uns, dass ihre Mutter den Namen bestimmte. Sie hatte einen kleinen Frankreich-Tick und las gerne die Novellen von Maupassant. Und Novelle klang gegenüber einer längst geläufigen Nicole doch viel französischer.
Sie nahm ihr Schild und verließ den Raum. Auch wenn ich es verbockt hatte, Novelle schien ein Talent für schlechte Anfänge zu haben. Der Taxifahrer erzählte mir später einmal bei einem Bier, dass sie damals, als er sie ins Hotel brachte, von einer auf die andere Sekunde ausgerastet sei. Ein Wunder, dass die Schmottke sie an dem Tag nicht wieder weggeschickt hatte.
Jedenfalls herrschte in der ersten Hälfte des Sommers Funkstille zwischen Novelle und mir. Mimi sprach ja eh nicht viel. Also verbrachte ich meine freien Tage damit, nichts zu tun. Ich las sehr viel und empfand Freiheit, die nicht durch unangenehme Pflichten gestört wurde.
Manchmal ging ich abends rüber zu Rofu, dem neuen Hilfskoch. Im Schein unzähliger Teelichter auf den alten Plastikmöbeln seiner Terrasse aßen wir gegrilltes Hühnchen mit sonderbaren Gewürzen. Ich sah, wie gerne mich Rofu bewirtete, wie er sich freute und wie er sich mit dem wenigen, das er hatte und bieten konnte, Mühe gab. Wer sein Obdach teilen kann, besitzt eine kleine Heimat. Wie alle Flüchtlinge sehnte sich Rofu nach Ankommen, nach etwas, das ihm das Verstecken, das Verleugnen, den unruhigen Schulterblick und die Hatz von den Gliedern nahm. Nach einem Zipfel Zuhause, in dem er sicher war und, so wie jeder, der ein Heim hat, seine Lasten in die Ecke stellen konnte, ohne dass er auf sie aufpassen musste.
Es ist egal, wovor du flüchtest. Vor den Dämonen einer Vergangenheit, vor Gewalt, Unfreiheit oder dem Tod. Vor dem Alter, der Justiz oder vor Durst und unstillbarem Hunger. Alle, die weglaufen, um das Land ihrer Sehnsucht zu finden, bezahlen den Preis ihrer Herkunft auf Raten.
Dass Rofu mein Gastgeber sein konnte, gab ihm nach seiner langen Reise ein Stück seiner Heimat und damit etwas von seiner Würde zurück. Die meisten bekommen, wenn von Heimat die Rede ist, ein sentimentales Gefühl, das sich wohlig warm über den Körper verteilt. Mich hingegen schaudert’s und es läuft mir kalt den Rücken hinunter. Ich wollte, dass mich keiner wirklich kannte, so wie dort, wo ein Zuhause ist. Weil mein wirkliches Ich zu feige war, genau hinzuschauen, sich seinem Spiegelbild zu stellen, sich zu betrachten, um zu sehen, was da ist. Nur da, wo die Heimat ist, wird man erkannt. Ich versteckte mich lieber.