Читать книгу Zelle 14 - Salomon Bernhard - Страница 9
NARBEN
ОглавлениеKlara hatte immer diese zwei Möglichkeiten.
Möglichkeit eins. Ihr Leben genießen. Die Villa am Kahlenberg mit Blick über Wien. Den Jaguar. Die Kreditkarte. Den Neid der anderen. Und den Preis dafür bezahlen. Wegsehen, wenn ihr Mann sie betrügt. Sich klein machen.
Möglichkeit zwei. Alles zerstören und sich selbst dabei wegwerfen.
Ich kann immer die verstehen, die alles zerstören.
Trage ich Klaras Sachen, ist das etwas Besonderes. Sie geben mir Kraft. Sie bringen mir Glück.
Ich bin nach zwei Monaten noch immer nicht richtig im Forensischen Zentrum Asten angekommen. Ich laufe noch wirr durch die Gänge. Dieser moderne Bau mit Fußbodenheizung. Sie sagen, dass an heißen Sommertagen vom Boden auch die Kühle kommt.
Ich will mich noch immer ständig bedanken. Für die Höflichkeit und für vier weitere Dinge, mit denen sie uns hier zu Menschen machen.
Erstens. Für die Schlüssel. Ich hatte siebeneinhalb Jahre lang keine. Jetzt trage ich zwei bei mir. Einen für den Schrank in meiner Zelle. Einen für das Fach mit meiner Zellennummer im Kühlschrank. Ich bin in Zelle 14. Die Beamten und die Pfleger haben Generalschlüssel und benutzen sie auch. Morgens, wenn sie uns das Frühstück in unsere Fächer legen, kontrollieren sie deren Inhalt. Manche Frauen horten, was sie kriegen können und vergessen es. Die Beamten werfen schimmelnden Philadelphia-Käse oder fauliges Obst weg. Bei einer Razzia öffnen sie mit ihren Generalschlüsseln die Schränke. Es macht trotzdem etwas mit dir, wenn du Schlüssel hast.
Zweitens. Für die Fenster. Sie haben Vorhänge und lassen sich kippen. Es sind zwar Gitter davor, aber schöne. Nicht diese Stäbe. Die Gitter sehen aus wie Fliegengitter. Zu grobmaschig für Fliegen, aber nicht für anderes fliegendes Getier. Als wären wir keine Diebe, Stalker, Mörder, Brandstifter und Kinderschänder, sondern große wilde Schmetterlinge.
Drittens. Für mein Bett. Es hat eine normale Matratze. Es ist keine von diesen dünnen schlecht riechenden Matratzen, die ich aus anderen Gefängnissen kenne.
Viertens. Für das Essen. Es ist nicht die übliche fettige Pampe. In der Früh legen sie uns Plastiktassen mit Honig, Marmelade oder Nutella in die Fächer. Dazu Butter und Obst. Ich sammle immer die übrig gebliebenen Honigtassen. Ich brauche sie für etwas.
Zu Mittag gibt es Suppe. Meist klare mit Nudeln oder Backerbsen. Danach klassische österreichische Hausmannskost. Szegediner Gulyas. Gebratener Leberkäse mit Spinat und Kartoffelrösti. Überbackene Krautfleckerl. Manchmal auch Spaghetti Bolognese. Am Wochenende Rindfleisch mit Kartoffeln oder Reis.
Am Abend Wurst, etwa hundert Gramm. Oder Leberkäse und ein gekochtes Ei. Zwei Scheiben Brot.
Fünftens. Für meine Zelle. Sie liegt im ersten Stock und ist eine kleine Ein-Zimmer-Wohnung. Das Bett. Dusche. Klo. Ein Waschbecken mit Spiegel. Der verschließbare Schrank. Das Regal, auf dem jetzt mein selbst gekaufter Fernseher steht. Ein kleiner Tisch, der wie ein Esstisch aussieht. Ein größerer Tisch mit zwei Laden. Meine Staffelei. Durch das Fenster sehe ich Dächer. In der Ferne ein Feld. Unten den Ausgang eines Männertraktes.
Trotzdem waren die vergangenen zwei Monate schwer. Mich schwindelte oft und mein Stoffwechsel war blockiert. Ich aß Haferbrei. Meine Haare waren strähnig. Jetzt finde ich mich langsam zurecht. Ich weiß langsam, wer meine Freunde sind und wer nicht zu uns gehört. Ich bekomme langsam meine alte Rolle zurück. Die berühmte Doppelmörderin, die in der Häftlingshierarchie ganz oben steht. Zu deren Freunden du besser gehörst.
Heute ziehe ich das rote Dolce & Gabbana-T-Shirt an. Zur Feier meiner langsamen Ankunft.
Esti, ach Esti. Dein T-Shirt gefällt mir.
Ich lächle. Guten Morgen.
Dorothea sitzt mit zwei anderen Frauen vor dem ausgeschalteten Fernseher im Wohnzimmer. Obwohl es drei Sofas gibt, sitzen sie alle auf einem. Dabei ist keine von ihnen schlank. Keine hat weniger als hundert Kilo. Auch nicht die freundliche Dorothea. Sie warten auf die Haustechniker. In der Kammer, die sie Raucherlounge nennen, ist die Lüftung kaputt. Kommen die Haustechniker, versüßt das ihren Alltag.
Sie haben diesen Trakt für uns umgebaut und neu eingerichtet. Manches funktioniert noch nicht. Die Haustechniker haben regelmäßig zu tun. Kabel verlegen. Fliesen tauschen. Den Verputz erneuern. Die Waschmaschine reparieren.
Zwei Männer kommen mit einer Leiter. Einen von ihnen kennen Dorothea und ihre Freundinnen offenbar. Sie deuten mit dem Kopf in seine Richtung, tuscheln, lachen derb, rücken noch enger zusammen.
Ich setze Wasser für grünen Tee auf und betrachte den Mann unauffällig Er ist groß. Schlank. Er ist blond. Blauer Blick. Diese Samurai-Frisur, die jetzt modern ist.
Meine Damen, sagt er. Wie gefällt es Ihnen hier?
Er lächelt.
Sie sind keine Damen. Zwei von ihnen haben keine Zähne mehr und ihre Prothesen tragen sie eher in ihren Hosentaschen als im Mund. Sie haben fettige Haare und ausgefranste Ohrläppchen von Ohrringen, die sie einander im Streit ausgerissen haben. Sie sind übersät mit Tätowierungen und waschen sich kaum.
Die Männer tragen die Leiter in die Raucherlounge und lassen die Tür offen. Der Blonde klettert hinauf und macht sich an den Lüftungsrohren zu schaffen. Seine dünnen Beine stecken in kurzen Arbeitshosen und -schuhen. Über dem rechten Knie hat er eine Tätowierung, sonst überall Narben. Er sieht nicht wie ein Haustechniker aus. Er muss einer von uns sein. Einer von uns mit einem Job.
Die anderen Frauen kennen ihn wahrscheinlich vom Hof. Dort trennt ein Zaun die Männer von den Frauen. Wie zwei Mannschaften auf zwei Seiten eines Spielfeldes. Ich meide den Hof. Ich vertrage Sonne schlecht und mindestens zwei der Männer schreien immer herüber. Eislady! Hallo Eislady! Komm zu uns!
Bist du ganz oben in der Hierarchie, musst du wissen, wann du dich rarmachst.
Frauen und Männer begegnen einander in den meisten Gefängnissen. Auf den Wegen durch die Gänge. Manchmal entsteht etwas dabei. Du bleibst stehen. Holst dir den Namen. Die Adresse weißt du ja. Schreibst Briefe und bekommst welche. Die Beamten lesen sie. Das ist dir egal. In der Gefängnismonotonie brauchst du etwas, das dir den Alltag versüßt.
Hier im Forensischen Zentrum Asten ist das Verhältnis zwischen den Geschlechtern besonders offen. Frauen und Männer begegnen einander nicht nur im Hof, sondern auch an vier weiteren Orten.
Erstens. Im Klienten-Café. Dort gibt es Tischchen wie im Besucherraum und eine Theke, an der du Kaffee und Kuchen bekommst. Sie machen es wöchentlich einmal im Mufu-Raum auf. Mufu-Raum wie Multifunktionsraum. Ich meide es aus den gleichen Gründen wie den Hof.
Zweitens. In der Werkstatt. Was wir dort machen, nennen sie nicht Arbeit, sondern Arbeitstherapie. Sie kriegen Aufträge von Firmen. Genau wie in der Justizanstalt Schwarzau. Vogelhäuschen zimmern, solche Sachen. Mit Werkzeugen. Hammer. Zange. Auch mit elektrischen. Mit Sägen. Ich bin bald zur Probe dort und werde sehen, wie es ist.
Drittens. Bei Anstaltsjobs wie Kochen oder Putzen. Diese Jobs geben sie eher Häftlingen ohne Maßnahmenvollzug, die es hier auch gibt. Von uns können die wenigsten zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein und eine bestimmte Aufgabe erledigen. Sie zahlen dafür 1, 30 Euro die Stunde. Die eine Hälfte davon geben sie dir gleich. Die andere heben sie für den Tag deiner Entlassung auf. Ich habe nie gefragt, wer dein Geld bekommt, wenn sie dich nie entlassen. Wahrscheinlich deine Erben. Ich bin abergläubisch. Es bringt bestimmt Unglück.
Viertens. Im Sportraum. Er dient zum Training an Geräten oder zum Ballspielen. Jede Wohngruppe hat dafür ein Zeitfenster. Überschneidet sich das Zeitfenster einer Männergruppe mit dem einer Frauengruppe, trainieren Männer und Frauen gemeinsam. Ich gehe regelmäßig hin und es war bisher in Ordnung.
Der Häftling auf der Leiter ist anders als die anderen Männer hier. Viele von ihnen sind als Psychopathen eingestuft. Das siehst du ihnen auch an. Doch dieser Typ hat edle Gesichtszüge. Er wirkt intelligent. Ein Traum-Handwerker. Jede Frau hätte ihn gerne, käme er zu ihr nach Hause, um etwas zu reparieren.
Ich ignoriere dich, denke ich. Die anderen sollen dich anhimmeln. Ich tue das nicht. Spielt ihr eure Spielchen. Auf mich müsst ihr verzichten.
Er sieht mich an.
Ich weiß nicht warum. Ich schäme mich.