Читать книгу Der falsche Bräutigam - Samantha James - Страница 5
Prolog
ОглавлениеBoston, 1830
Der Geruch von Salz lag durchdringend in der Luft, und es war ihr schwer ums Herz, denn sie konnte sich selbst nicht mehr länger betrügen ...
Sie lag im Sterben.
Im Raum befanden sich zwei kleine Jungen, ihre Söhne, die sie über alles liebte. Eine panische Schmerzattacke durchzuckte ihren Körper, doch sie war nichts im Vergleich zu den Schmerzen in ihrem Herzen. Und tief in ihrem Inneren keimte die Furcht auf, wie sie diesen beiden Jungen erklären sollte, daß sie bald für immer von ihnen scheiden mußte ... und sie allein zurückblieben, weil es ihren Vater wenig kümmerte, ob sie schmutzig und in Lumpen daherliefen.
Sie weinte still vor sich hin. Sie war allein mit ihren beiden Kindern, denn Patrick O’Connor verschwendete weder Geld noch Gefühle für seine Familie. Die meiste Zeit fand man ihn unten in seiner Schankstube – genauso betrunken wie seine Gäste. Lorettas Seele revoltierte angesichts dieser Ungerechtigkeit. Was würde nach ihrem Tod aus den beiden Söhnen werden? Ihr Vater nahm ja deren Existenz kaum wahr.
Ein Schauder lief durch ihren Körper. Allmächtiger Gott, die Welt war so ungerecht! Man beraubte sie ihres Lebens ... und ihre Söhne der Mutter. Als sie darüber nachdachte, wallten Schmerz und Zorn in ihrer Brust auf.
Doch nur ein qualvoller Seufzer kam über ihre Lippen. Bei diesem Laut vergruben sich kleine, zarte Finger in den ihren. Ein schwaches Lächeln huschte über ihre Lippen, die so blaß waren wie der Wintermond; Loretta O’Connor erwiderte den Händedruck, so gut sie eben konnte. Sie hielt sich fest, denn sie wollte noch nicht gehen ...
Ihr Ehemann bahnte sich seinen Weg durch den Raum. Er baute sich vor ihrem Bett auf, zeigte jedoch keine Spur von Mitgefühl. Statt dessen schnaubte er mit mißfälliger Miene und wandte sich dann ab, um ein Hemd von einem Haken an der Wand zu reißen. Er sprach nicht mit ihr und würdigte sie und ihre Kinder keines weiteren Blickes. Aber so war es immer gewesen, kam es Loretta mit erschreckender Deutlichkeit in den Sinn. Und so würde es immer sein ...
Innerlich weinte sie. Als ihr Ehemann das Zimmer verließ, vernahm man den Lärm vieler Männerstimmen und schallendes Gelächter, der durch das enge Stiegenhaus zu den oberen Räumen drang, aber die drei schenkten dem keine Beachtung.
Lorettas Blick hing sehnsüchtig an ihren beiden Söhnen, Morgan und Nathaniel. Für den Bruchteil einer Sekunde umspielte ein vages Lächeln ihre Lippen. Niemand hätte die beiden für Brüder gehalten. Und doch waren sie es ...
Einer der beiden war so hell wie ein Weizenfeld, der andere so dunkel wie eine Mondfinsternis. Der Jüngere, Nathaniel, hatte erst vor vier Jahren das Licht der Welt erblickt. Morgan, der ältere, war zehn Jahre alt. Er war melancholisch und nachdenklich, stets gehorsam und verständnisvoll. Sie hatte sich immer gefragt, warum die beiden so grundverschieden waren ...
Starke Schmerzen peinigten ihren Körper. Lieber Gott, rief sie in stummer Qual, wer würde ihnen helfen, wenn sie in Not geraten? Wenn sie sich voller Furcht ausmalte, was aus ihren Söhnen werden würde, konnte sie nur noch dankbar dafür sein, daß das zwischen den beiden Jungen geborene Baby gestorben war. Dem Herrn sei Dank, daß Morgan eine schnelle Auffassungsgabe und eine gesunde Konstitution besaß! Aber Loretta konnte sich nicht helfen, sie hatte Angst um Nathaniel.
Sicher, er war lebensfroh und gutmütig, und doch verfiel er manchmal in die Rücksichtslosigkeit und Borniertheit seines Vaters – dieses verfluchten Schuftes –, was ihn vermutlich in den kommenden Jahren noch in Schwierigkeiten bringen konnte.
Sie vernahm ein schwaches Hüsteln vom Ende des Bettes. Ein Taschentuch vor ihre Brust gedrückt, bemerkte Loretta, daß Nathaniel sie mit großen Augen verwirrt anstarrte. Er war still geworden – wie es so gar nicht seine Art war –, eine Stille, die die Sphären des Himmels zu umfangen schien. Trotz seiner Jugend schien er zu ahnen, daß etwas nicht stimmte. Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht.
Ihr Ende nahte.
Lorettas Atem wurde schwächer. Auf einmal wollte sie noch soviel sagen ..., und es blieb ihr nur so wenig Zeit.
Ihr Blick streifte Morgan. Wäre sie dazu in der Lage gewesen, hätte sie den Schmerz, der ihr Herz wie eine eiserne Klammer umfangen hielt, laut herausgeschrien. Morgans schöne graue Augen lagen tief in ihren Höhlen, sie waren gerötet und schimmerten feucht, aber er weinte nicht. Nein, denn es war nie seine Art gewesen zu weinen, egal, wie sehr man ihn auch verletzt hatte.
Mit letzter Kraft und vor Anstrengung zitternd drückte Loretta seine Hand. Ihre Lippen öffneten sich. Leise flehend blickte sie ihn an.
Der Junge beugte sich zu ihr hinunter.
Liebevoll betrachtete sie das kleine, blasse Gesicht. »Morgan«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Oh, Morgan, mein tapferer kleiner Junge ..., wie ich dich vermissen werde. Wie ich mir wünsche, bei dir sein zu können. Wie ich mir wünsche, daß ich bleiben könnte ...«
Die Augen den Jungen füllten sich mit Tränen, aber er weinte immer noch nicht.
»Morgan, jetzt mußt du auf deinen Bruder aufpassen. Oh, ich weiß, daß ich viel von dir verlange ..., aber ich weiß, daß du es kannst ...«
Verzweifelt schüttelte das Kind seinen Kopf. »Nein, Mutter, ich ...«
»Du kannst es«, antwortete ihm Loretta mit schwacher Stimme. »Du bist der ältere, Morgan. Nathaniel ist noch so klein. Er ist nicht so stark und tapfer wie du ...«
Wieder schüttelte der kleine Kerl seinen Kopf.
»Nein, das bist du wirklich! Und deshalb bin ich so stolz auf dich!« Loretta versuchte, ihn zu überzeugen und drückte seine Hand an ihre Brust. »Morgan, ich bitte dich darum! Du mußt tun ..., was ich nicht tun kann ..., was euer Vater nicht – tun will ... Dein Bruder ist noch so jung. Was wäre, wenn er wie dein Vater würde? Nein, er braucht jemanden, Morgan, jemanden wie dich ... Hilf ihm. Beschütze ihn.« Stoßweise entwich der Atem ihren Lungen. Als sie die Hände ihres Sohnes drückte, zeichneten sich auf ihrem Gesicht die schrecklichen Qualen ab. »Ich bitte dich, Morgan, enttäusche mich nicht! Versprich mir, daß du es für mich tust, denn sonst werde ich niemals Frieden finden!«
Der Junge schluckte und versuchte, das Zittern in seiner Stimme zu verbergen. »Ich ..., ich verspreche es dir. Ich tue es für dich, Mut-«
»Nein, mein Sohn. Nicht für mich. Für Nathaniel.« Ihre Stimme wurde immer schwächer. »Er ist ein guter Kerl. Oh, Morgan, sei tapfer. Sei stark und mutig, für dich und Nathaniel. Vertraue auf dich und auf Gottes Barmherzigkeit. Möge Er euch immer behüten, meine geliebten Söhne ...«
Diese Worte raubten ihr die letzten Kräfte. Ihre geschlossenen Lider flackerten, der Druck ihrer Hand um die des Jungen ließ nach und wurde schlaff. Morgan hielt ihre Hände fest, als wollte er das Leben festhalten, das gerade von ihnen gegangen war. Seine Kehle schmerzte und brannte wie Feuer, als er gegen die Tränen und seinen aufsteigenden Zorn ankämpfte, der seinen Brustkorb zu sprengen drohte. Er wollte brüllen, seine Wut und seine Trauer ... und vor allen Dingen seine Furcht herausschreien. Aber er blieb stumm, hölzern und aufrecht wie ein Soldat.
Nathaniel schlich sich verstohlen an die Seite seines Bruders. Verwirrt betrachtete er seine Mutter. »Morgan«, flüsterte er mit gebrochener Stimme, »schläft unsere Mama?«
Morgan antwortete ihm nicht. Er war nicht dazu in der Lage, denn ein Schmerz durchbohrte ihn, wie er noch niemals zuvor empfunden hatte ..., und wie es ihn vermutlich niemals wieder treffen würde.
Wieder und wieder vernahm er die Stimme seiner Mutter. Sei tapfer. Sei stark und mutig.
Er schluckte. Wie? fragte er sich. Wie? »Nein«, antwortete er heiser. »Sie ist tot, Nathaniel. Tot.« Eine unheilvolle Stille trat ein. »Wie die Kätzchen, die Papa ertränkt hat.«
Der kleinere Junge begann zu weinen. »Was sollen wir jetzt tun?« wimmerte er. »Jetzt haben wir niemanden mehr, der uns liebt. Niemanden, der für uns sorgt. Papa ...«
Zögernd – beinahe widerwillig – klopfte Morgan seinem Bruder auf die Schulter. »Mach’ dir keine Sorgen«, sagte er. »Du hast mich, Nat. Und ich bin immer für dich da.«
Das sagte der Junge ..., und so war es auch.
Die Monate zogen ins Land. Und in seinem zarten Alter schwanden Nathaniels Kummer und die Erinnerung an seine Mutter recht bald.
Morgan jedoch vergaß nicht so leicht. Er hielt sich an sein Versprechen. Er hatte ihrer Mutter auf dem Totenbett versprochen, Nathaniel zu beschützen ...
Und das tat er auch.
Ihr Vater verhielt sich genauso wie früher, war hinterhältig, launisch und blickte immer zu tief ins Glas. Als Morgan zwölf Jahre alt war, hatte der Vater es bereits geschafft, daß der Junge kaum noch Zeit für sich hatte, sondern meistens zwischen Wirtsstube und Küche hin- und herpendelte. Nathaniel war oft sich selbst überlassen ... So war es kein Wunder, daß der liebenswerte kleine Racker oft in Mißgeschicke hineingeriet.
Es war um Mitternacht, als Patrick O’Connor eines Abends zur Tür hereinpolterte. Betrunken wie er war, stolperte er durchs Zimmer, mit einer seiner feisten Hände hielt er einen Kerzenstumpf umklammert. Ängstlich an die Wand gekauert, zitterten die beiden Jungen auf ihrem kargen Schlaflager, dann wurden sie plötzlich starr vor Angst. Sie hielten sogar ihren Atem an, weil sie wußten, es war besser für sie, ihm nicht zu erkennen zu geben, daß sie wach waren.
Aber das half ihnen nur wenig. Patrick O’Connor trat schwankend vor seinen Schreibtisch, Blutrünstig schweifte sein Blick umher, dann verengten sich seine Augen zu Schlitzen. Wütendes Gebrüll durchbrach die Stille. In Sekundenschnelle hatte er seine beiden Söhne brutal von ihrem Nachtlager gezerrt.
Er wankte zurück zu seinem Schreibtisch. »Heute morgen lagen hier sechs Goldmünzen. Jetzt sind es nur noch fünf!«
Nathaniel starrte seinen Vater aus riesigen blauen Augen an. Mit der Zunge befeuchtete er seine Lippen, dann meinte er ängstlich: »Vielleicht ist eine auf die Erde gefallen?«
Patrick O’Connor beugte sich mit seiner beträchtlichen Leibesfülle nach unten und untersuchte den rissigen Holzboden. Als er sich wieder erhob, knurrte er: »Ich glaube nicht!«
»Dann hast du dich vielleicht geirrt, Papa ...«
»Habe ich nicht!« schrie der Mann. Wut entstellte seine Züge. »Es ist nicht das erste Mal, daß hier Geldstücke fehlen. Aber ich warne euch, Jungs, und schwöre euch, daß es das letzte Mal ist! Also gesteht mir jetzt! Wer von euch hat die Münze genommen?«
Er erhielt keine Antwort. Morgan ließ sich von dem Zornesausbruch seines Vaters nicht einschüchtern. Statt dessen rieb er sich sein Kinn und beobachtete seinen Vater mit einem Gleichmut, den man seinem zarten Alter beileibe nicht zugetraut hätte.
»Los, antwortet mir, ihr Satansbraten!« O’Connors Stimme hallte von der hohen Decke zurück. »Wer von euch hat diese eine Münze weggenommen?«
Der Boden ächzte unter dem Gewicht von Patrick O’Connor, als er einen Schritt nach vorn machte. Nackte Wut flackerte in seinen Augen. Nathaniel, der neben Morgan stand, atmete schwer. Vor Morgans geistiges Auge trat das Bild seines Bruders – Nathaniels schmutzige Faust hatte an diesem Nachmittag eine Handvoll Süßigkeiten umklammert gehalten. Im gleichen Augenblick stand die Schuld klar und deutlich auf Nathaniels Gesicht geschrieben. Ängstlich duckte er sich.
Morgan trat vor, hielt tapfer sein Kinn vorgestreckt und hoffte, daß der Vater seine zitternden Knie nicht bemerkte. »Ich habe sie mir genommen, Papa.«
»Verfluchter Bengel!« schrie dieser. »Wie kannst du es wagen!«
Morgan nahm Haltung an. »Ich arbeite und schufte genauso wie deine Bardamen, aber ich verdiene kein ...«
»Ich sorg’ dafür, daß ihr was zu essen kriegt und Kleider am Leib habt, ihr undankbaren kleinen Bälger!« Ein gräßlicher Fluch folgte seinen Worten. »Und ich kriege, weiß Gott, wenig genug dafür zurück, aber du wagst es noch, von mir zu stehlen! Nun, von mir stiehlt niemand was, Junge ... niemand! Komm jetzt her zu mir!«
Unerbittlich umklammerte eine Hand seine schmale Schulter und zog ihn nach vorn; dann wurde ihm das Hemd wie ein Lumpen vom Körper gerissen. Ein brutales Grinsen umspielte O’Connors Lippen, als er die Handknöchel des Jungen mit den Fetzen auf dem Rücken zusammenband.
Der Junge kauerte auf seinen Knien am Boden und versteifte sich, als er das Geräusch des Rohrstocks hörte, der von einem Haken an der Wand gerissen wurde.
Er kannte dieses Geräusch nur zu gut.
Der erste Hieb durchzuckte ihn wie eine Feuersbrunst. Der Junge namens Morgan schloß seine Augen. Er war der ältere, sagte er sich wie einst seine Mutter. Er mußte stark sein. Stark und tapfer. Er mußte Nathaniel beschützen.
Gefaßt wartete er auf den nächsten Schlag. Das Knallen des Rohrstocks durchbrach wieder und wieder die Stille, der Junge jedoch gab kein Wimmern, kein Stöhnen von sich. Er ertrug die Schmerzen, denn er tat es für Nat, ermahnte er sich.
Immer für Nat ...