Читать книгу Der falsche Bräutigam - Samantha James - Страница 6
Kapitel 1
ОглавлениеBeacon Bill, 1854
Für eine Umkehr war es jetzt zu spät.
Wie seltsam, daß dieser Gedanke gerade jetzt von ihr Besitz ergriff, wo sie doch bereits so weit fort von ihrer Heimat war. Tatsächlich lagen die Weiten des Ozeans dazwischen ...
Lady Elizabeth Stanton warf einen letzten, beinahe sehnsüchtigen Blick zurück zu der Kutsche, die sie gerade verlassen hatte. Als das Fahrzeug um die Ecke verschwand, wirbelte es eine Wolke von Staub und abgefallenen Blättern hinter sich auf.
Sie umklammerte ihre Handtasche, nahm allen Mut zusammen und wandte sich um.
Mit einem furchtsamen Blick nahm sie die sich ihr bietende Ansicht wahr. Elizabeth konnte es nicht leugnen. Nathaniel war so stolz gewesen, als er ihr sein Zuhause beschrieben hatte – und das war kein Wunder. Sie hielt den Atem an, denn das Haus, das vor ihr erschien, war so beeindruckend, wie Nathaniel es ihr versprochen hatte. Tatsächlich, sinnierte sie, besaß es viktorianische Ausmaße, die Pracht englischer Landsitze und die Eleganz angesehener Londoner Stadthäuser.
Ein schmiedeeiserner Zaun umschloß das gesamte Anwesen, doch trotz der herben Konturen der nackten Zweige und des gefrorenen Rasens wirkte es nicht abweisend. Elizabeth konnte sich sehr gut vorstellen, wie der Garten im Frühling aussah, wenn alles zu sprießen und zu blühen begann: Blumenknospen und Bäume, die sich gen Himmel streckten.
Das Haus selbst war riesig und besaß ein Giebeldach. Unbewußt nahm sie die zarten weißen Spitzengardinen wahr, die große bleiverglaste Fenster schmückten, und nur mit Mühe widerstand sie dem Drang, ihre weißbehandschuhten Hände auf das eiserne Gitter zu legen und nur noch fasziniert zu schauen. Sie mußte kichern. Natürlich war sie töricht. Nathaniel war ein überaus erfolgreicher amerikanischer Schiffbauer. Wieso sollte sein Heim da nicht schön und gediegen sein?
Sie war sich ihres Anblicks nicht bewußt, wie sie dort so stand, ein Juwel in der späten Wintersonne. Ihre Reisebekleidung bestand aus einem dunkelgrauen Seidenkleid, das vielleicht ein wenig zerknittert war, aber der neuesten Londoner Mode entsprach. Doch es war weniger ihre Bekleidung, die sie wie einen Solitär hervorhob.
Nein, es war vielmehr ihre beeindruckende Erscheinung. Ihr Haar so glänzend wie flüssiges Gold schimmerte unter dem Hut hervor. Ihre Augen hatten das frische Grün einer englischen Frühlingswiese. Elizabeth Stanton war keine blasse zerbrechliche Blüte. Auch wenn sie von Natur aus bescheiden war, so bewies ihre stolze Haltung doch verborgene Stärke. Jetzt fühlte sie sich allerdings eher klein und unbedeutend ... und sehr, sehr verloren.
Nein, dachte sie erneut und erinnerte sich an die Gefühle, die während der letzten Wochen Besitz von ihr ergriffen hatten. Es war zu spät für eine Umkehr. Und sie hatte sich nun so lange danach gesehnt, Nathaniel wiederzusehen.
Nach und nach kamen ihr wieder alle Erinnerungen in den Sinn. Es war so viel geschehen, dachte sie wehmütig seufzend. So viel ...
Er hatte London im Sturm erobert, dieser energische junge Amerikaner namens Nathaniel O’Connor. Schön wie die Sünde, anziehend wie der Rattenfänger von Hameln, blond, stark und verwegen, war er das Stadtgespräch Londons gewesen: Scharenweise bekannten sich die Frauen dazu, in ihn verliebt zu sein. Aber von allen Londoner Schönheiten war sie es gewesen, der er den Hof gemacht hatte. Die eine, die er begehrt hatte.
Es war selbstverständlich nur ein heftiger Flirt gewesen. Zunächst hatte Elizabeth geglaubt, daß seine Aufmerksamkeiten ihr gegenüber nur ein Scherz waren. Sie war wohl kaum so unwiderstehlich und mit Sicherheit nicht der Typ Frau, dem Männer zu Füßen lagen! Aber insgeheim hatte es ihr schon geschmeichelt, obwohl sie sich eigentlich nicht für eine wirkliche Schönheit hielt! Und deshalb neckte sie ihn unbarmherzig, genau wie er es tat, und war sich sicher, daß sein Interesse bald schwinden werde.
Doch die Wochen vergingen, und sein Interesse an ihr blieb bestehen. Und obwohl sie immer geglaubt hatte, einen klaren, kühlen Kopf behalten zu können, war Nathaniel O’Connor wie eine Versuchung, der sie nicht widerstehen konnte.
Wenn sie an ihn dachte, spürte sie ein innerliches Prickeln. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als er sie geküßt hatte. Auf einer Geburtstagsfeier zu Ehren von Lord Nelson hatten sie einen flotten Wiener Walzer miteinander getanzt, nach dem sie völlig außer Atem und ausgelassen gewesen war. Deshalb hatte er sie nach draußen auf die Terrasse begleitet und sie dort zu einer kleinen Steinbank in der Nähe des Gartens geführt. Langsam war das Lächeln aus seinem Gesicht gewichen. Mit seinen Händen hatte er ihren Nacken umschlangen und ihr Gesicht zu sich nach oben gezogen. Umgeben von süßem Rosenduft – ihr Herz hatte wie wild geklopft und ihr Puls dröhnte in ihren Ohren – hatte er sie dort geküßt. Obwohl sie es sich ersehnt hatte, hätte sie niemals mit diesem Kuß gerechnet.
Nur kurze Zeit darauf ...
Sie saßen in der Halle des Londoner Stadthauses, das ihrem Vater gehörte. Nathaniel nahm ihre Hände. »Elizabeth ... mir ist etwas dazwischengekommen, Liebste. Es tut mir leid, aber ich muß früher nach Boston zurück, als ich dachte.«
Es war nicht die erste schlechte Nachricht an jenem Tage, und so war es kaum verwunderlich, daß Elizabeth ihn vollkommen irritiert anstarrte. »Oh, Nathaniel, nein! Wann? Wann mußt du abreisen?«
»Morgen, meine Liebste. Das Schiff setzt die Segel mit der morgendlichen Flut.« Seine Hände umklammerten die ihren noch fester. »Bitte, Elizabeth, komm mit mir ... heirate mich. Werde meine Frau. Ich werde dich zur glücklichsten Frau dieser Erde machen, wenn du mir nur dein Jawort gibst.«
Auch wenn Elizabeths Herz einen Freudenhüpfer machte, wurde es doch von einer Last gequält, die sie nicht einfach beiseite schieben konnte.
»Nathaniel. Ach, Nathaniel. Ich würde so gerne ..., du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr! Aber der heutige Tag ist ein einziger Alptraum für mich! Du weißt, daß mein Vater schon seit Wochen von diesem schrecklichen Husten geplagt wird? Nathaniel, er ist ernsthaft krank ...«
Sie befand sich geradewegs zwischen Himmel und Hölle. Wie konnte sie, die einzige Tochter des Earl of Chester, ihren Vater verlassen? Außerdem hatte sie ihn noch niemals so krank und geschwächt erlebt! Sicher, da war Clarissa, seine neue Ehefrau, die er vor zwei Jahren geheiratet hatte. Aber sie, Elizabeth, war sein einziges Kind, und sie durfte ihren Vater nicht im Stich lassen! In solchen Zeiten mußte sie ihm beistehen.
»Wenn es Papa wieder gutgeht, komme ich zu dir nach Boston. Ich verspreche dir, Nathaniel, sobald es möglich ist.«
»Ich warte auf dich, Elizabeth. Das verspreche ich dir.«
Wenn es Papa wieder gutgeht ... hatte sie geglaubt und ihre Worte bald darauf bitterlich bereut!
Denn ihr Vater war fast einen Monat lang krank gewesen. Und seine Gesundheit war weitaus geschwächter, als sie vermutet hatte.
Vor ungefähr sechs Wochen hatten sie ihn beerdigt.
Elizabeths sanft geschwungener Mund nahm einen harten Zug an. Noch eine andere Erinnerung kam ihr unerbittlich in den Sinn und verursachte ihr eine Gänsehaut.
Ihre Mutter war an einer Lungenentzündung gestorben, als Elizabeth noch ein ganz junges Mädchen gewesen war. Viele Jahre lang war sie mit ihrem Vater allein gewesen. Aber als sie erwachsen wurde, begann sie zu verstehen, worüber ihr Vater niemals sprach. Seine Einsamkeit. Seine Sehnsucht nach einer Gefährtin. Deshalb war sie auch nicht überrascht gewesen, als der Earl schließlich Clarissa Kenton, eine verwitwete Baronin aus der benachbarten Grafschaft, ehelichte.
Leider hatten sie und Clarissa sich nie besonders gut verstanden, was dem Grafen allerdings nicht auffiel. Elizabeth neigte nicht zu Böswilligkeit, fand jedoch, daß die neue Gräfin recht eigensinnig, streng und gelegentlich herablassend wirkte.
Und das stellte sie an dem Tag, als das Testament des Earls verlesen wurde, wahrhaftig unter Beweis.
Elizabeth war immer noch halb benommen vor Trauer. Auch wenn sie von Nathaniel unter großen Schmerzen Abschied genommen hatte – schließlich war es schon fast schamlos, wie sie an ihm gehangen hatte – besaß sie die Sicherheit, bald wieder mit ihm vereint zu sein. Aber sie würde ihren Vater nie wiedersehen, nicht mehr seine Nähe spüren, seine Zuneigung, sein angenehmes Lachen ... Dieser Gedanke bedrückte sie und ließ sich auch nicht auslöschen, als der Sarg in die Erde versenkt wurde.
Deshalb befand sie sich in äußerst bedrückter Stimmung, als sie und Clarissa in dem väterlichen Studierzimmer saßen und der dröhnenden Stimme von James Rowland, seinem Notar, lauschten. Ihre trübsinnigen Gedanken schweiften immer wieder ab.
»Elizabeth!« ermahnte sie Clarissa scharf. »Hörst du überhaupt zu? Ich denke, das folgende betrifft dich.«
Hinter seinen Brillengläsern betrachtete Mr. Rowland die beiden Frauen. Wäre Elizabeth konzentrierter gewesen, hätte sie sein Unbehagen bemerkt. »Soll ich fortfahren?« fragte er.
»Ja, bitte«, meinte Clarissa schnippisch.
Mr. Rowland räusperte sich und las weiter. »Einige meiner kostbarsten Erinnerungen verbinde ich mit meiner Tochter Elizabeth und unserer gemeinsam verbrachten Zeit in Hayden Park, meinem Landsitz in Kent. Aus diesem Grund möchte ich Hayden Park aus dem freudigen Anlaß ihrer Vermählung an Elizabeth vermachen und hoffe, daß sie und ihr zukünftiger Ehemann dort leben werden.«
Das überraschte Elizabeth nicht. Sie hatte damit gerechnet, daß ihr Vater den Großteil seiner Liegenschaften Clarissa vermachte, und so war es auch gewesen. Aber Hayden Park hatte für sie immer etwas Besonderes dargestellt. Sie lächelte in wehmütiger Erinnerung, denn auch sie verband sehr viel Schönes mit den dort verbrachten Tagen.
Rowland fuhr fort. »In diesen, meinen letzten Lebenstagen, bereue ich nur, daß ich Elizabeth niemals als Ehefrau sehen werde, denn sie nicht vermählt und versorgt zu wissen, ist die größte mir verbleibende Sorge. Aus diesem Grund überlasse ich meiner geliebten Frau Clarissa die Aufgabe, einen Ehemann für Elizabeth zu finden, denn ich weiß, daß sie meinen Wünschen Rechnung tragen wird.«
Elizabeth hielt ihre Hände andächtig im Schoß gefaltet und war ganz still geworden. In ruhigem Tonfall sagte sie jetzt: »Können Sie mir das bitte erklären, Mr. Rowland. Was bedeutet das im einzelnen?«
Rowlands gerötete Wangen nahmen einen noch tieferen Farbton an. »Vor dem Gesetz betrachtet heißt das, daß Hayden Park erst in Ihren Besitz übergeht, wenn Sie heiraten ...«
Elizabeth fiel ihm ins Wort. »Heißt das auch, daß die Wahl meines Ehemannes in den Händen meiner Stiefmutter liegt?«
Ihm blieb keine Zeit zur Antwort. »In der Tat, Elizabeth.« Der Triumph zeigte sich in Clarissas Stimme und in ihrem Verhalten, als sie sich ihrer Stieftochter zuwandte. Ihr siegessicheres Lächeln verursachte Elizabeth eine Gänsehaut.
»Aber es besteht kein Grund zur Besorgnis, meine Liebe.« Clarissa verschwendete keine Zeit, sie mit ihren Absichten vertraut zu machen. »Ich habe mich bereits um alles gekümmert. Lord Harry Carlton ist damit einverstanden, dich zu heiraten. Um ehrlich zu sein, er war sogar ganz glücklich, daß meine Wahl auf ihn gefallen war.«
Elizabeth war verblüfft. Mit ihren 21 Jahren hatten bereits mehrere Männer um ihre Hand angehalten. Ihr Vater war zwar manchmal enttäuscht gewesen, aber er hatte sie niemals zu einer Entscheidung gedrängt.
Selbstverständlich kannte sie Lord Harry, den jüngsten Sohn des Marquis of Salisbury. Er platzte zwar bald aus allen Nähten, aber es war nicht seine äußere Erscheinung, die sie immer abgestoßen hatte. Nein, er war ein Lüstling, ein Weiberheld, das wurde in seinen gierigen Blicken deutlich, mit denen er jede Frau taxierte.
Sie fühlte sich auf einmal sehr schlecht, konnte kaum noch atmen und wußte, sie durfte dieser schrecklichen Ahnung keine Beachtung schenken, denn sonst würde sich diese sicherlich als Realität entpuppen.
Barmherziger Vater, es kann nicht sein. Laß es nicht wahr sein, betete sie.
Ihre gefalteten Hände verkrampften sich in ihrem Schoß. »Verstehe ich dich richtig, Clarissa, du verlangst, daß ich Lord Harry heirate?«
»Natürlich!« Clarissa lächelte strahlend, aber ihre Augen blieben hart. »Es handelt sich dabei um eine ausgesprochen gute Partie, meinst du nicht?«
Elizabeth holte tief Luft. Ihr kochte das Blut in den Adern. Bei Gott, sie würde sich doch nicht an einen Fremden verschachern lassen – einen Mann, den sie nicht liebte – und den ihre Stiefmutter für sie ausgesucht hatte!
Äußerlich zeigte sie jedoch nicht die geringste Spur ihres Zorns. Statt dessen wählte sie ihre Worte mit Bedacht. »Das würdest du von mir verlangen, Clarissa? Du würdest mich dazu zwingen wollen, einen Mann zu heiraten, an dem ich überhaupt nicht das geringste Interesse habe?«
Clarissas Lächeln verflog. »Deine Heirat ist längst überfällig, Elizabeth. Und etwas Besseres als Lord Harry kann dir gar nicht passieren.« Sie faltete ihre Arme vor ihrem riesigen Busen und starrte ihre Stieftochter an.
In diesem Moment erkannte Elizabeth die ungeschminkte Wahrheit in den Augen ihrer Stiefmutter, die Gehässigkeit, die sie immer gespürt hatte, die Abneigung, die Clarissa nicht mehr länger verbarg. Clarissa haßte sie. Ihre Zuneigung war nur eine Farce. Jetzt, nach dem Tode des Grafen, wollte sie ihre Stieftochter nur noch loswerden.
Elizabeth setzte sich aufrecht und hob ihr feingeschwungenes Kinn. Wenn es das war, worauf Clarissa hinauswollte – sie loszuwerden –, dann würde sie selbstverständlich ihren Teil dazu beitragen.
Ein zartes Lächeln umspielte ihre vollen Lippen. »Du hast recht, Clarissa«, meinte sie kühl. »Ich werde heiraten, aber einen Mann meiner Wahl – und nicht Lord Harry.«
Clarissa schnaubte vor Wut, ein wenig damenhaftes Geräusch. »Wen denn? Wenn du noch länger wartest, wirst du als alte Jungfer enden!«
»Nathaniel O’Connor hat vor seiner Rückreise nach Boston um meine Hand angehalten«, erklärte Elizabeth ganz ruhig, »und ich habe ihm bereits mein Jawort gegeben.«
»Nathaniel O’Connor? Dieser aufdringliche, junge Amerikaner, dem es völlig an Stil und Manieren fehlte?«
Der Abscheu der älteren Frau war nur zu offensichtlich. Auch wenn ihr eine freche Retourkutsche auf den Lippen brannte, hielt Elizabeth es für besser, sie zu schlucken.
»Wir sind zwar unterschiedlicher Meinung, was seinen Charakter anbelangt, Clarissa, aber ich muß zugeben, er ist derjenige.«
»Wenn er beabsichtigte, dich zu heiraten, warum ist er dann nach Boston zurückgefahren?« meinte Clarissa triumphierend. »Und warum haben dein Vater und ich nichts davon erfahren?«
»Nathaniel ist Geschäftsmann und mußte wegen dringender Angelegenheiten zurück.« Elizabeth war leicht verunsichert und hoffte nur, daß ihre Stiefmutter das nicht bemerkte. Gleichzeitig wünschte sie sich, Nathaniel hätte ihr alles genauer erklärt. »Ich habe ihn nicht begleitet, weil Papa krank war. Und deshalb habe ich ihm auch nichts erzählt.«
»Ha! Weil du genau wußtest, daß dein Vater nicht einverstanden sein würde.«
Elizabeth kämpfte gegen ihre leichten Schuldgefühle an. Irgendwie gelang es ihr, dem anklagenden Blick ihrer Stiefmutter standzuhalten. Wenn Clarissa nun recht hatte? Das würde sie der alten Hexe jedenfalls niemals eingestehen!
»Papa war krank«, wiederholte sie. »Ich wollte nur, daß er schnell wieder gesund würde, damit er meine Hochzeit mit Nathaniel erleben konnte.«
»Dein Vater hätte dir niemals erlaubt, einen ... einen Nichtsnutz von Yankee – und dazu noch einen von irischer Abstammung – zu heiraten! Eine solche Eheschließung wäre kaum standesgemäß!«
Elizabeth schüttelte den Kopf. Eine standesgemäße Heirat. Das war ihr vollkommen egal. Aber ihr wurde klar, daß Clarissa absolut kein Verständnis für das Feuer der Leidenschaft besaß, das in ihr brannte, wenn sie mit Nathaniel zusammen war.
Nein, dachte sie. Nein. Sie würde Lord Harry nicht heiraten – weder Clarissa noch sonstwem zum Gefallen. Denn wenn sie das tat, würde sie ein unerträgliches Leben führen müssen, an dem sie erstickte.
Aber sie gab sich auch keinen Illusionen hin. Wenn sie blieb, würde Clarissa alles daransetzen, ihr ihren Willen aufzuzwingen. Und sie hielt ihre Stiefmutter für so unerbittlich, daß es schon beängstigend war.
Langsam stand sie auf. »Es tut mir leid, daß alles so kommen mußte«, sagte sie ruhig. »Aber du wirst mir doch rechtgeben, daß es vermutlich das Beste ist, wenn ich so bald wie möglich nach Boston – und zu Nathaniel – abreise.«
Clarissa erhob sich ebenfalls. Hektische rote Flecken zeichneten sich auf ihren Wangen ab. »Bei Gott, Mädchen, du warst immer ein eigensinniges, verzogenes Kind, aber dies hier würde mir dein Vater niemals glauben! Wenn er wüßte, daß du dein Herz an einer Yankee verloren hast! Ich habe ihn zwar darauf hingewiesen, daß man zu deiner Erziehung eine gestrenge Hand braucht, aber bis kurz vor seinem Tode wollte er nicht auf mich hören. Und jetzt danke ich Gott, daß er das nicht mehr erleben muß, denn er wäre entsetzt über dein Verhalten!«
Elizabeth hörte ihr gar nicht zu, sondern streckte James Rowland eine Hand entgegen. »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Mr. Rowland. Ich weiß, Sie werden verstehen, wenn ich mich jetzt verabschiede. Ich muß noch eine Schiffspassage buchen.«
Rowland stand ihr gegenüber. »Lady Elizabeth«, flehte er sie an. »Bitte, Lady Elizabeth! Ich bitte Sie, sich das alles noch einmal zu überlegen. Sicher können Sie beide noch zu einer Einigung finden. Denn Sie stehen im Begriff, viel zu verlieren. Ihr Vater hat Vorkehrungen für eine außerordentlich großzügige Leibrente getroffen ...«
»Eine Apanage, deren Höhe von mir bestimmt wird, Mr. Rowland. Und ich schwöre, sie wird nichts bekommen. Keinen Pfennig, verstehst du?« Clarissas Stimme zitterte vor Wut. »Ohne mich bist du so arm wie eine Kirchenmaus!«
Rowland schwieg. Jetzt wurde Elizabeth alles klar. Papa, dachte sie traurig, wie konntest du so etwas tun? Er hatte sie gelehrt, für sich selbst zu sorgen. Sie brauchte niemanden, der auf sie aufpaßte, sie kontrollierte, wie Clarissa es wohl zu beabsichtigen schien.
Nach kurzem Zögern faßte sie sich an den Kopf, lächelte kaum merklich und sagte leise: »Du willst es nicht verstehen, Clarissa, oder? Papas Geld bedeutet mir nichts. Es ist richtig, daß mir Hayden Park viel bedeutet, aber mein Leben gehört mir – und bedeutet mir noch weitaus mehr. Und ich wäre lieber arm, als mit einem Mann verheiratet, den ich nicht liebe.«
Das war das letzte Mal, daß sie und Clarissa sich gesehen hatten.
Und dann hatte sie ihrem Vater und England ... und auch ihrem bisherigen Leben Lebwohl gesagt.
Eine Zeitlang konnte sie es sich nicht anders erklären – man hatte insgeheim versucht, sie zu hintergehen. Sie konnte nur noch daran denken, daß ihr Vater sie betrogen hatte, indem er ihre Zukunft in Clarissas Hände gelegt hatte. Doch während ihrer langen Seereise erkannte sie schließlich, daß der einzige Fehler ihres Vaters darin bestanden hatte, zu vertrauensselig zu sein; er hatte darauf vertraut, daß Clarissa im besten Interesse seiner Tochter handeln würde.
Ja, dachte sie zum wiederholten Male. Sie hatte die richtige Entscheidung getroffen. Die einzig richtige Entscheidung. Denn eine Ehe einzugehen, wie es Clarissa von ihr verlangte, wäre unerträglich gewesen.
Elizabeth stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie dachte wieder an die Gegenwart ... Und an Nathaniel.
Sie hustete und empfand ein beklemmendes Gefühl in ihrer Brust. Ihr Brustkorb schmerzte schon seit Tagen. Aber sie schenkte dem keine weitere Beachtung. Das kam sicherlich nur von den Erinnerungen, beruhigte sie sich.
Sie griff ihre Handtasche fester und sah wieder zum Haus hinüber. Verunsichert runzelte sie ihre Stirn. Seit sie Nathaniel zum letzten Mal gesehen hatte, waren fast drei Monate vergangen. Würde er erfreut sein, sie zu sehen?
Sie lachte leise. Natürlich war er das. Er liebte sie. Ihre Ängste waren unbegründet. Außerdem hatte sie keine Angst vor ihm, sondern einfach nur vor der Zukunft. Und das war kaum verwunderlich, denn ihr Leben war ja in letzter Zeit ziemlich aus der Bahn geraten.
Und doch wurde sie einen quälenden Gedanken nicht los. War es töricht von ihr gewesen, direkt hierher zu kommen? Der Kutscher hatte das Anwesen der O’Connors gekannt. Aber sie mußte noch eine Unterkunft finden und hatte es deshalb für das Beste gehalten, Nathaniel um eine Empfehlung zu bitten. Ihre Barschaft war nicht unbegrenzt – sie hatte einiges von ihrem Schmuck verkauft, um die Schiffspassage bezahlen zu können. Aber wenn alles gutging, brauchte sie nur ein Zimmer für vielleicht ein oder zwei Wochen. Es war sowieso ihr innigster Wunsch, so schnell wie möglich zu heiraten – und sie betete darum, daß es Nathaniel ebenso ging!
Gedankenverloren rückte Elizabeth ihren Hut zurecht und strich ihren Mantel glatt. Nach einem Monat auf See fühlte sie sich verständlicherweise schmutzig und müde. Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie fühlte sich tatsächlich fast wie eine Waise, wenn sie sich ihr kleines Reisegepäck ansah.
Ihre Koffer hatte sie im Hafen zurückgelassen, weil sie hoffte, daß Nathaniel sie vielleicht morgen schon abholen ließe.
Sie nahm allen Mut zusammen und betrat den ziegelbedeckten Aufgang. Ihre Absätze klapperten, als sie die Treppen hochstieg. Vor zwei riesigen Flügeltüren angelangt, griffen ihre schlanken weißbehandschuhten Finger nach dem kunstvoll verzierten Messingklopfer und umschlossen diesen. Äußerlich ganz ruhig, innerlich jedoch völlig aufgewühlt, klopfte sie leicht auf die Holzpaneele.
Gleich darauf hörte sie im Inneren Schritte, dann wurde die Türe geöffnet. Ein schmalschultriger Mann mit grauem Schnurrbart trat ihr entgegen – nach seinem Aussehen zu urteilen sicherlich der Butler.
Elizabeth versuchte zu lächeln. »Guten Tag«, begrüßte sie ihn höflich. »Ist das der Wohnsitz der O’Connors?«
Seine struppigen Brauen zogen sich zusammen. »In der Tat, gnädige Frau.«
Ihr Lächeln entspannte sich. »Gut. Dann möchte ich bitte mit Mr. O’Connor sprechen, wenn er zu Hause ist.«
Er musterte sie von oben bis unten, und offensichtlich schien sie ihm zu gefallen. »Wen bitte darf ich melden, Madam?«
»Lady Elizabeth Stanton.« Ihr Lachen klang ziemlich gepreßt. »Bitte verzeihen Sie, daß ich unangemeldet komme, aber mein Schiff hat erst heute nachmittag angelegt.« Elizabeth meinte, ihm eine Erklärung schuldig zu sein. »Die Umstände, unter denen ich London verließ, waren etwas verworren. Ich war in solcher Eile, daß ich leider nicht die Zeit hatte, Mr. O’Connor zu schreiben und ihn über meine Ankunft zu informieren. Und ... ich hätte vielleicht besser noch etwas gewartet, aber ich freue mich so sehr darauf, ihn wiederzusehen!«
Eine kurze Gesprächspause trat ein. »Mr. O’Connor ist noch nicht von seiner Reederei zurückgekehrt, obwohl ich ihn jede Minute erwarte. Möchten Sie warten?«
Ihre Angst verflog. »Oh, ja gerne!«
Der Butler trat zurück. »Bitte kommen Sie herein.«
Elizabeth folgte ihm in den Salon, der sich hinter der imposanten Eingangshalle anschloß. Als sie eintrat, nahm sie anerkennend die großen einladenden und geschmackvollen Möbelstücke wahr.
»Mein Name ist Simmons, gnädige Frau. Darf ich Ihnen eine Tasse Tee servieren?«
Obwohl sein Verhalten absolut höflich und neutral war, war sein Blick doch voller Zuneigung. »Danke, Simmons«, sagte sie lächelnd, »das wäre wirklich sehr liebenswürdig.«
Er verbeugte sich leicht und verschwand.
Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, setzte sich Elizabeth in einen der großen, gepolsterten Ohrensessel gegenüber dem Kamin. Bald darauf erschien ein junges Mädchen mit einem Silbertablett, die sich ihr als Millie vorstellte. Elizabeth nahm eine Tasse Tee, weil sie glaubte, das würde sie erfrischen, aber nach ein paar Schlukken fühlte sie sich so erhitzt wie das Kaminfeuer.
Sie stand auf und wanderte ziellos im Raum auf und ab. Jetzt, wo die Stunde des Wiedersehens immer näher rückte, wallten Aufregung und Furcht in ihrer Brust. Sie betrachtete sich in einem kleinen rechteckigen Spiegel, der an allen vier Ecken mit winzigen Rosetten verziert war. Ihre Wangen schimmerten rosig. Ihre Augen glänzten in lebhaftem Grün. Sie runzelte die Stirn und dachte, daß sie vielleicht etwas zu glänzend wirkten ...
Sie geriet ins Wanken, dann faßte sie sich wieder. Was war denn los? Innerhalb der letzten Stunde war sie immer kurzatmiger geworden, aber das war sicher eine reine Nervensache.
Draußen hörte sie das Geräusch einer vorfahrenden Kutsche.
Elizabeth flog beinahe zum Fenster. Durch die dünne Spitzengardine sah sie einen großen schlanken Mann, der auf das Haus zukam.
Ihr Herz klopfte rhythmisch. Er ist es ..., es ist Nathaniel!
Aus der Halle drangen Stimmen. Sie faltete ihre behandschuhten Finger, damit ihre Hände ruhig wirkten, und mußte sich bremsen, daß sie nicht einen Freudentanz aufführte.
Schritte näherten sich. Simmons klopfte und öffnete die Tür einen Spaltbreit. »Madam, der gnädige Herr wird gleich hiersein.«
Elizabeth nickte. Ihr Verstand raste. Würde Nathaniel überrascht sein, sie hier zu sehen? Zweifellos. Würde er sich freuen? Natürlich würde er das! Er hatte sie schließlich darum gebeten, seine Frau zu werden! Sie war selig vor Glück. Dann seufzte sie und stellte sich vor, was passierte, wenn Nathaniel hereinkam.
Er würde sie mit seinem typischen Lächeln in den Augen betrachten; bei dieser süßen Erinnerung kräuselten sich ihre Lippen. Und dann würde er sie in seine Arme nehmen und sie wie damals küssen.
Knarrend öffnete sich die Tür. Sie sah die Umrisse eines Mannes – er war elegant gekleidet, größer als die meisten, mit kräftigen, breiten Schultern, unglaublich schlanken Hüften ... und sein Haar war schwarz wie die Nacht.
Elizabeth wollte auf ihn zustürzen, aber mit einem Laut des Erstaunens hielt sie plötzlich inne.
Ihr Lächeln gefror ihr auf den Lippen. Ihr Herz und ihr Verstand schienen auszusetzen. Sie fühlte sich auf einmal so schwach, daß sie kaum noch stehen konnte. Sie blinzelte, weil sie sich sicher war, daß ihre Augen sie getäuscht hatten. Das konnte wahrhaftig nicht sein ...
Der Mann, der vor ihr stand, war nicht Nathaniel.