Читать книгу Erfüll mein Verlangen - Samantha James - Страница 9
4. Kapitel
ОглавлениеHeather warf ihrem Begleiter durch gesenkte Wimpern hindurch einen verstohlenen Blick zu. Bevor sich Beatrice zu ihrer Tanzstunde verabschiedet hatte, waren ihre Blicke von dem Augenblick an, in dem er den Salon betreten hatte, kaum von ihm gewichen. Hatte es irgend jemand bemerkt? Hatte er es bemerkt? Ihre Gedanken überschlugen sich. Er mußte es gewohnt sein, von schönen Frauen beachtet zu werden. Heather jedoch war zutiefst beunruhigt über Beas Verhalten – und über die Tatsache, daß sie selbst dieser auffälligen Vorliebe ihrer Schwester so viel Beachtung schenkte.
Aber nichts offenbarte ihre Gedanken, als sie sich mit gezwungener Fröhlichkeit an ihren Begleiter wandte. »Nun«, sagte sie leichthin, »ich glaube, Sie haben die Prüfung bestanden.«
Er wandte den Kopf. »Wie bitte?«
»Ich beklage mich nicht, wohlgemerkt. Aber als Robin starb und ich mich nach einem neuen Gutsverwalter umsah, hätte Papa es sehr gern gesehen, wenn ich ihn bei der Suche nach einem Nachfolger um seine Hilfe gebeten hätte.«
»Und das haben Sie nicht getan?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie mit Ihrem Vater gern die Klingen kreuzen?«
»O nein, ganz und gar nicht! Aber wissen Sie, nach unserem Einstellungsgespräch kam meine Schwester Bea zu Besuch, und ich bin sicher, daß das Thema gestern abend bei Tisch erwähnt wurde. Darum nehme ich an, daß es Papa keine Ruhe gelassen hat und er sich Gedanken darüber machte, wen ich eingestellt habe und ob es die richtige Wahl war …«
»Hmmm«, bemerkte Damien trocken. »Dann kann ich wohl froh sein, daß ich Papas Zustimmung gefunden habe. Ich hätte den Earl of Stonehurst nicht allzu gern als Feind.«
Heather lachte.
»Aber«, fuhr er fort, »auch wenn Sie eine erwachsene und überaus kompetente Frau sind, finde ich es doch ganz natürlich, daß Ihre Eltern so besorgt um Sie sind.«
Sie empfand sein Lob als eigenartig wohltuend. »Sie sind meine Familie«, entgegnete sie einfach. »Ich betrachte mich als sehr glücklich, sie zu haben.«
»Es ist nicht zu übersehen, daß sie genauso empfinden.«
Heathers Miene nahm einen weichen Ausdruck an. »Danke«, sagte sie leise.
Eine Weile war nichts zu hören als der Hufschlag auf dem Straßenpflaster. Dann ergriff Damien das Wort. »Ich hoffe, Sie halten mich nicht für unhöflich oder anmaßend, aber ich gebe zu, daß ich neugierig bin … Mir ist aufgefallen, daß Sie einen anderen Nachnamen tragen als Ihre Eltern, obwohl Sie, wie Sie mir gesagt haben, nicht verheiratet sind. Vielleicht habe ich etwas falsch verstanden …?«
»Nein«, unterbrach sie ihn hastig. »Mein Nachname lautet Duval. Ich bin die Tochter von Bernard und Justine Duval. Wir hatten hier in der Nähe einen schweren Kutschenunfall, als ich noch ein kleines Kind war. Ich war die einzige Überlebende. Wissen Sie, meine Eltern wollten Miles Grayson einen Besuch abstatten; sie hatten ihn einige Jahre zuvor in Paris kennengelernt. Mein Vater war ein französischer Adeliger, meine Mutter eine englische Lady. Unglücklicherweise tätigte mein Vater ein paar Investitionen zu einem ungünstigen Zeitpunkt und verlor sein ganzes Vermögen. Sie waren nach England gekommen, um hier von vorn anzufangen.«
Lügnerin! hätte Damien ihr am liebsten zugerufen. Dein Vater war nicht Bernard Duval, sondern James Elliot, ein verabscheuungswürdiger Mörder. Und deine Mutter stammte zwar aus London, aber sie war keine Lady.
»Nach dem Unfall«, fuhr sie fort, »wurde Miles mein Vormund. Ich glaube, ich war damals ungefähr vier Jahre alt. Ich war acht, als er Victoria heiratete.« Sie zögerte den Bruchteil einer Sekunde. »Es tut mir leid«, sagte sie dann leise. »Ich wollte Sie nicht durcheinanderbringen. Es ist nur so, daß ich Miles und Victoria als meine Eltern ansehe und Beatrice, Christina und Arthur als meine Geschwister.«
Damien schenkte ihr ein breites, strahlendes Lächeln. »Ich verstehe, warum.«
Mehr sagte er nicht, aber Heather hatte das unbestimmte Gefühl, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Vielleicht rief das Gespräch über ihre Familie einen Kummer in ihm wach; schließlich wußte sie im Grunde überhaupt nichts über sein Privatleben. Sie verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis, etwas über seine Herkunft zu erfahren, aber etwas an seinem unbewegten Profil hielt sie davon ab, Fragen zu stellen. Verwirrt konzentrierte sie sich auf die Kutschenzügel in ihren Händen.
Der Rest der Heimfahrt nach Lockhaven verlief schweigend. An den Ställen angelangt, sprang Damien von der Kutsche, dann drehte er sich um und hob sie herunter. Als er ihr den Stock reichte, fühlte sie sich unbeholfen, ohne recht zu wissen, warum.
»Es gibt einige Bücher und Karten, in die Sie einen Blick werfen sollten, Mr. Lewis. Wenn Sie wollen, lege ich sie morgen früh auf den Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer. Sie können sie sich holen, wann immer es Ihnen paßt.«
»Das werde ich tun, Miss Duval.« Er neigte den Kopf. »Einen schönen Tag noch.«
Wenige Minuten später stand sie am Fenster ihres Zimmers und sah ihm nach, als er in einer Staubwolke davongaloppierte. Mit einem Seufzer ließ sie die zarte Spitzengardine fallen.
Ein kostbarer, blau-golden gemusterter Teppich mit einem Rand aus Lorbeerblättern dämpfte ihren leicht schleppenden Schritt, als sie das Zimmer durchquerte. Sie blieb vor einer niedrigen Mahagonikommode stehen, deren Schubladen mit Rosenholzintarsien verziert waren. Eine silberne Schmuckschatulle mit Klauenfüßen nahm einen Ehrenplatz auf der Kommode ein. Ränder und Oberfläche des glänzend polierten Deckels waren mit einem erhabenen Schneckenmuster verziert. Die letzten Strahlen der verblassenden Sonne fingen sich schimmernd in einer Einlegearbeit aus Perlmutt. Mit der Fingerspitze fuhr sie über die in ein kleines Oval eingravierte Inschrift.
Ihre Augen wurden weich. »Geliebte«, murmelte sie, und ein sehnsüchtiges Lächeln umspielte ihre Lippen. Das Schmuckkästchen war alles, was ihr von ihrer Mutter, Justine Duval, geblieben war. Miles hatte ihr gegenüber immer sein Bedauern darüber geäußert, daß alles andere bei dem Unfall in tausend Stücke zerbrochen war – aber für Heather war es genug. Sie würde es immer in Ehren halten.
Aber im nächsten Augenblick verdüsterten sich ihre Augen. Fast schuldbewußt öffnete sie den Deckel. Ihre Finger tauchten ins Innere der Schatulle. Aber es waren weder Perlen noch Edelsteine, die sie aus dem samtbeschlagenen Innenfach zog.
Es war die Skizze von Damien Lewis.
Irgendwann einmal, dachte sie flüchtig, würde sie ihn gern malen …
Während sie die Skizze eingehend betrachtete, fühlte sie sich von einer Kraft, die sie nicht leugnen konnte, zu dem Bild hingezogen. Sie hatte sich nicht geirrt. Das spürte sie in ihrem Herzen, mit jeder Faser ihres Seins. Er war ein Mann, der Kummer erlebt hatte, der ihn noch immer empfand …
Ein Mann mit Geheimnissen?
Sie wußte nicht, woher dieser Gedanke auf einmal kam. Sie biß sich auf die Lippen; die Vorstellung beunruhigte sie. Die Erinnerung an die Stunde, die sie in Stonehurst verbracht hatten, drängte sich ihr auf.
Ihr wurde bewußt, daß er keine Sekunde lang fehl am Platz gewirkt hatte. Sein Benehmen war untadelig gewesen, seine Redeweise überaus kultiviert. Er hatte ohne Zweifel eine gute Erziehung genossen. War er der Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns? Als er sich an diesem Abend verabschiedet hatte, war er so still gewesen. Fast gedankenverloren … Langsam ließ sie den Atem entweichen. Sie konnte sich des quälenden Gefühls nicht erwehren, daß die Dinge nicht so waren, wie sie sein sollten … Wer war er? Warum war er hier? Er hatte gesagt, daß er eine Plantage in Virginia geleitet hatte. War das die Wahrheit? Oder hatte er insgeheim einen bestimmten Grund, nach Lancashire – genauer gesagt nach Lockhaven – zu kommen?
Aber das war ja absurd. Sie war nur müde. Es war ein langer Tag gewesen. Das war alles, schließlich war es nicht ihre Art, ihrer Phantasie die Zügel schießen zu lassen. Nein, sie würde sich nicht solchen launenhaften Grübeleien hingeben. Diesen Part würde sie Beatrice überlassen.
Nach dem Abendessen begab sie sich unverzüglich zu Bett und schlief schnell und mühelos ein. Aber dann begann sie zu träumen … und es war kein Traum von der angenehmen, erholsamen und beruhigenden Sorte.
Sie lag zusammengerollt im Dunkeln und hatte Angst, sich zu bewegen, das leiseste Geräusch zu machen … Angst vor irgend etwas, aber sie wußte nicht, wovor.
Sie wußte nur, daß sie mucksmäuschenstill sein mußte, denn wenn sie es nicht war, würde sie bestraft werden. Und das wollte sie unter keinen Umständen.
Aber es war so furchtbar kalt. Sie hatte nichts als eine dünne, zerschlissene Wolldecke, um sich zu wärmen. Das kümmerliche Feuer im Kamin war fast heruntergebrannt, und der Fußboden war so hart. Feuchtigkeit drang durch die Bodenplanken herauf, so daß sie ein Zittern nicht verhindern konnte.
Sie rollte sich auf die Seite und zog die Knie an die Brust. Ein unterdrücktes Schluchzen drang, kaum hörbar, über ihre Lippen. Und dann war es zu spät …
Er hatte sie gehört.
Sie riß ängstlich die Augen auf, als er sich in der Zimmerecke aufrichtete, ein riesiger, bedrohlicher Schatten.
Sie erstickte den Schrei, der in ihr aufstieg, denn sie wußte, daß es ihn noch wütender machen würde … Er war ständig wütend. Als er dicht vor ihr stand, gefror ihr das Blut in den Adern vor Entsetzen. Ihr Herz hämmerte in wilder Furcht. Alles in ihr sehnte sich verzweifelt danach, aufzuspringen und wegzurennen. Aber wohin hätte sie laufen sollen? Wohin sich wenden? Alle ihre Muskeln spannten sich, denn sie wagte es nicht, ein Geräusch zu machen, auch nur den leisesten Mucks von sich zu geben. Wenn sie völlig reglos liegen blieb, würde er sie vielleicht in Ruhe lassen. »Kanaille«, stieß er mit rauher Stimme hervor. »Gott, wie ich den Tag verfluche, an dem du geboren wurdest.« Ihre Augen weiteten sich. Und sie sah, wie er die geballte Faust hob. Im Schein des Kaminfeuers war sein Gesicht eine verzerrte Maske der Wut …
Sie fuhr kerzengerade in ihrem Bett hoch. Ihr Atem ging stoßweise. Sie sah dieses Gesicht lebhaft vor sich … sein Gesicht. Im Traum hätte sie nicht sagen können, welche Farbe sein Haar hatte, aber sie hatte das unbestimmte Gefühl, daß es dunkel war … Seine Augen waren glühende Teiche voller Haß … Im Traum kannte sie dieses Gesicht – kannte und fürchtete es.
Sie schauderte. Dieser Traum suchte sie immer dann heim, wenn sie etwas belastete. In ihrer Kindheit hatte sie ihn oft gehabt, damals im Internat für höhere Töchter, das ihr so verhaßt war.
Sie trocknete ihre Hände an der Bettdecke. Sie waren eiskalt und feucht. Dieser schreckliche Mann in ihrem Traum … Wer war er? War es jemand, den sie kannte? Wenn sie es doch nur wüßte! – Oder wußte sie es? Vielleicht war es besser so. Vielleicht war es besser für sie, wenn sie es nicht wußte.
Ein Zittern lief durch ihren schlanken Körper. Sie ließ sich in die Kissen zurücksinken, aber diesmal fand sie keinen Schlaf …
Aus Furcht, zu träumen.
Heather war nicht die einzige, die eine unruhige Nacht durchlebte. Damien lag eine Ewigkeit wach; schließlich verzog er grimmig das Gesicht und erhob sich. Er warf einen Morgenmantel über, goß sich einen steifen Brandy ein und setzte sich in einen Lehnsessel am Kamin.
Aber er nahm nur hin und wieder einen kleinen Schluck. Während er in die Glut starrte, die wie flüssiger Bernstein schimmerte, quälte ihn eine Flut von Gedanken. Die Finsternis in seinem Herzen spendete ihm keinen Trost; die düstere Stimmung, die ihn im Hause der Graysons beschlichen hatte, wollte nicht weichen.
Der Tag hatte ihm einige Offenbarungen gebracht, aber so ganz anders als alles, was er hätte voraussehen können. Vielleicht, dachte er grimmig, sollte er sich inzwischen angewöhnt haben, das Unerwartete zu erwarten.
Vielleicht war er kleinmütig. Vielleicht war er engstirnig. Aber er konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß die meisten Männer Heathers Hinken als abstoßend empfunden hätten.
Er verzog den Mund. Ha! Wenn es nur so wäre!
Aber da war noch etwas anderes, etwas, das er sich im Leben nicht hätte träumen lassen. Hochachtung für all das, was sie in ihrem jungen Leben schon geleistet hatte. Bewunderung für die Zähigkeit und die Kompetenz, mit der sie sich trotz ihres Hinkens durchgesetzt hatte.
Bridget fiel ihm ein – Heathers Sorge um das Wohlergehen der älteren Frau, das Mitgefühl, das sie ihr wegen der jahrelangen Kinderlosigkeit entgegenbrachte. Wenn er sich nicht irrte, war das keine vorübergehende Laune. Vielmehr schien Heather eine aufrichtige Herzensgüte zu besitzen, die sich auf alle Menschen erstreckte, die sie kannte und die ihr etwas bedeuteten.
Das alles war greifbar und wirklich. Ebenso greifbar und wirklich wie die Liebe, die sie ihrer Familie entgegenbrachte – und die in uneingeschränktem Maße erwidert wurde.
Vielleicht war es unausweichlich. Aber Damien konnte nicht umhin, sich Gedanken über das zu machen, was vor ihm lag …
Einen guten Teil seiner Reise nach England hatte er sich mit genau diesen Überlegungen beschäftigt – mit seiner Zukunft. In den ersten zehn Jahren in Virginia hatte er fast seine ganze Kraft und Aufmerksamkeit auf Bayberry gerichtet – darauf, die Früchte seiner Arbeit wachsen zu sehen. Frauen waren in dieser Zeit ein angenehmer Zeitvertreib gewesen, aber eine Heirat hatte er nie ernsthaft in Erwägung gezogen, denn keine Frau hatte so großen Gefallen bei ihm gefunden.
Bayberry hatte sich tatsächlich zu einem blühenden Unternehmen entwickelt, alles, wonach er strebte, lag ihm zu Füßen. Aber erst vor kurzem waren ihm seine eigenen Grenzen bewußt geworden – eine andere Dimension seines ehrgeizigen Strebens. Er wollte Bayberry – alles, wofür er gearbeitet hatte – nicht in die Hände eines anderen übergehen sehen, wenn er einmal nicht mehr war. Es war an der Zeit, über eine Familie nachzudenken – eine Frau an seiner Seite. Kinder, die um seine Füße tollten …
Aber, dachte er düster, Giles’ Tod hatte alles verändert. In diesem Augenblick fühlte sich Damien einsamer als je zuvor. Er hatte nicht damit gerechnet, den gräflichen Besitz zu erben; er wollte weder den Titel noch die Verantwortung übernehmen. Viel lieber hätte er Giles wieder gehabt …
Aber das war unmöglich.
Seufzend stellte Damien sein Glas beiseite. Wenn alles vorüber war – wenn er James Elliot gefunden hatte –, mußte er eine Entscheidung treffen. Die Entscheidung, nach Bayberry zurückzukehren … oder in England zu bleiben.
Der Jahrmarkt, von dem Victoria gesprochen hatte, kam wenige Tage später in die Stadt. Die Neuigkeit erfüllte alle Bewohner des Herrenhauses mit Aufregung. Am Abend entschloß sich Heather, dem Markt einen Besuch abzustatten. Sie liebte es, die bunten Waren auf den Verkaufstischen der fliegenden Händler zu betrachten. Aber am meisten liebte sie, wie schon seit ihrer Kindheit, die Fröhlichkeit und Ausgelassenheit.
Die Händler hatten ihre Stände und Buden auf der Wiese neben der Bäckerei aufgebaut. Heather stellte die Ponykutsche, die sie benutzte, wenn sie allein unterwegs war, beim Pfarrhaus ab und eilte zu der Wiese. Sie kam an einem Wagen mit frischem Fisch vorbei und rümpfte die Nase beim nächsten Händler, der blaßgelbe, saure Orangen feilbot.
»Na, kommen Sie schon«, rief ihr der Verkäufer zu. »Innen sind sie köstlich und prall, sage ich Ihnen!« Heather schüttelte nur lächelnd den Kopf und ging weiter.
»Sehen Sie sich dieses Porzellan an, Madam! Hauchdünn, darauf können Sie sich verlassen. Man kann sogar durchsehen! Kommt direkt von der Tafel des Duke of York, bei meiner Seele!«
Sie schlenderte an einem Kesselflicker mit seinen Kohlenpfannen und Schleifsteinen vorbei, als nächstes an einem Wagen mit Steingut und Töpferware. Schließlich erstand sie ein Dutzend Ellen Satinband und Gewürze für die Küche. Mit offenem Mund staunte sie über die Künste eines Jongleurs und lachte mit den umstehenden Kindern über die Possen eines Drehorgelmanns und seines winzigen Äffchens.
Der nächste Händler, ein großer hagerer Mann in einem Anzug aus steifem Wollstoff, hatte seine Waren auf mehreren Verkaufstischen ausgebreitet. Heather blieb neugierig stehen und betrachtete die Fläschchen und Tiegel in allen Formen und Größen.
»Das hier ist ein Angebot für Sie, meine Damen, ein Wässerchen, das Ihre Haut so weiß macht, daß Sie den Vergleich mit den Schönheiten in London nicht scheuen müssen! Sie bekommen es für eine Krone!«
»Eine Krone!« schrie eine Frau in der Menge. »Ich wette, es ist nicht mal ‘nen Schilling wert, aber soviel biete ich Ihnen!«
»Ein Schilling! Ha, das ist ein Raubüberfall! Die Herstellung allein hat mich mehr gekostet, aber ich sag’ Ihnen was. Eine halbe Krone, und nicht weniger!«
Die Frau verdrehte die Augen.
Er hob ein anderes Fläschchen aus dunklem Glas in die Höhe. »Wie wär’s hiermit? Es kuriert jedes Wehwehchen vom Zahnschmerz bis zur Lähmung.«
Die Frau entfernte sich. Heather wollte eben ihrem Beispiel folgen, als jemand sie mit stählernem Griff am Ellbogen packte.
Es war der Händler. »Warten Sie, meine Dame.« Mit stechenden Augen musterte er sie von oben bis unten. »Ich hab gesehen, wie Sie herangekommen sind, und ich habe ein spezielles Mittelchen, nur für Sie. Es wird Ihr Bein kurieren, oder ich will nicht Peter Lennox heißen.«
Sie zuckte innerlich zusammen. Abwehrend schüttelte sie den Kopf.
»Na, kommen Sie schon.« Er deutete auf ihr Bein. »Es macht Ihnen doch wohl keinen Spaß, lahm zu sein? Ich hab’ dieses Mittel bei meinem verkrüppelten Neffen probiert. Jetzt läuft er wieder kerzengerade.«
Die Menge hatte sich zerstreut, niemand sah mehr zu. Sie versuchte sich aus dem Griff des Mannes zu befreien, aber er hielt sie unerbittlich fest.
»Nein«, erklärte sie mit gedämpfter Stimme. Sie wollte unter allen Umständen eine peinliche Szene vermeiden.
Er ließ nicht locker. »Aber es wirkt Wunder, sage ich Ihnen.« Er hatte die Finger schmerzhaft in ihren Arm gekrallt und zerrte an ihr. »Kommen Sie, lassen Sie sich’s wenigstens zeigen.«
Panik wallte in Heather auf. Sie schüttelte den Kopf und versuchte, sich seinem Griff zu entwinden, aber er war zu stark.
Plötzlich nahm sie eine blitzschnelle Bewegung wahr. Eine sehnige dunkle Hand schloß sich um das Handgelenk des Mannes. »Die Dame hat abgelehnt«, ließ sich eine ruhige Männerstimme vernehmen. »Lassen Sie sie los.«
Er war es – Damien Lewis. Der Händler ließ sich kein zweites Mal bitten. Seine Finger lösten sich augenblicklich von ihrem Arm.
»Hab’ ja nur versucht, der Dame zu helfen«, nuschelte er mürrisch. »Wenn es ihr nichts ausmacht, verkrüppelt zu sein, bitte sehr.« Er zog den Kopf zwischen die Schultern ein, machte auf dem Absatz kehrt und lud seine Waren in den Karren.
Heather blieb reglos stehen. Lahm. Verkrüppelt. Die Worte hatten sie wie Dolchstöße getroffen. Ihr Gesicht glühte vor Scham. Und ihr Herz schrie laut auf. Ich bin nicht lahm. Ich bin nicht verkrüppelt. Das bist du doch, flüsterte eine innere Stimme.
Auch Damien hatte sich nicht von der Stelle bewegt. Unsäglich gedemütigt, fühlte sie, wie sein Blick auf ihr lastete. Nur mit äußerster Willenskraft gelang es ihr, die Schultern zu straffen und das Kinn in die Luft zu recken. Sie spürte plötzlich einen unerträglichen Schmerz. Worauf wartete er noch? Wartete er darauf, daß sie sich in einen Redeschwall ergoß wie ein affektiertes, hilfloses Weibsbild? Sie doch nicht! Sie hatte sich viele Jahre lang auf niemanden als auf sich selbst verlassen. So wollte sie es, und so sollte es auch bleiben.
»Ich danke Ihnen, Mr. Lewis.« Ihre Stimme war ebenso kalt wie ihr Blick. »Aber ich versichere Ihnen, daß es nicht nötig war. Ich brauche keinen Retter in der Not.«
Eine dunkle Braue fuhr in die Höhe. »Wenn das so ist«, entgegnete er in einem Ton, der so kalt war wie der Winterwind, »dann bitte ich um Verzeihung.«
Sie machten gleichzeitig kehrt und entfernten sich in entgegengesetzte Richtungen, ohne zu merken, daß die Szene beobachtet worden war. Damien hatte erst ein paar Schritte getan, als er eine Hand auf seinem Arm spürte. Er wirbelte herum, und seine Augen blitzten kampfbereit.
Vor ihm standen Miles und Victoria Grayson.
Victoria ergriff als erste das Wort, und ihre Stimme klang bedrückt. »Mr. Lewis. Können wir ein paar Worte wechseln?«
Damien zögerte.
Miles warf Victoria einen Blick zu, in dem deutliches Unbehagen lag. »Victoria, ich weiß nicht, ob es klug ist …«
»Vielleicht nicht, Liebster. Aber ich glaube, es muß gesagt werden.« Der Widerstand ihres Mannes schmolz angesichts ihres flehentlichen Tons dahin. Sie tauschten eine stumme Botschaft aus; dann wandte er den Blick Damien zu. »Bitte, gönnen Sie uns einen Augenblick Ihrer Zeit, Mr. Lewis.« Der Earl sprach mit sehr ruhiger Stimme.
Damien kam zu dem Schluß, daß es sinnlos war, zu widersprechen. Er folgte den Eheleuten, die um die Ecke des Metzgerladens bogen, wo es ruhiger war.
»Wir haben wirklich nicht die Absicht, uns in Ihre oder Heathers Angelegenheiten zu mischen«, ergriff Victoria rasch das Wort. »Aber wir haben mit angesehen, was gerade passiert ist, und … Oh, Heather würde uns nie verzeihen, wenn sie wüßte, daß wir für sie sprechen, aber ich würde es gern erklären, wenn Sie erlauben.«
Damien schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig«, widersprach er.
»Doch, das ist es! Heather hätte nicht so mit Ihnen reden sollen, wie sie es getan hat. Solche scharfen Worte sehen ihr wirklich nicht ähnlich, das versichere ich Ihnen. Und ich würde es Ihnen gern erklären, ich … bin nur nicht sicher, ob ich es kann!« Händeringend warf sie ihrem Mann einen hilfesuchenden Blick zu.
»Ich glaube, was meine Frau Ihnen zu sagen versucht, ist folgendes, Mr. Lewis. Heather war immer sehr befangen wegen ihres Hinkens, obwohl ich zu behaupten wage, daß sie dies vehement bestreiten würde.«
»Das ist verständlich.«
»Wir haben versucht zu verhindern, daß es ihr in irgendeiner Weise zu einer seelischen Belastung wurde, aber keiner von uns muß wie Heather mit dieser Behinderung leben. Bitte betrachten Sie das Geschehene nicht als persönliche Beleidigung, Mr. Lewis.«
Damien betrachtete die Eheleute lange mit nachdenklichem Blick. »Warum liegt Ihnen etwas daran?«
Victoria antwortete wie aus der Pistole geschossen. »Weil wir Sie für einen außergewöhnlichen jungen Mann halten, und weil wir nicht wollen, daß Sie wegen dieser unseligen Geschichte Ihre Stellung kündigen.«
Er unterdrückte ein bitteres Lachen. Das würde ich ohnehin nicht tun, dachte er. Noch nicht jedenfalls.
»Wegen ihres Hinkens war Heather immer anders als andere Kinder«, fuhr Victoria fort. »Aber wir wollten nicht, daß sie sich minderwertig fühlt – denn das ist sie wahrhaftig nicht! –, und darum haben wir sie dazu erzogen, für sich selbst zu denken, für sich selbst zu handeln!«
»Sie fanden es sicher ungewöhnlich, daß ein Gut von der Größe Lockhavens von einer unverheirateten Frau geführt wird«, warf Miles ein.
Damien zögerte. Was sollte er darauf sagen? Sein Ausdruck mußte seine Gedanken verraten haben, denn Miles schlug ihm lächelnd auf die Schulter. »Es muß Ihnen nicht peinlich sein, mein Junge.«
Mein Junge. Ihm wurde merkwürdig eng ums Herz. Sein Vater hatte ihn so genannt, vor so langer Zeit, daß die Erinnerung daran fast verblaßt war. Ein Teil seiner selbst sprach Miles Grayson das Recht ab, sich einen so vertrauten Ton ihm gegenüber herauszunehmen; er wehrte sich dagegen, Miles und Victoria sympathisch zu finden. Aber er konnte nichts dagegen tun.
Seine Lippen verzogen sich zu einem kaum merklichen Lächeln. »Ich gebe zu, daß mir ein solcher Gedanke durch den Kopf ging.«
Miles nickte. »Von frühester Kindheit an wollte sie uns unter keinen Umständen zur Last fallen – oder sonst jemandem. Das war der Grund, warum wir an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag Lockhaven für sie erworben haben. Es war eine Möglichkeit, ihre Zukunft zu sichern …«
»Und eine Möglichkeit für sie, ihren Stolz und ihre Würde zu wahren und gleichzeitig für sich selbst zu sorgen.« Erst als die Worte heraus waren, wurde Damien bewußt, was er gerade gesagt hatte.
Victoria bedachte ihn mit einem warmen Lächeln. »Sie haben uns verstanden«, sagte sie froh und hakte sich bei ihrem Mann ein.
Der Blick, den er den beiden zuwarf, war offen und fest. »Ihnen liegt sehr viel an ihr, nicht wahr?«
Miles und Victoria wechselten einen Blick. »Sie wissen, daß sie nicht unser leibliches Kind ist.« Es war eine Feststellung, keine Frage.
Er nickte. »Sie sagte, daß Sie ihr Vormund waren, seit ihre Eltern bei einem Kutschenunfall umgekommen sind. Ihr Vater war ein französischer Adeliger und ihre Mutter eine Engländerin.« Damien hielt den Atem an, sein ganzes Sein war in diesem Augenblick von gespannter Erwartung erfüllt. Ein Dutzend Fragen überschlugen sich in seinem Kopf.
Würde Miles Heather Lügen strafen? Wußte er, daß James Elliot ihr Vater war? Daß er die letzten zwanzig Jahre in Newgate verbracht hatte? Hatte er deswegen Heather als sein Mündel großgezogen? Wußte er, daß Elliot noch am Leben war? War ihm sein Aufenthaltsort bekannt?
Wenn dem so war, verriet sein Verhalten nichts davon. »Ja«, sagte er mit ernster Miene. Seine Stimme gab seinem glühenden Eifer Ausdruck. »Aber das hat nie einen Unterschied gemacht, für keinen von uns. Ich habe Heather von dem Augenblick an geliebt, als sie in mein Haus gebracht wurde, so klein und hilflos, mehr tot als lebendig. Und Victoria ging es genauso, als sie Heather im Alter von acht Jahren zum ersten Mal sah. Wir haben sie in unseren Armen gehalten, wenn sie krank war. Wir haben sie umsorgt und gesehen, wie sie zu der schönen jungen Frau heranwuchs, die sie heute ist, und das ist ein Band, das uns keiner je nehmen kann.«
Er ergriff die Hand seiner Frau und drückte sie sacht.
»Es besteht kein Unterschied zwischen Heather und unseren leiblichen Kindern. Sie ist unsere älteste Tochter, und daran wird sich nie etwas ändern.«
Es dauerte eine Weile, bevor Damien etwas sagte. »Ich meine, Heather hat Glück, Eltern wie Sie zu haben«, bemerkte er ruhig. »Und Sie haben mein Wort, daß alles, was heute gesagt wurde, unter uns bleibt.«
Victoria schenkte ihm ein betörendes Lächeln. Zu seiner Überraschung ergriff sie seine Hände. »Ich wußte, daß Sie ein guter Mensch sind«, sagte sie schlicht.
Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, hielt sich Damien nicht länger auf, sondern begab sich umgehend zu Zeus und machte sich auf den Heimweg.
Sein Heim. Das Wort hinterließ einen bitteren Geschmack auf seiner Zunge. Er hatte kein Heim, nicht in diesem Augenblick. Er konnte weder nach Yorkshire zurückkehren noch nach Bayberry.
In seinen Gedanken herrschte ein wirres Durcheinander. Himmel, warum konnte die Sache nicht einfacher sein? Er hatte so viele Fragen – und keine Antworten. Die Geschichte von Heathers Vater, der angeblich ein französischer Adeliger sein sollte … Wer hatte sie in die Welt gesetzt? Es war eine Lüge; es mußte eine Lüge sein, aber Miles – und auch Heather – klangen so aufrichtig! Fast hatte er Schuldgefühle, weil er sie täuschen mußte, aber er durfte sich nicht offenbaren. Noch nicht. Dazu war es noch viel zu früh. Nein, dachte er. Er mußte weiter nach Plan vorgehen. Er mußte Zeit gewinnen und warten …
Am liebsten hätte er vor hilfloser Wut laut mit den Zähnen geknirscht.
Er war so tief in seine Gedanken versunken, daß er fast an dem niedrigen Zaun vor seinem Haus angelangt war, bevor er die Gestalt bemerkte, die auf der weinumrankten Veranda saß …
Es war Heather.