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ОглавлениеRavenwood Hall, 1821
»Er ist ein Zigeuner. Das weißt du doch, Olivia.« Zwischen ihre Rippen bohrte sich ein spitzer Ellbogen. »Teufelsbrut!«
Gewiss, ein Zigeuner.
So hatte Olivia ihn genannt, seit sie auf Ravenwood Hall eingestellt worden war. Und so nannten ihn auch alle anderen Hausbewohner. Dominic St. Bride, der Zigeuner, der Bastard des alten Earls.
Olivia lächelte höflich und langte nach ihrer Mahlzeit, einem Stück Hefebrot. Als Kirchenmann hatte ihr liebster Papa – Gott sei seiner Seele gnädig – solchen Klatsch und Tratsch stets als schwere Sünde betrachtet. Sicher würde er sie tadeln, weil sie ihren Tischgefährten zuhörte. Aber sie konnte nicht anders. Obwohl sie den Zigeunern keine Zuneigung schenkte – nach allem, was ihrem Papa widerfahren war –, interessierte sie sich brennend für den neuen Herrn von Ravenwood.
In der großen Küche hatten sich mehrere Dienstboten zum Mittagessen versammelt.
Der Butler Franklin hob die buschigen grauen Brauen. »Wisst ihr, was Langston sagt, der Butler im Londoner Haus? Der neue Earl ist ein launischer Mann. Und er schläft immer bei offenem Fenster. Sogar im tiefsten Winter.«
»Oh, zweifellos ist er ein grausamer Herr«, meinte Mrs. Thompson, die Pastetenbäckerin. Nach ihrer äußeren Erscheinung zu schließen, sprach sie ihren eigenen Erzeugnissen tüchtig zu. Ihr Bauch war ebenso rund wie ihre Kehrseite. Aber Olivia hatte Franklin verkünden hören, außerhalb von London sei keine bessere Bäckerin zu finden.
Angstvoll bekreuzigte sich Charlotte, eine junge Irin, die erst seit wenigen Tagen in Ravenwood Hall arbeitete, und riss die dunklen Rehaugen auf.
»Sicher ist er nicht besser als der alte Earl«, seufzte ein anderes Mädchen. »Wäre er bloß in London geblieben!«
Franklin schüttelte den Kopf. »Dass unser alter Herr sonst keine Söhne gezeugt hat, kann ich noch immer nicht glauben. Stellt euch das nur vor! Drei Ehefrauen. Und alle unfruchtbar.«
»Vielleicht lag’s an ihm und nicht an seinen Frauen«, warf die Köchin ein. »Haben Sie das schon mal bedacht, Mr. Franklin?«
»Nun, in seinen letzten Jahren pflegte er ziemlich tief in sein Weinglas zu schauen …«
»In seinen letzten Jahren? Eher im ganzen vergangenen Jahrzehnt! Mildreds Vetter war sein Stallmeister in London, und der hat erzählt, der alte Earl sei nicht mehr nüchtern gewesen, seit er den Jungen von seiner Zigeunermutter weggeholt hatte.«
»Jedenfalls ist er ein wilder Bursche. Seit er sich in der Obhut des alten Earls befand, war er nicht zu bändigen. Zum Beispiel weigerte er sich, die Schule zu besuchen. Immer wieder rannte er weg. Daran erinnere ich mich ganz genau. Und jetzt, wo er erwachsen ist, interessiert er sich nur fürs Kartenspiel und für Huren …« Hastig unterbrach sich der Lakai. »… und Frauen. Die weiß er sehr zu schätzen, wenn ihr versteht, was ich meine. Unglaublich, was für Frauen er hat sitzen lassen – eine Duchesse und eine Countess. Und mindestens zwei Opernsängerinnen. Neulich soll er die Schauspielerin Maureen Miller erobert haben. O ja, er hat schon zahlreiche weibliche Herzen zertrampelt. Dafür ist er in ganz London berüchtigt.«
Olivias Mundwinkel zogen sich nach unten. Schon jetzt verabscheute sie den neuen Earl – nicht weil er von einer Zigeunerin abstammte, sondern wegen seines lasterhaften Lebenswandels. Offenbar war er ein skrupelloser Schürzenjäger.
»Daran wird sich nichts geändert haben«, fügte ein anderes Stubenmädchen hinzu. »So benahm er sich schon vor dem Tod des alten Earls. Meine Mumm, die wohnt in London, schickt mir immer die Tageszeitungen. Was da alles über den jungen Herrn drinsteht! Sicher ist er schuld am Schlaganfall seines Vaters.«
»Der hat oft gedroht, er würde ihn enterben«, ergänzte ein Gärtnergehilfe. »Aber das war dem Zigeuner vermutlich egal.«
Franklin nickte. »Angeblich konnte er kaum noch gerade stehen. Und wie sich bei der Verlesung des Testaments herausstellte, hatte er den Jungen schon bei der Geburt als seinen rechtmäßigen Sohn anerkannt.«
»Aye«, bestätigte der Gärtner. »Und nachdem er seine letzte Gemahlin begraben hatte, holte er den Zigeuner zu sich. Wer sollte ihn denn sonst beerben? Da gibt’s nur eine entfernte Verwandte, und die ist fast so alt, wie’s der Earl war.«
»Den Adelstitel hätte sie sowieso nicht gekriegt«, betonte Glory, ein Küchenmädchen. »Außerdem mochte er sie nicht besonders.«
»Eigentlich mochte er niemanden.«
Diesem letzten Kommentar folgte schallendes Gelächter.
Die Hände in die Hüften gestemmt, schaute die Köchin von einem zum anderen. »Wie könnt ihr denn lachen? Jetzt trägt ein Zigeuner den Titel. Und wir sollten ihm respektvoll begegnen. Sonst verflucht er uns, so wie seine Mutter seinen Vater.«
Abrupt verstummte das Gelächter.
»Was für ein Unsinn!«, protestierte ein Diener.
»O nein«, erwiderte die Köchin. »Darüber hörte ich den Earl auf seinem Totenbett jammern. Die Zigeunerin hatte ihn verflucht und angekündigt, außer dem Kind in ihrem Bauch würde er keine Erben bekommen.«
»Angeblich sieht er fabelhaft aus«, bemerkte Enid, ein hübsches Stubenmädchen mit blonden Locken und runden blauen Augen.
»Wie auch immer, bald kommt er hierher. Darauf sollten wir uns vorbereiten.« Franklin stand vom Küchentisch auf. »Nun haben wir lange genug gefaulenzt, Ladys und Gents. Gehen wir wieder an die Arbeit.«
Trotz der strengen Miene, die der hoch gewachsene, hagere Butler meistens zur Schau trug, besaß er eine sanftmütige Seele. Seine erlauchte Position im Ravenwood-Haushalt bewog ihn keineswegs, auf die anderen Dienstboten herabzuschauen. Sogar für die niedrigste Scheuermagd fand er stets ein freundliches Wort und deshalb hatte Olivia ihn sofort in ihr Herz geschlossen.
Aber Mrs. Templeton, die Haushälterin, gehörte einer anderen Kategorie an. Ihr Verhalten war ebenso spröde wie ihr Gesichtsausdruck, und Olivia gewann den Eindruck, die Züge der Frau würden Risse bekommen, wenn sie zu lächeln versuchte. Nicht, dass diese Gefahr bestanden hätte. Mit kalten Augen schien sie ihre Untergebenen regelrecht zu durchbohren. Niemals sprach sie eine Bitte aus, erteilte immer nur Befehle, und ihre Stimme glich einem Peitschenknall.
Auch Olivia erhob sich und wischte ein paar Krümel von der gestärkten weißen Schürze, die sie über ihrem schlichten weißen Kleid trug. Seit einigen Tagen ging es in Ravenwood Hall ziemlich hektisch zu – einzig und allein wegen der unmittelbar bevorstehenden Ankunft des Zigeuners.
Olivia war in Stonebridge aufgewachsen. Den alten Earl hatte sie nicht persönlich gekannt, aber gelegentlich durch das Dorf fahren oder reiten sehen. Kein einziges Mal hatte er sich zu einem Grußwort herabgelassen, von einem Lächeln ganz zu schweigen.
Als Vikar hatte ihr Vater manchmal geschäftliche Dinge mit ihm besprechen müssen. Dass ihr Papa in Wut geraten wäre, hatte sie nur selten erlebt. Umso deutlicher entsann sie sich, wie er eines Tages voller Zorn aus Ravenwood Hall zurückgekommen war. Er hatte den Earl um finanzielle Hilfe gebeten, um das undichte Kirchendach reparieren zu lassen. Dazu war James St. Bride jedoch keineswegs bereit gewesen und so hatte Olivia einen wenig schmeichelhaften Eindruck von ihm gewonnen. Nach ihrer Ansicht war er ein äußerst kaltherziger, selbstsüchtiger Mann gewesen, der sein Geld ebenso wie seine Privatsphäre mit eiserner Faust gehütet hatte.
Ravenwood Hall stand auf dem Gipfel eines Hügels an der Nordseite des Dorfs – ein majestätisches Ziegelgebäude mit Sprossen in den Fenstern. Da der alte Earl diesen Landsitz in den letzten fünf Jahren nur selten besucht hatte, war der Großteil des Hauses geschlossen gewesen. Nicht einmal der Beginn seiner Krankheit vor etwa zwei Jahren hatte ihn bewogen, ins Heim seiner Ahnen zurückzukehren. Schließlich war er in seinem Londoner Haus gestorben.
Nun hatte Olivia lange genug getrödelt. Als eine der Letzten war sie von dem wuchtigen Eichentisch aufgestanden.
In diesem Augenblick betrat Mrs. Templeton die Küche. Ihr frostiger Blick fiel sofort auf Olivia. »Das hätte ich mir denken können, dass Sie in diesem Haus keinen Finger rühren würden, junge Dame«, zischte sie. »Bedauerlicherweise blieb mir nichts anderes übrig, als Sie einzustellen.«
Was sie damit meinte, war Olivia nur zu bewusst. Vor einem knappen Monat hatte der Zigeuner dem Butler geschrieben, er werde nach Ravenwood Hall übersiedeln. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht im ganzen Dorf verbreitet. Nur wenige Leute wollten hier arbeiten. Der neue Earl erregte das Misstrauen der Bewohner von Stonebridge. Für sie war er ein Außenseiter – ein Fremder.
Aber Olivia konnte das gute Gehalt, das ihr geboten wurde, nicht in den Wind schlagen. Ihr Papa hatte seine finanziellen Angelegenheiten mehr schlecht als recht geregelt. Nach seinem Tod war ein bisschen Geld übrig geblieben, gerade genug für ein halbes Jahr. Der Verlust des Vaters – vor allem die Art, wie er gestorben war – hatte sie tief getroffen. Dazu kam noch eine weitere Last – Emilys Behinderung. Inzwischen war das Geld knapp geworden und Olivia musste den Lebensunterhalt für sie beide verdienen. Deshalb hatte sie den Dienst auf Ravenwood angetreten.
»Zweifellos bilden Sie sich ein, Sie würden über uns allen stehen«, fuhr Mrs. Templeton empört fort. »Aber ich warne Sie, Miss Olivia Sherwood! Bringen Sie mich nicht dazu, Ihre Einstellung zu bereuen!«
Auf Olivias Wangen brannten zwei rote Flecken. Einige Dienstboten waren in der Tür stehen geblieben. Während sie die Szene beobachteten, sperrten sie Mund und Nase auf. Nur mühsam unterdrückte sie einen scharfen Protest. Was geschehen würde, wenn ihr die Haushälterin die Tür wies, wollte sie sich gar nicht ausmalen. In ruhigem Ton erwiderte sie: »Tut mir Leid, dass Sie einen falschen Eindruck gewonnen haben, Mrs. Templeton. Seien Sie versichert, ich weiß sehr gut, welchen Platz ich hier einnehme, und ich werde all Ihre Wünsche erfüllen.«
Mit ihrer würdevollen Haltung schien sie Mrs. Templetons Unmut noch zu schüren. »Großartig, Miss Sherwood.« Die dünnen Lippen bewegten sich kaum. »Zunächst werden Sie die Haupttreppe putzen und polieren. Diese Arbeit beenden Sie erst, wenn sie zu meiner Zufriedenheit erledigt wurde.«
Auf halber Höhe teilte sich der breite Aufgang in zwei Treppen, die zu den beiden Flügeln des Herrensitzes führten. Um den Befehl auszuführen, würde Olivia einige Stunden brauchen. Schweren Herzens widerstand sie der Versuchung, ihre Peinigerin wütend anzustarren. Von Anfang an hatte Mrs. Templeton sie nicht gemocht. Das las Olivia in den kalten Augen, und sie fand es erstaunlich, dass ihr das schwere Los einer Küchenmagd erspart blieb.
An der Ecke des Flurs wartete Charlotte und berührte ihren Arm. »Sorg dich nicht, Olivia. So war sie schon immer. Zumindest hat man’s mir erzählt. Offenbar steht sie mit der ganzen Welt auf Kriegsfuß.«
Olivia lächelte schwach. »Und ich dachte, sie würde nur an mir herumnörgeln.«
Wenige Minuten später trug sie mehrere Putzlappen und Bienenwachs in die Eingangshalle. Energisch machte sie sich ans Werk. Auf der anderen Seite der Treppe sah sie den Widerschein der Sonne, die allmählich hinter dem Horizont versank.
Langsam schleppten sich die Stunden dahin. Als die Uhr in der Halle zehnmal schlug, erreichte Olivia den Absatz, wo sich die Treppe teilte. Plötzlich fiel ein Schatten über ihre gebeugte Gestalt. Sie hob den Kopf und strich sich eine rotblonde Haarsträhne aus der Stirn.
Zum Glück war es nur Charlotte. »Ich werde dir helfen.«
»O nein!«, entgegnete Olivia und stand auf. »Wenn Mrs. Templeton dich hier findet, wird sie schrecklich böse sein.«
»Nun, dann werde ich ihr erklären, es gehe sie nichts an, was ich in meiner Freizeit mache.«
Olivia rückte Charlottes verrutschtes Spitzenhäubchen zurecht. »Vielen Dank für dein Angebot, meine Liebe. Aber das ist meine Arbeit, nicht deine.«
»Komm schon! Du musst für deine Schwester sorgen. Um diese Zeit solltest du längst daheim sein.«
»Und du bei deinem Sohn«, erwiderte Olivia und hob die fein geschwungenen Brauen.
Die 23-jährige Charlotte, nicht viel älter als sie selbst, hatte einen siebenjährigen Jungen namens Colin. Vor einiger Zeit hatte sein Vater einen tödlichen Unfall erlitten. Um den harten Zeiten in Irland zu entrinnen, war sie mit ihrer Mutter und dem Kind dann nach Yorkshire gezogen.
»Den kann meine Mum genauso gut betreuen wie ich. Vielleicht sogar besser, weil sie vierzehn Kinder großgezogen hat«, fügte Charlotte lächelnd hinzu.
Da gab sich Olivia geschlagen. Es wäre sinnlos gewesen, der eigenwilligen jungen Frau noch länger zu widersprechen. Und so reichte sie ihr einen Putzlappen.
Mit Charlottes Hilfe kam sie viel schneller voran. Eine Stunde später berührte Olivia die Schulter ihrer Gefährtin. »Jetzt hast du genug getan, Charlotte. Bitte, geh nach Hause zu deinem Sohn.« Charlotte öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Olivia kam ihr zuvor und zeigte auf die restlichen Stufen. »Sieh mal, wir sind fast fertig. Den Rest schaffe ich allein. Wenn du noch länger hier bleibst und von Mrs. Templeton ertappt wirst, verlierst du womöglich deine Stellung. Das möchte ich nicht auf mein Gewissen laden.«
»Also gut …« Zögernd stand Charlotte auf und Olivia umarmte sie.
»Wie soll ich dir nur danken? Falls ich dir jemals einen Gefallen tun kann oder wenn du irgendwelche Probleme hast – wende dich bitte an mich.«
Charlotte hatte sich gerade noch rechtzeitig verabschiedet. Kaum hatte Olivia die letzte Stufe poliert, kam Mrs. Templeton auch schon die breite Treppe heraufgestiegen. Fachkundig strich sie mit einem Finger über das schimmernde Kirschbaumholz, hob ihn hoch und suchte nach Staubspuren. Nichts entging diesen stechenden kleinen Augen. Voller Angst hielt Olivia den Atem an, bis die Haushälterin vor ihr stand.
Weder Lob noch Tadel kam über die schmalen Lippen. »Sie dürfen jetzt gehen«, war alles, was sie sagte – wie üblich in mürrischem Ton.
Olivia dankte ihr und verabschiedete sich.
Erst am Fuß der Treppe seufzte sie erleichtert auf. Das Haus war dunkel wie ein Grab. In Olivias Fantasie hatte der Name Ravenwood Rabenwald – stets unheimliche, düstere Bilder heraufbeschworen. Aber bei ihrem ersten Besuch war sie angenehm überrascht gewesen. Hohe Fenster füllten die schönen, großen Räume mit einem warmen goldenen Licht, das in seltsamem Kontrast zum Namen des Hauses stand.
Während sie durch den Flur zum Hinterausgang neben der Küche eilte, hallten ihre Schritte auf dem polierten Boden wider. Mittlerweile hatten sich die meisten Dienstboten schon in ihr Quartier zurückgezogen, das ein Stockwerk tiefer lag. Nur wenige wohnten wie Olivia und Charlotte im Dorf.
Die Hand auf der Klinke, zuckte sie zusammen. Am Vortag hatte sie einen Eimer nach dem anderen ins zweite Stockwerk hinaufgeschleppt und alle Böden geschrubbt. Ihre Schultern und ihr Rücken schmerzten immer noch. Auf beiden Handflächen hatten sich mehrere Blasen gebildet und die Finger fühlten sich steif und geschwollen an.
Erschöpft folgte sie dem langen, gewundenen Weg zur Straße. Für die Überstunden an diesem Abend würde sie keinen zusätzlichen Lohn erhalten. Schweren Herzens kämpfte sie mit den Tränen. Manchmal konnte sie noch immer nicht glauben, dass Papa und Mama gestorben waren. Doch es wurde ihr qualvoll bewusst, wenn sie in Emilys blicklose Augen schaute.
Eine kalte Brise wehte ihr ins Gesicht und riss sie aus ihren melancholischen Gedanken. Fröstelnd zog sie ihr Cape enger um die Schultern. Es war spät geworden. Wahrscheinlich fast Mitternacht, überlegte sie.
Über dem Boden hingen Nebelschwaden. Der Wald reichte fast bis zur Straße heran. Vom Wind bewegt, schienen die knorrigen, ineinander verschlungenen Zweige einen makabren Tanz zu vollführen. Schaudernd sah sie sich um.
Sei nicht albern, ermahnte sie sich. Es war nur die Finsternis, die sie so unbehaglich stimmte. In der ruhigen, kleinen Gemeinde von Stonebridge gab es nichts zu befürchten. Während der letzten zehn Jahre war die Ermordung ihres Vaters das einzige schockierende Ereignis gewesen. Den Schuldigen hatte man wenig später festgenommen und bestraft.
Trotzdem konnte sie ihre Angst nicht verdrängen. Sie eilte in die Mitte der zerfurchten Straße. Sobald sie die nächste Biegung erreichte, würde sie das Dorf am Hang des Hügels erblicken.
Zunächst spürte sie die Gefahr nur – unter ihren Füßen bebte das Erdreich. Erschrocken hob sie den Kopf. In ihrer Kehle blieb ein Schrei stecken. Eine Kutsche bog um die Kurve und polterte auf sie zu – immer näher und näher. In ihren Ohren gellte das klirrende Geschirr, und sie glaubte, die vier großen Pferde mühsam keuchen zu hören. In panischem Entsetzen blieb sie wie angewurzelt stehen. Würde der Fahrer sie rechtzeitig entdecken?
Anscheinend nicht … In letzter Sekunde warf sie sich an den Straßenrand und der Wagen raste an ihr vorbei.
Zweige streiften ihre Wange, mit der Schulter voraus landete sie unsanft am Boden, und alle Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst. Hilflos rollte sie die Böschung hinab, dann blieb sie halb benommen liegen. Wie aus weiter Ferne drang ein Ruf zu ihr. Verzweifelt rang sie nach Atem.
Nur vage wurde ihr bewusst, dass die Kutsche gehalten hatte. Langsam erhob sie sich auf die Knie und strich das Haar aus ihrem Gesicht.
Und da sah sie das riesenhafte Tier, das zu ihr sprengte. Aus ihrer Kehle drang mühsam ein halb erstickter Schrei, abwehrend hob sie eine Hand. Doch das nützte ihr nichts. Ein gewaltiger Schlag traf ihre Brust und schleuderte sie auf den Rücken. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Sekunden stockte ihr Atem. Unfähig, sich zu bewegen, starrte sie in das klaffende Gebiss des sicheren Todes.
Es gab kein Entrinnen. Von kaltem Grauen erfasst, kniff sie die Augen zusammen. Und dann gelang es ihr endlich zu schreien. Mit Haut und Haaren würde die Bestie sie verschlingen …
Unter Stiefelsohlen knirschte Kies. »Keine Bange, er ist harmlos«, versicherte eine Männerstimme, und eine warme, nasse Zunge fuhr über ihre Wange. »Völlig harmlos.«
Langsam öffnete Olivia die Augen. Aus den nächtlichen Schatten tauchte eine hoch gewachsene Gestalt auf, von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt.
Über Olivias Rücken rann ein Schauer. Noch viel größere Angst als dieses Ungeheuer jagte ihr sein Herr ein.
Einer Ohnmacht nahe, blickte sie in ein Augenpaar – so dunkel wie die Seele des Teufels. Irgendwo im Hintergrund ihres Bewusstseins ahnte sie, wer vor ihr stand.
Der Zigeuner.