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ОглавлениеWie ein Zigeuner sah er nicht aus. Wo war die farbenfrohe Kleidung? Und warum trug er kein Halstuch?
Natürlich zieht er sich anders an, dumme Gans, schalt sie sich. Der Sturz musste ihr Gehirn benebelt haben. Immerhin führte der Zigeuner schon seit geraumer Zeit das Leben eines Gentlemans.
»Sind Sie verletzt, Miss? Können Sie sprechen?«
Das war also Dominic St. Bride, der Earl of Ravenwood. Seine Stimme klang leise, tief und sanft, wie ein gut geöltes Uhrwerk. Neben ihm stand der unheimliche Köter.
»Hören Sie mich, Miss?« Jetzt schwang ein ärgerlicher Unterton in seiner Frage mit. »Wenn ja, antworten Sie bitte.«
Erst jetzt merkte Olivia, dass sie ihn anstarrte. Zweifellos hielt er sie für schwachsinnig.
»Können Sie sich bewegen, junge Frau?« Dunkle Strähnen fielen ihm in die gerunzelte Stirn. Mit starken Händen umfasste er ihre Oberarme. Dann neigte er sich zu ihr herab. Dabei kam er ihr so nahe, dass sie spürte, wie sich der Wollstoff seines Jacketts an ihrer Kleidung rieb. Sein warmer Atem streifte ihre Lippen. Sonderbar – sie fand es gar nicht unangenehm …
O Gott, was war denn los mit ihr? »Wenn Sie mich loslassen würden, wäre ich Ihnen sehr dankbar, Sir.«
Irgendetwas glitzerte in seinen Augen und seine Mundwinkel zuckten. Ein Lächeln? Nein, unmöglich. Das Personal von Ravenwood hielt ihn – ebenso wie Olivia – für einen grausamen Herrn. Nachdem er ihren Wunsch erfüllt hatte, begann sie sich vorsichtig zu erheben. Er reichte ihr eine hilfreiche Hand, die sie ergriff und sofort losließ, sobald sie aufgestanden war. »Geben Sie Acht!«, mahnte er. »Nicht so schnell.«
Jetzt knirschten wieder Schritte im Kies. Ein stämmiger Mann kam heran und schwenkte eine Laterne. »Alles in Ordnung, Mylord? Beim Allmächtigen, ich schwöre Ihnen, ich sah das Mädchen erst, als es zu spät war. Selbstverständlich versuchte ich auszuweichen …«
»Beruhigen Sie sich, Higgins, wir haben die Lage unter Kontrolle. Gehen Sie zum Wagen zurück.« Die Augen des Earls – dunkel wie ein mondloser Himmel – schauten Olivia unverwandt an. Plötzlich fühlte sie sich albern und verlegen. »Um Mitternacht sollten Sie nicht allein unterwegs sein, Miss«, meinte er.
Indigniert hob sie die Brauen. Er mochte ihr Arbeitgeber sein, was er allerdings nicht wusste, aber außerhalb seines Hauses brauchte er sie nicht zu maßregeln. »Wie spät es ist, weiß ich, Sir. Und ich versichere Ihnen, mir droht keine Gefahr.«
»Wenn Sie Recht hätten, müssten wir dieses Gespräch nicht führen.«
Olivia blinzelte. Was für ein arroganter, unerträglicher Mann. Empört straffte sie die Schultern. Mit ihren zweiundzwanzig Jahren war sie ihre eigene Herrin. Papa hatte ihr niemals Vorschriften gemacht, sondern seine beiden Töchter stets ermutigt, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. »Glauben Sie mir, Sir, ich bin keine jämmerliche, hilflose Frau.«
Offensichtlich nahm er ihre Behauptung nicht zur Kenntnis. Stattdessen zog er ein Taschentuch hervor und presste es zu ihrer Bestürzung an ihre rechte Wange. »Sie bluten«, erklärte er. »Das sah ich vorhin im Laternenlicht.« Instinktiv berührte sie ihre Wange und der Earl entfernte das Tuch. »Nur ein Kratzer. Der wird bald heilen.«
Aus seinen Worten hörte sie immer noch einen Tadel heraus und sie schwieg beklommen. Wie groß er war – ihr Scheitel reichte nur bis zu seinem Kinn. Um seine breiten Schultern zu erahnen, brauchte sie kein Tageslicht. Voller Unbehagen betrachtete sie den Hund an seiner Seite. Nie zuvor hatte sie eine so hässliche Promenadenmischung gesehen, mit riesigem Schädel, langem, muskulösem Körper und schwarzem Fell. Aufmerksam spitzte er die Ohren.
Ihr Retter bemerkte, wohin ihr Blick geschweift war. »Das ist Lucifer.«
»Lucifer! Der Name des Teufels!«
Anscheinend fand er ihr Entsetzen amüsant, denn er warf lachend den Kopf in den Nacken. »Keine Bange, Lucifer ist so sanftmütig wie ein Kätzchen.«
»Ein grausiges Biest«, entgegnete sie und musterte den Hund misstrauisch. Obwohl er nicht die geringste Angriffslust zeigte und fügsam neben seinem Herrn stand, jagte er ihr kalte Angst ein. »Katzen sind mir lieber.«
»Aber Katzen haben Krallen.«
»Manche Frauen angeblich auch.«
»Oh …« Der Mond glitt hinter eine Wolke und Olivia konnte das Gesicht des Earls kaum noch sehen. Trotzdem spürte sie, dass er lächelte. »Und Sie, Miss …?«
Seltsamerweise zögerte sie, ihren Namen zu nennen. Spielte es eine Rolle? Sicher nicht. »Sherwood«, stellte sie sich schließlich vor. »Olivia Sherwood.«
Zu ihrer Verblüffung zog er einen Handschuh aus, klemmte ihn unter seinen Arm und ergriff ihre Finger. In diesem Augenblick gingen ihr zwei Gedanken durch den Sinn. Aus unerfindlichen Gründen hatte sie erwartet, seine Haut müsse sich kalt wie der Tod anfühlen. Doch sie war erstaunlich warm. Und zweitens – in seiner großen Hand schien ihre eigene zu verschwinden.
»Erlauben Sie mir, Sie nach Hause zu begleiten, Miss Sherwood.«
Als sie ihm ihre Finger zu entziehen suchte, verstärkte sich sein Griff.
»Sie … Sie halten meine Hand fest, Sir.« Großer Gott, warum stotterte sie – und warum stockte ihr der Atem?
»Gewiss, Miss Sherwood.« Er betrachtete ihre Hand in seiner, dann ihr Gesicht. Jetzt sah sie sein Lächeln ganz deutlich. Das Lächeln eines Teufels. Zweifellos machte er sich über sie lustig. »Um meine Frage zu wiederholen – darf ich Sie nach Hause begleiten?«
»Nein, Sir, das ist nicht nötig. Ich wohne ganz in der Nähe, hinter dem Hügel.«
»Im Dorf?«
»Ja …« Das stimmte nicht ganz, denn ihr Haus lag fast eine Meile vom anderen Ende des Dorfs entfernt.
»Vielleicht haben Sie sich verletzt, ohne es zu bemerken.«
»Wohl kaum«, erwiderte sie und hoffte, ihre Stimme klinge einigermaßen entschieden. »Das wüsste ich.«
Als sie seinen eindringlichen Blick spürte, fragte sie sich, ob er die Lüge durchschaute. Ein paar blaue Flecken hatte sie sicher abbekommen. Endlich ließ er ihre Hand los. Sie hatte schon befürchtet, das würde niemals geschehen. »Also gut, Miss Sherwood«, antwortete er kühl. Hatte sie ihn beleidigt?
Plötzlich regte sich ihr Gewissen. »Danke, dass Sie meinetwegen angehalten haben, Sir. Und – sagen Sie bitte Ihrem Kutscher, er sei nicht schuld an meinem kleinen Unfall.«
Der Earl nickte ihr zu. »Glücklicherweise haben Sie keinen ernsthaften Schaden erlitten, Miss Sherwood.«
Nach drei Schritten verschluckte ihn die Finsternis. Olivia kniff die Augen zusammen. Doch sie konnte ihn nicht mehr sehen. Wenig später hörte sie erneut das Pferdegeschirr klirren und der Wagen fuhr davon.
Erleichtert seufzte sie auf. Ravenwood – ein passender Name, dachte sie zitternd. Diesen Mann umgibt eine düstere, geheimnisvolle Aura …
Oder wurde ihre Fantasie von der mitternächtlichen Stunde und seiner Zigeunerseele beflügelt?
Als sie das kleine Cottage betrat, das sie jetzt zusammen mit Emily bewohnte, pochte ihr Herz immer noch viel zu schnell.
Sollte sie ihrer Schwester von der gespenstischen Begegnung erzählen? Nein, Emily würde sich nur aufregen. Zum ersten Mal war Olivia dankbar für die Blindheit des Mädchens, denn es konnte den Kratzer auf ihrer Wange nicht sehen.
Mit fröhlicher Stimme überspielte sie den Aufruhr ihrer Gefühle. »Da bin ich, Emily. Wo steckst du, Liebes?«
»Hier.« Emilys Stimme erklang im Salon.
Hastig durchquerte Olivia die Küche. Graue Schatten füllten das Wohnzimmer. Aber sie sah die Umrisse der Gestalt, die im Schaukelstuhl am Fenster saß, und begann die Kerzen zu entzünden. »Es ist so dunk …« Schuldbewusst unterbrach sie sich. Seit einiger Zeit lebte Emily in einer dunklen Welt. »Für eine Sommernacht ist es furchtbar kalt. Auf dem Heimweg glaubte ich beinahe, ich würde erfrieren.«
»Anfang Juni sind die Nächte immer noch kühl.« Emilys bebende Finger zupften an ihrem Rock. Besorgt runzelte sie die schöne Stirn. »Warum kommst du so spät nach Hause?«
»Tut mir Leid, meine Liebe, heute musste ich länger arbeiten. Sicher fühlst du dich vernachlässigt. Hast du schon gegessen?«
»Vor ein paar Stunden – ein Stück Brot und Käse.« Emily wandte den Kopf in die Richtung, aus der die Frage ihrer Schwester zu ihr gedrungen war. »Olivia, deine Stimme klingt irgendwie – anders.«
»Das bildest du dir ein. Ich bin nur traurig, weil ich dich so lange allein gelassen habe.«
»Deshalb darfst du dir keine Vorwürfe machen. Am frühen Abend ging Esther mit mir spazieren.« Nach ihrem Dienstantritt auf Ravenwood hatte Olivia eine Dorfbewohnerin eingestellt, die Emilys Mahlzeiten zubereitete und sie jeden Tag an die frische Luft führte. »Wahrscheinlich ist der neue Earl schuld an deiner Verspätung«, meinte Emily missbilligend, »dieser Zigeuner.«
Olivia seufzte. Je weniger über den neuen Herrn von Ravenwood gesprochen wurde, desto besser. Ihre Schwester war lange Zeit von Albträumen heimgesucht worden. Immer wieder, viele Wochen lang, hatte sie Bilder von der Ermordung des Vaters gesehen, und Olivia wollte die bösen Erinnerungen nicht von neuem wecken. »Nein, Liebes, heute habe ich ein bisschen getrödelt. Zur Strafe zwang mich Mrs. Templeton, die ganze Haupttreppe zu polieren. Also muss ich mir die Überstunden selbst zuschreiben.«
»Dass du für einen Zigeuner arbeitest, gefällt mir ganz und gar nicht, Olivia. Wenn du eine Gouvernante wärst – oder eine Schneiderin …«
Wenn doch … Bedauerlicherweise gab es in Stonebridge keine reiche Familie mit kleinen Kindern, die eine Gouvernante brauchte, und es wäre nicht richtig, der tüchtigen Dorfschneiderin Konkurrenz zu machen. Sie hätten nach Cornwall übersiedeln können, in Onkel Ambroses Haus. Aber Mamas jüngerer Bruder lebte nicht mehr, und seine Witwe Paulina, die vier Kinder großzog, musste jeden Penny umdrehen. Natürlich wollte Olivia ihr keine zusätzliche Last aufbürden. Und um Almosen anzunehmen, war sie zu stolz.
Schließlich hatte sie die Stelle auf Ravenwood angetreten. Dort verdiente sie genug, sodass sie Emily und sich selbst ernähren und die Miete für das Cottage bezahlen konnte. Die schwere körperliche Arbeit störte sie nicht. Und eines Tages würde sie das nötige Geld aufbringen und mit ihrer Schwester nach London fahren, zu einem guten Arzt. Seltsam, auf welche Weise das arme Mädchen sein Augenlicht verloren hatte – so plötzlich, nur einen Tag nach Papas Ermordung …
Olivias Herz krampfte sich zusammen. Niemals würde sie jenen Morgen vergessen, den Schrei, nachdem Emily erwacht war. »Ich sehe nichts! Ich sehe nichts!«, hatte sie immer wieder geklagt. Hilflos hatte der Doktor mit den Achseln gezuckt und sich die blitzartige Erblindung nicht zu erklären gewusst. Dafür hatte es keine Anzeichen gegeben. Allerdings war Emily von Papas Pferd gefallen und hatte sich den Kopf angeschlagen …
Bleischwer lastete die Erinnerung auf Olivias Seele. Emily, ein Jahr jünger als sie, war ein lebhaftes, heiteres, hoffnungsvolles Mädchen gewesen – wenn auch ein bisschen schüchtern. Das hatte Papa auf den Tod der Mutter zurückgeführt. Zu jenem Zeitpunkt hatte sich Emily in einem schwierigen Alter befunden – kein Kind mehr und noch keine Frau. Und nach dem Tod des Vaters war sie erblindet – so als hätte eine mysteriöse Hand ein Licht in ihrem Innern gelöscht. Seither wirkte sie noch scheuer und ängstlicher. Still saß sie in ihrem Schaukelstuhl und beobachtete blicklos das Leben, an dem sie nicht mehr teilnahm …
Der Gedanke, die Ärmste müsste dieses Schicksal bis zu ihrem Lebensende ertragen, drohte das Herz ihrer Schwester zu brechen. Sie kniete vor Emily nieder und ergriff die schmalen Hände, die im Schoß lagen. »Sorg dich nicht, Liebes. Bisher sind wir recht gut zurechtgekommen, nicht wahr? Außerdem konntest du viel besser nähen als ich.«
Mühsam schluckte sie den Schmerz in ihrer Kehle hinunter. »Bald werden wir ein angenehmeres Leben führen. Das verspreche ich dir.«
»Aber ich fühle mich schuldig, weil du für diesen … Zigeuner arbeitest. Damit dürftest du deine Zeit nicht verschwenden. Könnte ich bloß sehen und dir helfen …«
»So schlimm ist es nicht«, versuchte Olivia sie zu trösten. »Früher habe ich in unserem Garten viel härter gearbeitet.« Olivia bemühte sich um einen fröhlichen Ton, doch sie zweifelte an ihrem Erfolg. Wenige Sekunden später sah sie ihre Befürchtung bestätigt, als Tränen in Emilys schönen blauen Augen glänzten.
»Erst starb Mama – dann Papa … Warum werden wir so grausam bestraft, Olivia?«
Plötzlich entsann sich Olivia, wie sehr ihre Mutter die Tiere und besonders die Pferde geliebt hatte. Mamas Vater war Stallmeister auf dem Landgut eines Dukes gewesen. In ihrer Jugend hatte sie ihm oft bei der Arbeit geholfen. Eines Tages hatte ihr Papa ihr zum Geburtstag eine scheckige graue Stute namens Bonnie geschenkt, die er einem benachbarten Farmer abgekauft hatte. Mama hatte sich unbändig gefreut. Beinahe hätte man den Eindruck gewinnen können, das Pferd mit dem durchhängenden Rücken wäre der edelste Vollblüter in ganz England.
Olivia hatte den Pferden stets misstraut. Vergeblich hatte der Vater versucht, ihr das Reiten beizubringen. Um ihr die Angst vor den Tieren zu nehmen, hatte Mama sie eines Tages hinter sich in den Sattel gesetzt. Nur zu gut erinnerte sich Olivia daran. Mama hatte Bonnie in langsamem Trab um ein Feld in der Nähe des Hauses gelenkt. Allmählich hatte Olivia geglaubt, alles wäre in bester Ordnung und das Reiten würde ihr vielleicht doch noch Spaß machen. Sie hatte sogar genug Mut aufgebracht, ihre Knie in die Pferdeflanken zu pressen und die Arme auszustrecken. Während ihr der Wind ins Gesicht geblasen und an ihrem Haar gezerrt hatte, hatte sie geglaubt, zu fliegen. Und plötzlich war Bonnie gestrauchelt. Abrupt war sie stehen geblieben und Olivia war zu Boden gefallen. Aber Mama … Kopfüber war sie durch die Luft geflogen und auf einem Felsblock gelandet. Als Olivia zu ihr gekrochen war, hatten ihr alle Knochen wehgetan. »Mama!«, hatte sie gerufen. »Mama! Steh auf!« Doch die Mutter hatte sich nicht mehr gerührt. Sie war tot.
So viel hatte sich danach geändert. Papa war nicht mehr derselbe gewesen, obwohl er sich bemüht hatte, seine tiefe Trauer vor den Töchtern zu verbergen. Nie wieder hatte er so fröhlich gelächelt wie vor jenem tragischen Unfall …
Und jetzt musste Olivia ihren Kummer bekämpfen – der blinden Schwester zuliebe. »Pst, Emily. Weißt du denn nicht mehr, was Papa gesagt hat? Die Wege des Herrn sind unergründlich. Vertrauen wir dem lieben Gott – und hoffen wir auf bessere Zeiten.« Beschwörend drückte sie Emilys Hände. »Bitte, verlier nicht den Mut.«
»Natürlich hast du Recht.« Emily schniefte leise. »Wie immer.«
Olivia strich ihr eine goldblonde Haarsträhne aus der Stirn. »Möchtest du einen Becher warme Milch trinken, bevor du zu Bett gehst?«
»Ja, das wäre wundervoll.« Ein schwaches Lächeln umspielte Emilys Lippen.
»Gut. Zieh dich schon mal aus, dann bringe ich dich ins Bett.« Olivia eilte in die Küche, um die Milch zu erhitzen. Nach ein paar Minuten drang ein dumpfes Geräusch aus dem Schlafzimmer, das sie mit ihrer Schwester teilte, und sie eilte zu ihr. Bereits in einem langen weißen Nachthemd, bückte sich Emily und rieb ihr Schienbein.
Offenbar hörte sie Olivias Röcke rascheln, denn sie blickte auf. »Tut mir Leid, ich bin über irgendwas gestolpert. In letzter Zeit bin ich so ungeschickt.«
»Schon wieder dieser Schemel«, erklärte Olivia mitfühlend. »Das musst du dir merken – er steht links vom Schrank, nicht rechts.«
Nach Papas Tod hatte es eine Weile gedauert, bis ein neuer Vikar ins Dorf gezogen war. Bis dahin hatten sie in dem hübschen kleinen Haus neben der Kirche gewohnt.
Als der neue Geistliche eingetroffen war, hatte Emily eben erst gelernt, sich in ihrer gewohnten Umgebung zurechtzufinden – in ihrem geliebten Elternhaus, das jetzt von Reverend Holden bewohnt wurde. Hätte sie ihr Sehvermögen behalten, wäre ihr der Umzug sicher nicht so schwer gefallen.
Nach der Ankunft im Cottage hatte sie bittere Tränen vergossen und ihr Bett tagelang nicht verlassen. Auch das war ein Grund, warum Olivia beschlossen hatte, in Stonebridge zu bleiben. In London würde sie zweifellos eine bessere Stellung finden. Aber da Emily sich in diesem beklagenswerten Zustand befand, würde sie eine völlig fremde Umgebung nicht verkraften. Vielleicht später …
Olivia fröstelte. Obwohl der Junitag angenehm warm gewesen war, herrschte eisige Kälte im Cottage.
Anscheinend hatte sie geseufzt, denn Emily wandte sich zu ihr. »Was ist los, Olivia?«
»Nichts, ich friere nur ein bisschen. Hier ist’s ziemlich zugig, nicht wahr? Sogar im Sommer. Im Winter müssen wir uns so dick vermummen, dass uns die Leute gar nicht erkennen werden, wenn sie uns besuchen.«
Zu ihrer Erleichterung lächelte Emily. Während die Schwester die Milch trank, kleidete sich Olivia aus und schlüpfte in ihr Nachthemd. Dann krochen die beiden Schwestern ins Bett.
Schon nach wenigen Minuten verrieten tiefe, gleichmäßige Atemzüge, dass Emily eingeschlafen war. Aber Olivia starrte noch lange ins Dunkel und ihre Gedanken wanderten zu dem Zigeuner. Vielleicht war es unvermeidlich …
Wie, um alles in der Welt, sollte sie ihm jemals wieder gegenübertreten, nachdem sie sich so albern benommen und ihre Angst vor seinem Hund deutlich gezeigt hatte? Beinahe wäre sie in Ohnmacht gefallen – eine typisch weibliche Schwäche, die sie stets verachtet hatte.
Andererseits traf auch ihn ein Teil der Schuld an dem Zwischenfall. Wäre seine Kutsche nicht so schnell gefahren, und das zu dieser unchristlichen Stunde … Plötzlich lächelte sie. Lucifer. Welch ein Name für ein Tier … Aber ihre Belustigung vermochte das Problem nicht zu lösen. Was würde geschehen, wenn sie den Earl wieder sah? Nun, sie war nur ein einfaches Dienstmädchen. Wahrscheinlich würden sich ihre Wege nie mehr kreuzen. Und wenn doch, würde er sie wohl kaum erkennen. Zumindest hoffte sie darauf.
Die elegante, glänzend polierte schwarze Kutsche polterte die schmale Straße entlang, mit gut geölter Federung, sodass der Insasse die Furchen und Schlaglöcher kaum spürte. An den Fenstern hing kostbarer Damast. Bequem in die weiche rote Samtpolsterung zurückgelehnt, runzelte Dominic zynisch die Stirn. Über diesen Luxus brauchte er sich nicht zu wundern. Immerhin hatte der Wagen seinem Vater gehört.
Für James St. Bride war immer nur das Beste, Schönste und Teuerste gut genug gewesen.
Inzwischen dachte er nicht mehr an das Mädchen, das er am Straßenrand zurückgelassen hatte. Die Arme vor der Brust verschränkt, starrte er ins Dunkel und überlegte, warum sich ein Mann wie James St. Bride jemals mit einer Zigeunerin eingelassen hatte. Gewiss, seine Mutter war eine Schönheit gewesen. Er sah sie keineswegs in verklärtem Licht und allein mit den Augen eines liebevollen Sohnes. Schon in jungen Jahren hatte er ihren außergewöhnlichen exotischen Zauber erkannt. Immer wieder hatte er beobachtet, wie die Männer sie begehrlich angestarrt hatten. Gadjo-Augen und Zigeuneraugen gleichermaßen.
Aber Madeleine hatte dem keine Beachtung geschenkt. Obwohl sie nur selten darüber sprach, blieb ihr Herz an einen einzigen Mann gefesselt, an den Mann, den Dominic hasste, seit er von seiner Herkunft erfahren hatte. Der Bastard eines Earls …
Für diese tiefe Liebe, die seine Mutter in ihrem Herzen bewahrte, brachte er kein Verständnis auf – wenngleich er gelernt hatte, ihre Gefühle zu akzeptieren. Ebenso wie er die Forderung seines Vaters hingenommen hatte, er müsse das Leben eines gadjo führen … »Dann hast du’s viel leichter, meine Junge.«
Er war seiner Mutter böse gewesen, weil sie seinem Vater erlaubt hatte, ihn in eine andere Welt zu holen, in der es keine Zigeuner gab. Trotzdem war er schon bald den Verlockungen des Reichtums und der Amüsements verfallen, die ihm geboten wurden.
Oft genug hatte er sich gefragt, was seinen Vater zu seiner Mutter hingezogen haben mochte. Ihre Schönheit? Ihr Zigeunerblut – ein Hauch des Verbotenen …? Was auch immer, Dominic war aus dieser Verbindung hervorgegangen. Um sich mit dieser Tatsache abzufinden, hatte er viele Jahre gebraucht.
Jetzt flüsterte ihm eine tückische innere Stimme zu, damit sei er noch immer nicht fertig geworden. War er ein Zigeuner? Oder ein gadjo?
Doch das spielte keine Rolle. Nun war er kein Bastard mehr – und würde dennoch immer einer bleiben.
Wer war er? Was war er? Bis an sein Lebensende würden ihn diese Zweifel verfolgen.
Nach dem Tod seines Vaters war er versucht gewesen, den Titel und das Vermögen abzulehnen – mit der gleichen Verachtung, die der Earl ihm stets gezeigt hatte. »Kleiner Zigeuner«, hatte James St. Bride ihn stets verspottet.
Der Vater hatte ihn für einen wilden Heiden gehalten und geglaubt, er würde sich niemals ändern.
Was James St. Bride nicht gewusst hatte – Dominic war kein primitiver, ungebildeter Zigeuner, sondern ein Gentleman – in der besten Londoner Gesellschaft willkommen. Dieses Ziel hatte er erreicht, so schwer es ihm auch gefallen war. Er tanzte im Almack’s, spielte im White’s, wettete im Jockey Club und saß an der Seite des Duke of Worthington.
Aber in seinem Herzen spürte er immer noch das Verlangen nach etwas anderem – nach etwas, das er nicht verstand. Vor einem knappen Monat hatte ihn die unschuldige Frage seines Anwalts Renfrews angespornt. »Wollen Sie sich persönlich um Ihre Interessen auf Ravenwood kümmern, Mylord?«
Ravenwood. Wie oft hatte Dominic sich gelobt, niemals einen Fuß in das Haus zu setzen, in dem sein Vater zur Welt gekommen war, im Heim seiner Ahnen. Dort hatte seine Mutter für kurze Zeit mit James St. Bride zusammengelebt.
Niemals hatte er seinen Sohn nach Ravenwood eingeladen. Und Dominic wusste, warum. Wenn der Vater ihn auf diesen traditionsreichen Landsitz gebracht hätte, so hätte es bedeutet, dass er ihn voll und ganz akzeptierte. Und dazu hatte sich der Earl nicht durchringen können, obwohl er den Zigeunerjungen als seinen Sohn anerkannt hatte.
Schon vor Jahren war die Saat einer geheimen Sehnsucht in Dominics Herz gepflanzt worden, dann aufgeblüht und gewachsen. Er hatte sein Erbe angetreten. Jetzt würde er auch Ravenwood für sich beanspruchen – und das Heim seines Vaters sollte sein Heim werden. Welch süße Rache an dem Mann, der ihn gezeugt hatte …
Als er vor dem Eingang des Herrschaftshauses aus der Kutsche stieg, eilten mehrere Lakaien herbei. Aber sie wurden sofort verscheucht, denn Dominic St. Bride legte keinen Wert auf Formalitäten.
Sichtlich nervös rannte der Butler Franklin in einem zerknitterten Nachthemd die breiten Eingangsstufen herab. »Verzeihen Sie, Mylord, aber wir wussten nicht, dass Sie schon heute Abend eintreffen würden. Sonst hätte sich das Personal in der Halle versammelt …«
»Schon gut, Franklin, ich habe Sie nicht über den genauen Zeitpunkt meiner Ankunft in Kenntnis gesetzt. Seien Sie beruhigt, ich erwarte keine zeremonielle Begrüßung. Stellen Sie mir die Dienstboten morgen früh vor.«
Verwirrt runzelte Franklin die Stirn. Er hatte mit einem Wutanfall gerechnet.
Der majestätischen Ziegelfassade hatte Dominic nur einen kurzen Blick gegönnt. Auf der letzten Stufe drehte er sich um und betrachtete die Sturmwolken, die sich am Horizont zusammenballten. Wo der Mond vorhin goldene Schleier auf das Land geworfen hatte, herrschte nun dichtes Dunkel. Das überraschte Dominic nicht, denn er wusste, wie oft das Wetter in dieser Gegend umschlug. Mittlerweile hatte sich die Nachtluft abgekühlt. In London war es schwül und stickig gewesen – hier draußen würde er genug Luft zum Atmen finden. Eine Wohltat …