Читать книгу Wogen des Glücks - Samantha James - Страница 8
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Оглавление»Was für ein schreckliches Unwetter war das gestern Nacht …«, klagte Charlotte. »Beinahe hätten mich die Donnerschläge aus dem Bett geworfen.«
»Im Sommer werden wir häufig von Gewitterstürmen heimgesucht«, erwiderte Olivia lächelnd. »Mein Vater sagte, die Engel würden im Takt der Himmelsmusik klatschen.«
»Oh, das muss ich Colin erzählen.« Charlottes Augen leuchteten auf. »Dann wird er nicht mehr so viel Angst haben.«
»Charlotte, Olivia!«, wisperte Fanny, ein anderes Dienstmädchen. »Beeilt euch! Wir müssen uns alle in der Halle versammeln und den neuen Herrn begrüßen.«
Bestürzt hielt Olivia den Atem an. Nun war der gefürchtete Augenblick gekommen.
Zum Glück stand sie neben Charlotte am Ende der langen Dienstbotenreihe. Von Mrs. Templeton aufmerksam beobachtet, straffte sie den Rücken.
Aus den Augenwinkeln sah sie Dominic St. Brides hoch gewachsene Gestalt. Sogar den Butler, der gewiss nicht klein war, überragte er. Während sie wartete, drehte sich ihr Magen um, und sie hoffte inständig, die Begrüßungszeremonie würde ein möglichst schnelles Ende finden. Aber an diesem Tag war ihr das Schicksal nicht gewogen, denn der Earl blieb vor jedem Dienstboten stehen, um ihn beim Namen zu nennen und ein paar freundliche Worte auszutauschen.
Je näher er kam, desto heftiger flatterten Olivias Nerven. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Und dann stand er vor ihr, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, so entspannt und gleichmütig, dass sie ihn glühend beneidete.
»Mylord, Miss Olivia Sherwood, eines unserer Dienstmädchen«, wurde sie von Franklin vorgestellt.
Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und schaute auf. Damit beging sie einen schweren Fehler. Obwohl der Earl sie nur ein paar Sekunden lang musterte, glaubte sie, sein Blick würde sie durchbohren. Um seine Lippen spielte kein Lächeln, kein Zeichen des Wiederkennens zeigte sich in seinen Augen, die zu Olivias Überraschung nicht dunkel waren, sondern strahlend blau.
Höflich neigte er den Kopf. »Miss Sherwood, es freut mich, Sie auf Ravenwood anzutreffen«, sagte er leise und wandte sich zu Fanny.
Olivia runzelte verwirrt sie Stirn. Offenbar erinnerte er sich nicht an sie. War sie gekränkt – oder erleichtert? Nur zu gern entschied sie sich für Letzteres.
Endlich war die Zeremonie vorbei und die Dienstboten wurden entlassen. Aufgeregt redeten die Mädchen durcheinander.
»Was für ein Mann! Kein Wunder, dass die feinen Londoner Damen ganz verrückt nach ihm waren!«
»Er hat die Augen seines Vaters geerbt. Leuchtend blau wie Saphire!«
»Habt ihr gesehen, wie er mich angelächelt hat?«
»Und mir gab er die Hand! Beinahe wäre ich in Ohnmacht gefallen!«
Belustigt schüttelte Olivia den Kopf.
Charlotte beugte sich zu ihr und wisperte: »Gib’s doch zu! Sieht er nicht fabelhaft aus?«
Plötzlich verstummte das Stimmengewirr und Sekunden später erkannte Olivia den Grund der tiefen Stille. Mrs. Templeton durchquerte die Halle – und ging geradewegs auf sie zu.
Schweren Herzens schaute Olivia ihr entgegen. Was hatte sie verbrochen, um diesen missbilligenden Blick zu verdienen?
Die Haushälterin blieb vor ihr stehen und fauchte die anderen Mädchen an. »Habt ihr nichts zu tun?« Hastig entfernten sie sich und Olivia wollte ihnen folgen. Aber Mrs. Templeton legte eine Hand auf ihren Arm. »Er möchte Sie sehen.«
»Ma’am – verzeihen Sie …«, stammelte Olivia. »Wie bitte?«
»Der Master wünscht Sie in der Bibliothek zu sprechen«, erklärte Mrs. Templeton mit schmalen Lippen.
Mühsam schluckte Olivia. Das gefiel ihr ganz und gar nicht. »Sehr wohl«, murmelte sie und wandte sich ab.
»Noch etwas, Mrs. Sherwood.« Die kühle Stimme der Haushälterin hielt Olivia zurück und sie drehte sich wieder um. »Einen guten Dienstboten darf man weder sehen noch hören. In Zukunft sollten Sie daran denken, junge Frau.«
Olivias Puls beschleunigte sich.
Ebenso wie seiner.
Während er vor dem Marmorkamin stand, überschlugen sich seine Gedanken. Niemals hätte er erwartet, ihr auf Ravenwood zu begegnen.
Bevor er letzte Nacht eingeschlafen war, hatte er noch lange an sie gedacht. Und an diesem Morgen, sobald er erwacht war … Er bedauerte, dass er ihr nachts begegnet war und nicht am hellen Tag. Würde sie im Sonnenschein ebenso zauberhaft wirken wie im Mondlicht?
Davon konnte er sich jetzt überzeugen.
Sie sah genauso exquisit aus, wie er es vermutet hatte – mit einem ovalen Gesicht und milchweißer, glatter Haut. Unter sanft geschwungenen Brauen umrahmten dichte Wimpern ihre großen jadegrünen Augen, auf ihrem rotgoldenen Haar glänzten die Sonnenstrahlen, die durchs Fenster hereinströmten. In London würde man sie nicht für eine Schönheit halten, weil ihr Haar nicht hellblond schimmerte. Außerdem war sie viel zu schlank.
»Mylord, Sie haben mich rufen lassen?«
Ohne Zögern kam sie zur Sache und das gefiel ihm ebenso wie ihre schlichte Würde. Die Hände sittsam gefaltet, die schmalen Schultern gestrafft, stand sie vor ihm. Sie ist nervös, entschied er. Doch sie will es nicht zeigen. Ein tapferes Mädchen …
»Wie mir Mrs. Templeton mitgeteilt hat, arbeiten Sie erst seit kurzem auf Ravenwood.«
»Ja«, bestätigte sie, »so wie die meisten Dienstboten. Das Haus wurde geschlossen, nachdem der Earl – ich meine, der alte Earl – Ihr Vater, Mylord …«
»Gewiss, Miss Sherwood, ich verstehe, was Sie meinen.«
Von seiner kühlen Antwort eingeschüchtert, schlang sie die Finger ineinander. Selbst wenn sie sich darum bemüht hätte, so vermochte sie ihren Blick nicht von ihm abzuwenden.
Sein Haar war nicht schwarz, wie sie es letzte Nacht vermutet hatte, sondern schokoladenbraun und etwas länger, als es der Mode entsprach. Und seine goldbraune Haut erweckte den Anschein, sie wäre von der Sonne geküsst worden.
Zum zweiten Mal fiel ihr auf, dass er nicht wie ein Zigeuner aussah – und auch nicht wie einer der Gentlemen, die sie kannte. Er trug ein schneeweißes Hemd mit einer edlen Krawatte, enge Breeches aus Rehleder und glänzende, kniehohe Stiefel. Trotz der eleganten Kleidung umgab ihn eine seltsam raue, fast wilde Aura. Aber es ließ sich nicht leugnen – er war unglaublich attraktiv.
Schließlich brach er das Schweigen. »Sind Sie fertig?«
Also hatte er festgestellt, wie neugierig sie ihn gemustert hatte. Noch nie in ihrem Leben war sie so verlegen gewesen. »Sir, ich …«, begann sie unbehaglich.
»Schauen Sie mich nur an, so lange Sie wollen. Sicher finden Sie mich – eigenartig.«
Seine ironische Höflichkeit trieb ihr das Blut in die Wangen. »Tut mir Leid.«
»Dafür müssen Sie sich nicht entschuldigen. Ich habe mich daran gewöhnt.«
Jetzt log er, was der harte Klang seiner Stimme nur zu deutlich verriet. »Wenn Sie mich nicht mehr brauchen, Sir …«
»Ich möchte Sie bitten, mir das Haus zu zeigen.«
»Aber ich – ich arbeite erst seit einer knappen Woche auf Ravenwood«, stammelte sie beklommen. »Vielleicht darf ich Ihnen vorschlagen, jemand anderen …«
»Nein, Sie sollen mich herumführen, Miss Sherwood.«
Irgendwie gewann sie den beängstigenden Eindruck, er würde noch viel mehr von ihr verlangen. »Wie Sie wünschen, Mylord.« Sie wandte sich zur Tür.
»Wenn Sie mir bitte folgen würden …«
»Sehr gern, Miss Sherwood.«
Sie zuckte zusammen. Machte er sich unentwegt über sie lustig? Oder bildete sie sich den spöttischen Unterton nur ein? Wohl kaum – und diese Erkenntnis erschwerte ihr die nächste halbe Stunde. Während sie durch das Haus gingen, hoffte sie, er würde ihre Nervosität nicht bemerken.
Im Arbeitszimmer wagte sie aufzuatmen. Die Besichtigungstour war fast beendet. Über dem Kamin hing ein Porträt seines Vaters. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, blieb er davor stehen. Obgleich James St. Brides Haar mahagonibraun gewesen war, sah der Sohn ihm ähnlich, mit einem markanten Kinn, den gleichen hohen Wangenknochen und eindringlichen blauen Augen.
Wie erstarrt betrachtete Dominic St. Bride das Bild seines Vaters. Um die drückende Stille zu beenden, meinte Olivia: »Sie sind nach ihm geraten, Sir.« Was sie sonst sagen sollte, wusste sie nicht.
»Ich habe seine Augen geerbt«, erwiderte er ausdruckslos. »Davon abgesehen möchte ich ganz anders sein.«
Über ihren Rücken lief ein sonderbarer Schauer. Er hasst ihn, dachte sie, er hasst seinen Vater … Das spürte sie.
Aber als er sich endlich zu ihr wandte, wirkte er so gelassen wie eh und je. »Setzen wir unseren Weg fort, Miss Sherwood.«
Nun musste sie ihm nur mehr den Wintergarten zeigen. Trotz ihres Unbehagens bedauerte sie das Ende des Rundgangs, denn sie hielt diesen großen, von Licht durchfluteten Raum für den schönsten des ganzen Hauses. Gegenüber dem Eingang führte eine gläserne Doppeltür auf die Veranda, dahinter wucherten Rosen in einem kleinen Garten.
Voller Wehmut schaute sie sich um. Dieser Anblick erinnerte sie an ihr Elternhaus, das jetzt Mr. Holden bewohnte, der neue Vikar. Im winzigen Rosengarten an der Rückfront hatte sie so viele wunderbare Stunden mit Mama verbracht – ein Glück, das sie schmerzlich vermisste.
»Leben Sie allein, Miss Sherwood?«
Die tiefe Männerstimme riss sie aus ihren melancholischen Gedanken. Offenbar stand Dominic St. Bride direkt hinter ihr. Sie drehte sich um und trat einen Schritt zurück. »Nein«, murmelte sie.
»Sind Sie verheiratet?«
»Nein, meine Schwester wohnt bei mir.«
»Ich finde Ihre Sprechweise erstaunlich kultiviert.«
»Danke, Mylord.«
»Anscheinend wurden Sie gut erzogen.«
»Meine Mutter hat sich sehr darum bemüht – Gott sei ihrer Seele gnädig.«
»Zudem wurden Sie gut ausgebildet, nehme ich an.«
»Ja, mein Vater hat mich unterrichtet.« Bedrückt fragte sich Olivia, worauf der Earl hinauswollte.
»Unter diesen Umständen begreife ich nicht, warum Sie eine Stellung in meinem Haushalt angenommen haben.«
Nun wusste sie, was er meinte – sie passte nicht hierher. Sie holte tief Atem und wählte ihre Worte sehr sorgfältig. »Wie mein Vater stets betont hat, stärkt harte Arbeit die Seele eines Mannes, und ich glaube, das gilt auch für die Frauen. Aber falls Sie das interessiert – außer meiner Schwester habe ich keine Verwandten und ich muss den Lebensunterhalt für uns beide verdienen.«
»Ich wollte Sie nicht beleidigen, Miss Sherwood.«
Erst jetzt erkannte sie, wie schroff ihre Stimme geklungen hatte. »Ich fühle mich keineswegs gekränkt, Mylord.«
Eine Zeit lang schwieg er. Sein Blick glitt über ihr Gesicht und beschleunigte ihre Herzschläge. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, berührte er den Kratzer auf ihrer Wange. »Das sieht man kaum.«
Brennende Röte färbte ihre Wangen. »So schlimm war’s ja auch gar nicht …«
Zu ihrer tiefsten Verlegenheit ergriff er ihre Finger und strich behutsam über die Blasen auf den Handflächen. Angstvoll überlegte sie, was er denken mochte. Dass sie sich nicht für die Hausarbeit eignete? O Gott, wenn sie ihre Stellung verlor – wie sollte sie ihre Schwester und sich selbst ernähren?
Ihre Blicke trafen sich und er lächelte. »Nun haben Sie mir Ihre kostbare Zeit lange genug geopfert, Miss Sherwood. Vielen Dank. Sicher sehen wir uns bald wieder.«
Fassungslos beobachtete sie, wie er ihre Hände an die Lippen zog und zarte Küsse darauf hauchte.
Ohne ein weiteres Wort ging er davon und sie starrte ihm verwirrt nach. Ihr Herz schlug wie rasend. Warum benahm er sich nur so ungehörig? Ihre Wange zu berühren, ihre Hände zu küssen …
Jedenfalls war er kein Gentleman – und sie keine Dame. Mit den feinen Londoner Ladys durfte sie sich gewiss nicht vergleichen.
Wenn man Charlotte glauben konnte, war der Earl ein Lebemann, sogar ein Wüstling. So etwas würde Olivia niemals billigen.
Aber sie musste Charlotte auch in anderer Hinsicht Recht geben – er sah wirklich fabelhaft aus.
An diesem Abend verließ sie Ravenwood etwas früher. Charlotte holte sie vor dem Haus ein. »Stört’s dich, wenn ich mit dir gehe?«
»Natürlich nicht«, beteuerte Olivia lächelnd, »ich freue mich über deine Gesellschaft.«
Nach ein paar Schritten räusperte sich Charlotte mehrmals, wich Olivias fragendem Blick aus und runzelte die Stirn.
Olivia blieb stehen und hielt sie am Ellbogen fest. »Komm schon! Du willst mir etwas sagen. Raus mit der Sprache!«
»Nun …« Gewöhnlich nahm Charlotte kein Blatt vor den Mund. Aber diesmal zauderte sie erstaunlich lange. »Wenn du nicht willst … Ich möchte dich auf keinen Fall belästigen …«
»Spuck’s endlich aus!«, mahnte Olivia kichernd.
»Also gut.« Charlotte holte tief Luft. »Erinnerst du dich, was du gestern gesagt hast? Wenn du mir mal einen Gefallen tun könntest …«
»Das weiß ich. Und ich hab’s auch ernst gemeint.«
Verlegen rang Charlotte die Hände. »Ich habe gehört, du würdest einigen Dorfkindern Lesen und Schreiben beibringen.«
»Ja, jeden Sonntagnachmittag auf dem Dorfplatz. Und abends, wenn ich Zeit habe.«
»Hättest du was dagegen, wenn mein kleiner Colin mitmacht? Leider habe ich nie was Richtiges gelernt, und ich – ich wünsche mir, dass er eines Tages so klug und gebildet ist wie du, so gelehrt …«
»Bitte, Charlotte, übertreib nicht!«, protestierte Olivia.
»Doch, das bist du. Und du solltest dich nicht in diesem Haus abrackern, so wie unsereins. Du bist eine wirkliche Dame«, betonte Charlotte, »eine echtere Dame als die meisten, die sich so nennen.«
Gerührt lächelte Olivia ihr zu. »Ist das alles, was du willst? Dass ich Colin Lesen und Schreiben beibringe?«
Charlotte nickte und Olivia kämpfte mit den Tränen. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie deren Aufgabe übernommen, die Dorfkinder zu unterrichten. Seit sie auf Ravenwood arbeitete, fand sie nicht mehr so viel Zeit für ihre Schüler. Aber sie hatte sich gelobt, die kleinen Mädchen und Jungen nicht im Stich zu lassen.
»Das tu ich sehr gern, Charlotte. Sorg dich nicht, es ist keine zusätzliche Belastung. Nur ein Dutzend Kinder kommt regelmäßig zu mir. Eins mehr oder weniger spielt keine Rolle.«
»Bist du sicher?«, fragte Charlotte.
»O ja«, bekräftigte Olivia und umarmte sie. »Und Colin hat die Gelegenheit, andere Kinder kennen zu lernen.«
»Du bist eine Heilige!«, behauptete Charlotte freudestrahlend. »Gott segne dich!«
Sie vereinbarten, dass Olivia am nächsten Abend zu Charlotte kommen würde. Beim Ententeich im Dorf trennten sie sich. Olivia winkte ihrer Freundin zu und eilte weiter. Nach einer Viertelstunde bog sie in den schmalen Weg, der zu ihrem Cottage führte. Als sie die Tür öffnete, rief sie: »Emily?«
»Hier bin ich!«, drang die Stimme ihrer Schwester aus dem Salon und Olivia trat ein.
Abrupt blieb sie stehen, denn Emily war nicht allein. William Dunsport saß ihr gegenüber, der Sohn eines Baronets und Offizier im Ruhestand. Seinen Hut in der Hand, stand der große blonde Mann hastig auf und verneigte sich höflich. »Verzeih mir, dass ich dich unangemeldet besuche, Olivia. Vorhin stellte ich mein Pferd im Mietstall ab und dachte, vielleicht sollte ich mal vorbeischauen. Emily sagte, sie wüsste nicht genau, wann du heimkommen würdest. Und da beschloss ich zu warten. Hoffentlich macht’s dir nichts aus.«
»Gar nichts, William«, erwiderte sie lächelnd. »Möchtest du eine Tasse Tee?«
»Oh, das wäre wundervoll.«
»Gleich bin ich wieder da.« Während sie in der Küche den Tee aufbrühte, hörte sie Williams leisen Bariton und Emilys sanfte, scheue Stimme. Wenig später trug sie das Tablett zu dem kleinen Tisch vor dem Sofa, auf dem ihre Schwester saß, und stellte es ab. »Würdest du den Tee einschenken?«, bat sie und nahm neben ihr Platz.
Sichtlich erschrocken wandte sich Emily zu ihr. »Olivia …«
»Du kannst es, Liebes. Warte – ich helfe dir …« Olivia führte Emilys Finger zu der kleinen weißen Teekanne. »Auf drei Uhr steht die Kanne.
Die Tassen findest du auf zwölf, sechs und neun.«
Zögernd umklammerte Emily den Henkel der Kanne, den Tränen nah. Olivia hielt den Atem an. Sekundenlang fürchtete sie, ihre Schwester würde die Hand zurückziehen, und schickte ein stummes Gebet zum Himmel. Diese Prozedur hatten sie immer wieder geübt. Olivia glaubte, dass es Emily gelingen würde, die Tassen zu füllen. Aber das Mädchen schien daran zu zweifeln. Auch William schaute eher skeptisch drein.
Emily ertastete die erste Tasse und schob sie vorsichtig zu der Kanne. Mit leisem Klirren stießen die beiden Porzellangefäße aneinander. Olivia wusste, wie angespannt ihre Schwester auf dieses Geräusch lauschte. Ganz langsam neigte Emily den Schnabel der Kanne nach unten. Eine Fingerspitze krümmte sich über dem Rand der Tasse. Als heißer Tee den Fingernagel erreichte, hörte sie zu gießen auf, seufzte erleichtert und lächelte.
Am liebsten wäre Olivia in hellen Jubel ausgebrochen. »Sahne und Zucker, William?«
»Sahne …«, würgte er ungläubig hervor. »Nur ein bisschen.«
Während sie etwas Sahne in seinen Tee träufelte, füllte Emily die zweite Tasse. Jetzt griff sie nach der dritten. Sie verschüttete keinen einzigen Tropfen.
Vielleicht war es nur ein kleiner Triumph. Aber Olivia platzte beinahe vor Stolz. Mit der Zeit würde sich Emily immer selbstständiger bewegen.
In der nächsten halben Stunde tranken sie Tee und plauderten. William schilderte seine Erlebnisse auf dem Kontinent, wo er seine Militärzeit verbracht hatte.
Als die Kanne leer war, brachte Olivia das Tablett in die Küche. Eine Hand berührte ihren Ellbogen, und sie drehte sich verwundert zu William um, der ihr gefolgt war.
»Wenn es mich auch nichts angeht, Olivia – ich verstehe nicht, warum du Emily erlaubst, den Tee einzuschenken.«
»Du hast völlig Recht«, stimmte sie zu und hob herausfordernd das Kinn. »Es geht dich nichts an.«
Erstaunt über die unverblümte Antwort, wich er einen Schritt zurück.
Nicht zum ersten Mal fiel ihr auf, wie sehr sich der freundliche junge Mann, den sie seit vielen Jahren kannte, verändert hatte. Er wirkte ernster – und nicht mehr so geduldig wie früher, bevor er in den Krieg gegen Napoleon gezogen war. Jetzt bemerkte sie gewisse schroffe Züge in seinem Wesen. Und manchmal benahm er sich unerträglich arrogant.
»Ich kann es einfach nicht mit ansehen, wenn Emily untätig dasitzt«, versuchte sie zu erklären. »Gewiss, sie ist blind – aber nicht hilflos. Sie soll lernen, dies oder jenes allein zu erledigen.«
Über seinen Wangenknochen erschienen rote Flecken. »Trotzdem muss ich protestieren. Sie könnte sich verletzen.«
Ärgerlich runzelte sie die Stirn. Sie vertrat einen durchaus vernünftigen Standpunkt. Warum wollte er das nicht einsehen? Wieso beharrte er so hartnäckig auf seiner Meinung? Der William, den sie früher gekannt hatte, war nicht so autoritär gewesen.
»Was Emily betrifft, brauche ich deine Ratschläge nicht zu befolgen, William«, entgegnete sie in ruhigem Ton. »Als ihre Schwester werde ich tun, was ich für richtig halte.«
»Glaub mir, du begehst einen schweren Fehler, Olivia. Deine Schwester ist invalide, und ich verstehe nicht, warum du den Eindruck erweckst, sie wäre völlig gesund.«
»Um es noch einmal zu betonen – Emily ist blind, aber nicht hilflos.« Ihre Lippen verkniffen sich ein wenig. »In ihrem Alter warten viele kleine Pflichten auf sie, die sie selbst übernehmen kann. Sie muss es nur lernen.«
Mit schmalen Augen starrte er sie an. »Du bist ziemlich impertinent, Olivia.«
»Und du, William, bist überheblich.«
»Daran zweifle ich, Olivia. Was ist bloß in dich gefahren? Vielleicht hängt es mit dem Tod deiner Mutter zusammen. Ja, ganz sicher. Seit jener Tragödie fehlt dir eine strenge Hand. Niemand erklärt dir, was sich schickt und was nicht. Sonst wüsstest du, dass du deine Zunge im Zaum halten solltest. Eine Dame sollte nicht mit einem Gentleman streiten.«
»In meinen eigenen vier Wänden muss ich meine Zunge nicht im Zaum halten, William. Außerdem hast du diesen Streit angezettelt.«
»Und du setzt ihn fort.«
Olivia seufzte. Nur mühsam zügelte sie ihr Temperament. »Vielleicht hast du’s vergessen, William, aber ich war niemals ein schüchternes Mäuschen.«
»O nein, ich habe nichts vergessen. Zum Beispiel entsinne ich mich sehr gut, wie begeistert du mich früher angehimmelt hast.« Jetzt klang seine Stimme nicht mehr scharf und vorwurfsvoll, sondern traurig. »Du hast dich verändert, Olivia.«
»Und du auch, William.« Weder Groll noch Bosheit lagen in diesen Worten – es war nur die schlichte Feststellung einer Tatsache.
Zunächst erweckte er den Eindruck, er würde protestieren. Dann fuhr er sich mit allen Fingern durch sein Haar, eine jungenhafte Geste, die Olivias Herz bewegte und Erinnerungen an schönere Zeiten heraufbeschwor. An alles, was für immer verschwunden war.
»Ja, vielleicht. Was ich auf den Schlachtfeldern mit ansehen musste, kannst du dir wohl kaum vorstellen. Nicht, dass ich einer Dame jemals davon erzählen würde …« Um seine Lippen spielte ein schwaches, freudloses Lächeln. »Wahrscheinlich hat der Krieg einen Mann aus mir gemacht.«
Und das Leben eine erwachsene Frau aus mir, dachte Olivia bedrückt.
»Denkst du manchmal an deinen achten Geburtstag?«, fragte William.
»O ja. Du hast mir einen wundervollen kleinen Veilchenstrauß geschenkt. Den zeigte ich Mama. Da musste sie schrecklich niesen und flehte mich an, die Blumen aus dem Haus zu bringen.«
»In jener Nacht regnete es«, sagte er träumerisch. »Und am nächsten Morgen hast du geweint, weil die Veilchen verfault waren.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Als ich das Dorf verließ, um gegen Napoleon zu kämpfen, hast du auch ein paar Tränen vergossen.«
In der Tat. Wie lange lag das alles zurück – und so viel war inzwischen geschehen … Die Zeit und die Trennung hatten sie weit voneinander entfernt.
»An die alten Tage erinnere ich mich sehr gut, Olivia. Und meine Gefühle für dich haben sich nicht geändert.« Eindringlich schaute er in ihre Augen. »Tut mir Leid, dass wir gestritten haben. Eigentlich wollte ich über etwas anderes mit dir reden.« Ehe sie zu Wort kam, ergriff er ihre Hände. »Meine liebe Olivia …«, begann er.
Warum musste sie plötzlich an andere Hände denken, an schmale, goldbraune Hände, die ihre Finger so warm umfasst hatten?
»Schon lange weiß ich, was ich will. Und ich hoffe, es ist auch dein Wunsch.« Noch eine kleine Pause … »Ich bitte dich, meine Frau zu werden. Wenn du meinen Antrag annehmen würdest, wäre ich überglücklich.«
Seine Frau.
Unbehaglich starrte sie ihn an, das blonde, glatt nach hinten gebürstete Haar, und suchte nach Worten.
Damit hätte sie rechnen müssen. Hin und wieder hatte er angedeutet, er würde nicht nur ihre Freundschaft anstreben. Vor seiner Abreise hatte er sie sogar geküsst. Als er den Kopf gehoben hatte, waren seine Wangen gerötet gewesen. Aber Olivia war seltsam unbewegt geblieben. In ihrer Brust hatte sich nichts geregt. Sie hatte heiße Leidenschaft erwartet, jenes Feuer der Liebe, das ihr Herz ersehnte. Stattdessen hatte sie nichts empfunden, nur eine deprimierende innere Leere. Sie war bitter enttäuscht gewesen.
Und jetzt? Als sie sich vorstellte, sie würde mit William vor den Traualtar treten, fröstelte sie beinahe. Keine feurige Erregung, kein wildes Glücksgefühl …
Wie konnte sie seinen Antrag annehmen? Sie liebte ihn nicht. Und ihr Mitleid würde ihn entwürdigen.
In ihrer schwierigen Situation wäre es ein einfacher Ausweg, ihn zu heiraten. Doch so leicht wollte sie es sich nicht machen. Mit harter Arbeit und Beharrlichkeit würde sie es aus eigener Kraft schaffen, ihre Schwester und sich selbst eine angenehme Zukunft zu bieten. Einen Mann zu heiraten, den sie nicht liebte – nein, so verzweifelt war sie nicht.
»Im Augenblick kann ich nicht an eine Ehe denken, William, weil ich – weil ich mich um Emily kümmern muss. Dieses letzte Jahr war sehr schwierig. Für uns beide. Hoffentlich verstehst du mich – es ist zu früh.«
Nach einem langen Schweigen nickte er. »Gewiss. Darf ich dich morgen Nachmittag wieder besuchen?«
»Da unterrichte ich die Dorfkinder.« Der Sonntag war ihr einziger freier Tag.
Irritiert zog er die Brauen zusammen. Er hielt Olivias Sonntagsschule für überflüssig. Seiner Ansicht nach brauchten die Kinder von Stonebridge weder Lesen noch Schreiben zu lernen. Darüber hatten sie mehrmals diskutiert. Aber Olivia war nicht bereit, William zuliebe eine Tätigkeit aufzugeben, die ihr viel bedeutete.
»Vielleicht ein andermal«, schlug er ungehalten vor.
»Ja, vielleicht.«
Mit einer knappen Verbeugung verließ er das Haus, und Olivia atmete erleichtert auf, weil er sie nicht geküsst hatte. Er behauptete, seine Gefühle hätten sich nicht geändert. Doch sie wusste, dass die alten Zeiten unwiederbringlich verloren waren. Wenn sie ihn auch nicht verletzen wollte – sie hatte keine Wahl.
Als sie in den Salon zurückkehrte, wandte Emily ihren Kopf zu ihr. »Ist William schon gegangen?«
»Ja.« Entschlossen wechselte Olivia das Thema. »Was hältst du da im Schoß, Liebes?«
»Ach, nichts …« Emily biss sich auf die Lippen, und Olivia merkte ihr an, wie verlegen sie war. »Wirklich – nur eine Stickerei …«
»Darf ich sie sehen?«, bat Olivia neugierig und kniete neben ihr nieder.
»Nun ja, wenn du darauf bestehst …«, antwortete Emily unsicher.
Olivia nahm ihr das kleine, mit Spitzenborten besetzte Tuch aus den Händen. Erst jetzt entdeckte sie die Nadeln, die Emily in den Falten ihres Rocks verborgen hatte.
»Hast du das heute gemacht?« Fasziniert betrachtete sie die kunstvolle Stickerei. »O Emily, das ist wundervoll!«
»Ja – heute. Nicht so wichtig … Ich wollte nur ausprobieren, ob ich mich noch entsinne, wie’s geht …«
Fast ehrfürchtig schüttelte Olivia den Kopf.
»Ich zählte die Stiche«, erklärte Emily. »Und dann war ich ganz erstaunt, dass ich mich daran erinnerte. Und seltsam – meine Finger schienen von selbst zu wissen, was sie tun mussten.«
»Wie gut du handarbeiten kannst! Das hast du von Mama geerbt. Ich bringe nicht einmal einen geraden Saum zustande. Da siehst du, warum ich keine Schneiderin werden will. Du wirst die Handarbeit doch beenden? Auf dem dunklen Holz unseres Tischchens würde das Deckchen wunderschön aussehen.«
Emily errötete vor Freude. Nur aus einer Laune heraus hatte sie begonnen, das Tüchlein zu besticken – um sich von anderen Dingen abzulenken. Sie hörte Röcke rascheln und wusste, dass Olivia aufgestanden war. Jetzt näherten sich die Schritte ihrer Schwester der Küche und sie vernahm ein leises Klirren. Ihre Fingerspitzen glitten zu ihren Augen. Manchmal wollte sie beide herausreißen. Wozu waren sie noch nütze? An ihre Blindheit würde sie sich niemals gewöhnen. Sie hasste ihr Gebrechen. Genauso wie den diebischen Zigeuner, der Papa ermordet hatte. Sie erschauerte.
Letzte Nacht war sie wieder von einem Albtraum gepeinigt worden und hatte das Gesicht des schrecklichen Mörders gesehen. Mit beiden Händen schwang er den Knüppel hoch, um den Vater zu erschlagen. In den Wochen nach der Tragödie war sie viel zu oft von diesem Bild verfolgt worden.
Seufzend senkte Emily den Kopf. Sie wusste, dass Olivia ihr grollte, weil sie ihre Träume niemals in allen Einzelheiten schilderte. Es war schon schlimm genug, wenn sie sich selbst damit quälen und die grausige Szene immer wieder erleben musste. Das durfte sie Olivia nicht zumuten. Deshalb war es besser, zu schweigen.
Ihre Finger betasteten wieder das bestickte Tüchlein. Wie hilflos sie sich fühlte, wenn sie stundenlang in diesem Zimmer saß. Aber heute Nachmittag hatte sie sich wenigstens mit einer Handarbeit beschäftigt und die Zeit war schneller vergangen. Erstaunlich, wie gut sie sich an die einzelnen Stiche erinnerte … Plötzlich kam ihr eine Idee. Wenn sie mehrere Tücher bestickte und verkaufte … So gut hatte Olivia in all den Monaten für sie gesorgt … Vielleicht konnte Emily ihr einen Teil der schweren Bürde abnehmen. Dann würde sie sich nicht mehr so unnütz fühlen.
Diesen Plan wollte sie ihrer Schwester vorerst verheimlichen – und sie eines Tages damit überraschen. Bis dahin sollte Olivia glauben, Emily würde sich nur die Zeit vertreiben.
Lächelnd erhob sie sich, ging vorsichtig vom Sofa zu ihrem Schaukelstuhl hinüber und sank hinein. Während sie langsam auf und ab schwang, summte sie eine fröhliche Melodie vor sich hin.
So glücklich war sie schon lange nicht mehr gewesen.