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Warm und strahlend hell brach der Sonntag an. Im Ententeich am Rand des Marktplatzes spiegelten sich funkelnde Sonnenstrahlen. Gegenüber stand seit Jahrhunderten eine kleine normannische Kirche. Ein gemeißeltes Sachsenkreuz markierte den Eingang. An einer Seite der verwitterten Mauer kletterten verschlungene, dicht belaubte Ranken empor.

Kurz nach Olivias Ankunft erschien William auf dem Dorfplatz, und sie fragte sich, ob er sie daran hindern wollte, die Sonntagsschule abzuhalten. Offensichtlich – denn als sie erklärte, sie sei beschäftigt, schaute er seufzend auf seine Taschenuhr.

»Dann muss ich gehen. Mutter erwartet mich zum Tee.«

Zu ihrem Entsetzen neigte er sich vor und presste seinen Mund auf ihren.

Der Kuss dauerte nur wenige Sekunden. Trotzdem war sie empört. Wie konnte er es wagen – vor den Augen der Dorfbewohner? Er durfte sie keineswegs als seine Verlobte betrachten. Darauf hätte sie ihn unmissverständlich hingewiesen, wäre in diesem Augenblick nicht der kleine Emory an ihrer Seite erschienen.

Dass sie von einem gewissen Gentleman besonders interessiert beobachtet wurde, wusste sie nicht …

Eine halbe Stunde später saß sie im Gras, die Röcke um sich ausgebreitet. Etwa ein Dutzend Kinder hatte sich vor ihr versammelt, darunter auch Charlottes Sohn Colin – ein schüchterner kleiner Junge, der das kupferrote Haar seiner Mutter geerbt hatte. Als Olivia ihn fragte, ob er Lesen und Schreiben lernen wolle, nickte er eifrig. Aber während des ganzen Unterrichts brachte er kein Wort hervor.

Sie schrieb etwas mit Kreide auf die kleine Schiefertafel, die in ihrem Schoß lag, und hielt sie hoch. »Kann das jemand lesen?«

»Da steht ›Colin«‹, antwortete Jane, die Tochter eines Farmers. Mit ihren dreizehn Jahren war sie das älteste seiner Kinder. Jeden Sonntag besuchte sie den Unterricht mit ihren beiden Schwestern und drei Brüdern.

»Ausgezeichnet, Jane. Ja, das heißt ›Colin‹.« Lächelnd wandte sich Olivia zu dem kleinen Jungen, dessen Augen aufleuchteten. »Siehst du’s, Colin?«

Wieder nickte er.

»So heißt du – Colin. Bald wirst du deinen Namen selbst lesen und schreiben können, nicht wahr?«

Jetzt nickte er noch heftiger.

»Sehr gut. Und nun wollen wir …« Plötzlich unterbrach sie sich, denn alle Kinder starrten etwas an, das sich hinter ihr befand. Lucinda versteckte sich hinter ihrer Schwester Jane. Sogar Jonny, der mit seinem Sitznachbarn getuschelt hatte, verstummte.

Olivias Nackenhaar schien seltsam zu prickeln. Noch bevor sie sich umdrehte, wusste sie, wer hinter ihr stand.

Der Zigeuner.

In der Tat. Dominic St. Bride saß auf einem kraftvoll gebauten, rabenschwarzen Hengst. Im Sattel wirkte er größer denn je. Sie öffnete den Mund, um ihn zu begrüßen. Vor den Kindern wollte sie weder unhöflich noch verängstigt erscheinen.

Aber ehe sie ein Wort sagen konnte, rief Jonny Craven:

»Ich weiß, wer Sie sind! Der Zigeuner! Der Zigeuner-Earl!«

Wie gern wäre Olivia im Erdboden versunken … Jonny nahm nie ein Blatt vor den Mund – ein Wesenszug, den sie in diesem Augenblick verwünschte. Am liebsten hätte sie ihm den Mund zugehalten, um eine weitere taktlose Bemerkung zu verhindern.

Doch zu ihrer Verblüffung wirkte Dominic St. Bride eher belustigt als verärgert.

»Stimmt das?«, krähte ein anderes Kind. »Sind Sie wirklich der Zigeuner?«

»Ja, der bin ich.«

Unbehaglich schaute Olivia zu ihm auf. Warum ritt er nicht weiter? Zu allem Überfluss stieg er auch noch ab und hielt die Zügel lässig in einer behandschuhten Hand.

»Wie ein Zigeuner ist er nicht angezogen«, stellte Lucinda fest, die hinter ihrer Schwester hervorspähte. Dann errötete sie, erschrocken über ihre eigene Kühnheit.

»Weil er nur ein halber Zigeuner ist«, verkündete Jane. »Der alte Earl war sein Vater. Und der bekam keine anderen Söhne, nachdem die Mutter des jungen Earls ihn verflucht hatte. Deshalb holte ihn James St. Bride aus dem Zigeunerlager, denn er sollte ein Gentleman werden – sein Erbe.«

Olivia hielt den Atem an. Dieses Gerücht hatte sie oft gehört. Nun fragte sie sich, ob Dominic St. Bride das alles abstreiten würde.

»Da hast du ganz Recht. Mein – Vater …« Er zögerte kurz. Offenbar fiel es ihm schwer, das Wort auszusprechen. »Mein Vater nahm mich zu sich. Jetzt kleide ich mich wie ein Gentleman. In London würde man den Earl of Ravenwood in bunter Zigeunertracht wohl kaum zu schätzen wissen.«

»Sind Sie denn ein Zigeuner oder ein Earl?«

»Beides!«, krähte eines der Kinder.

»Wie alt waren Sie, als Sie zu Ihrem Vater zogen?« Neugierig sprang Thomas auf und Dominic wandte sich zu ihm.

»Zwölf.«

»So alt bin ich jetzt auch.«

»Bist du nicht, Thomas Shelton!«, protestierte Jane. »Erst nach der Ernte wirst du zwölf.«

Thomas streckte ihr die Zunge heraus und Olivia warf den beiden einen warnenden Blick zu.

»Warum ziehen die Zigeuner von einem Ort zum anderen?«, fragte der Junge, um vom unangenehmen Thema seines wahren Alters abzulenken.

»Weil sie sich nicht binden wollen«, entgegnete Dominic. »Sie sind frei, eins mit der Welt und der Natur. Und sie gehen dorthin, wo es ihnen gefällt. Da gibt es ein Sprichwort: Nur Gott weiß, was der morgige Tag bringen wird. Deshalb sorgen sie sich nicht um die Zukunft und tun, was ihnen beliebt.«

»Mein Papa sagt, sie sind ständig unterwegs, weil sie niemand in der Nähe haben will.« Den Kopf schief gelegt, musterte Thomas den Earl aufmerksam.

Für einige Sekunden schien sich Dominics Miene zu verdüstern. Doch der Schatten verschwand sofort wieder, und Olivia glaubte, sich seinen Unmut nur eingebildet zu haben. »Ja, so denken viele Leute. Aber sie irren sich. Die Zigeuner wandern umher, weil es seit Jahrhunderten zu ihrer Lebensweise gehört.«

»Und weil sie keine Häuser haben.« Inzwischen war Lucinda hinter ihrer Schwester hervorgekrochen und hatte sich ins Gras gesetzt. »Sie leben in Zelten und Wagen.«

»Die nennt man Wohnwagen«, erklärte er. »Bei den Zigeunern heißen sie vardos. Und für alle, die zu arm sind, um einen vardo zu besitzen, bildet der Himmel ein Dach über dem Kopf.«

»Aber was tun sie, wenn es regnet?«, fragte ein Kind.

Seine Mundwinkel zuckten. »Dann werden wir nass«, erwiderte er prompt und die Kinder brachen in Gelächter aus.

Als er sich auf ein Knie niederließ, las Olivia unverhohlene Belustigung in seinen leuchtend blauen Augen.

»Wenn diese Leute sprechen, klingt es so komisch«, meinte ein Junge.

»Weil sie in der Zigeunersprache miteinander reden. Die nennt man Romani

»Mein Pa sagt, sie sind Heiden.«

Entschieden schüttelte er den Kopf. »Sie glauben an den denselben Gott wie ihr alle, obwohl sie ein anderes Leben führen.«

Verlegen lauschte Olivia den neugierigen Fragen und unverblümten Bemerkungen der Kinder. Sie hatte erwartet, Dominic St. Bride würde sich schroff und abweisend verhalten. Stattdessen unterhielt er sich freundlich und geduldig mit ihren Schülern.

»Mein Papa hat mal in einer Stadt gelebt, da standen Schilder mit der Aufschrift: ›Kein Zutritt für Zigeuner‹. Trotzdem kamen sie immer wieder.«

»Weil sie nicht lesen können.«

Endlich brach Colin sein Schweigen. »Ich kann auch nicht lesen«, gestand er leise.

»Bald wirst du’s mit Miss Sherwoods Hilfe können«, versprach Dominic und strich über die roten Locken des kleinen Jungen – eine Geste, die Olivia erstaunlich und liebenswert fand. Hastig entsann sie sich, dass er ein Zigeuner war.

Und ein Zigeuner hatte ihren Vater ermordet.

In diesem Augenblick trafen sich ihre Blicke. Seltsamerweise gewann sie den Eindruck, er würde ihre Gedanken erraten. Nein, unmöglich … »Nun, Kinder …«, begann sie und senkte die Wimpern. »Für heute machen wir Schluss. Vergesst eure Hausaufgaben nicht! Denkt daran – ihr müsst jeden Tag Lesen und Schreiben üben.« Mit diesem Auftrag entließ sie ihre Schüler, die nach allen Seiten davonrannten. Sie stand auf und strich ihre Röcke glatt.

Nur Colin war zurückgeblieben. Schüchtern flüsterte er dem Earl etwas zu. Ohne Zögern hob Dominic ihn hoch und setzte ihn in den Sattel seines Rappen. Dann nahm er das Pferd am Zügel und führte es langsam um den Dorfplatz herum.

Der kleine Junge strahlte über das ganze Gesicht. Als die Runde beendet war, hob Dominic ihn vom Pferderücken und stellte ihn behutsam auf die Beine. »So, mein Junge, jetzt lauf nach Hause.«

Dankbar nickte Colin und stürmte zum Cottage seiner Mutter. Olivia schaute ihm lächelnd nach. Den ganzen Tag würde er ein Loblied auf den Zigeuner singen. Daran zweifelte sie nicht. Amüsiert malte sie sich aus, wie Charlotte in ungläubigem Staunen Mund und Nase aufsperren würde.

Sobald sie allein waren, wandte der Earl sich zu ihr. Jetzt entstand ein beklemmendes Schweigen. Zumindest nach ihrer Ansicht war es unangenehm. Dominic St. Bride wirkte völlig unbefangen. Darüber ärgerte sie sich ein bisschen. »Es – es war sehr lieb von Ihnen, Colin reiten zu lassen«, stammelte sie.

»Lieb?« Verwundert zog er die Brauen hoch. »So hat man mich noch nie bezeichnet, Miss Sherwood.«

Darauf ging sie nicht ein. »Er ist Charlottes Sohn.«

»Charlotte?«

»Sie arbeitet auf Ravenwood und sie hat das gleiche rote Haar wie Colin. Sicher werden Sie Charlotte sofort erkennen, wenn Sie ihr begegnen, Sir.«

»Gewiss.«

Olivia holte tief Atem. »Wie gut Sie mit Colin umgehen können, Sir … Dafür muss ich Ihnen danken. Während des ganzen Unterrichts brachte ich kein Wort aus ihm heraus.«

»Ah … Allem Anschein nach sind Sie überrascht, Miss Sherwood.« Es war keine Frage, sondern die Feststellung einer Tatsache.

»Offen gestanden – ja«, gab sie errötend zu.

»Und warum, Miss Sherwood?« Seine Augen verengten sich. Hatte sie ihn erzürnt? »Dachten Sie, die Kinder würden vor dem Zigeuner-Earl zurückschrecken?«

Was sollte sie antworten? Genau das hatte sie befürchtet. Bei seiner Ankunft hatte sie beobachtet, wie viele Dorfbewohner stehen geblieben waren, um ihn anzustarren. Dann waren sie blitzschnell in ihren Häusern verschwunden. O Gott, wie konnte sie sich jetzt aus der Affäre ziehen?

Während sich ihre Gedanken überschlugen, kam die Rettung gerade noch rechtzeitig – auf unerwartete Weise. Der hässliche Hund Lucifer überquerte den Platz, eilte direkt zu ihr und schob seinen großen Kopf unter ihre Hand.

Zunächst wollte sie erschrocken aufschreien. Doch dann sah sie verwundert, wie er mit dem Schwanz wedelte. Eine feuchte Zunge glitt über ihren Handrücken. Verwirrt blinzelte sie und berührte vorsichtig seine Ohren. Da schmiegte er sich ermutigt an ihre Beine. Beinahe verlor sie das Gleichgewicht. Zwei starke Hände hielten ihre Taille fest.

»Sitz, Lucifer!«, befahl Dominic.

Sofort gehorchte der Hund. Mit seelenvollen braunen Augen schaute er zu seinem Herrn auf.

Bis Olivia sprechen konnte, dauerte es eine Weile. Durch ihre Kleidung spürte sie die Wärme seiner Hände. Mühsam rang sie nach Luft. »Heiliger Himmel, sicher wiegt er mindestens fünfzig Pfund.«

»Eher sechzig«, entgegnete Dominic trocken. »Er scheint Sie zu mögen.«

»Ja …« Ihr Lachen klang etwas zittrig. »Sieht so aus, nicht wahr?«

Als Lucifer sehnsüchtig zu ihr aufblickte, streckte sie ihm eine Hand entgegen. Da winselte er und wandte sich zu seinem Herrn. Offenbar wollte er um Erlaubnis bitten. Dominic nickte.

Sofort sprang der Hund auf und schob seinen Kopf wieder unter Olivias Finger.

Vorsichtig streichelte sie ihn. »Bei unserer ersten Begegnung hatte ich befürchtet, er würde mir die Hand abbeißen«, gab sie widerstrebend zu. »Für ein so großes Biest ist er wirklich zahm.« Jetzt tätschelte sie seinen Kopf etwas zuversichtlicher.

»Nehmen Sie sich in Acht, Miss Sherwood, er mag’s nicht, wenn man ihn ein Biest nennt.«

Erstaunt hob sie die Brauen. »Das versteht er doch sicher nicht …«

Erst jetzt sah sie das Funkeln in seinen Augen. Also wollte er sie necken.

Dominic zeigte auf seinen Hengst. »Kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause.«

»Was?«, fragte sie verständnislos. »Erwarten Sie, dass ich mit Ihnen reite?«

»Natürlich«, bestätigte er, als wäre das ganz selbstverständlich.

Allein schon bei diesem Gedanken wurde ihr Mund trocken und ein Schauer rann über ihren Rücken. Mamas tödlicher Sturz hatte Olivias Angst vor Pferden noch geschürt. Entschieden schüttelte sie den Kopf. »Lieber nicht, Mylord.«

»Warum nicht? Niemand beobachtet uns.«

Damit hatte er Recht. Der Marktplatz war verlassen, bis auf ein paar kleine Enten, die hinter ihrer Mutter herwatschelten. Unbehaglich musterte sie den großen, muskulösen Rappen. »Das ist es nicht«, erwiderte sie leise.

»Was dann?«

Schweigend zuckte sie die Achseln. Wie konnte sie die Wahrheit gestehen? Sicher würde er ihre Furcht kindisch finden. Und Mamas Unfall wollte sie nicht erwähnen – das wäre zu persönlich.

»Sind Sie immer so eigensinnig, Miss Sherwood?«, seufzte er. »Wenn Sie mit mir reiten, sind Sie doppelt so schnell daheim. Bis zu Ihrem Haus müssen Sie einen weiten Weg zurücklegen.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte sie verwirrt.

»An den letzten beiden Tagen haben Sie Ravenwood nach Einbruch der Dunkelheit verlassen und ich bin Ihnen gefolgt.«

Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben fehlten ihr die Worte. Er war ihr nachgegangen? Ihre Gedanken überschlugen sich. Einerseits war sie entrüstet, andererseits überlegte sie, ob ihn ein besonderer Grund bewogen hatte, sie im Auge zu behalten. »Warum?«, fragte sie mit belegter Stimme.

»Um mich zu vergewissern, dass Sie wohlbehalten zu Hause eintreffen.«

»Mylord, meine Sicherheit braucht Sie nicht zu interessieren.«

»Verzeihen Sie, da irren Sie sich. Immerhin gehören Sie zu meinen Angestellten.«

Nur deshalb war er ihr gefolgt. Wie dumm von ihr, etwas anderes zu vermuten …

»Nun, Miss Sherwood? Darf ich Ihnen in den Sattel helfen?«

»Bitte, Mylord …« Sie räusperte sich und fügte in energischem Ton hinzu: »Das ist wirklich überflüssig …«

»Nicht so laut, Miss Sherwood!«, mahnte er. »Oder möchten Sie unbedingt Aufmerksamkeit erregen?«

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten suchte sie nach Worten. Doch sie musste ihm zustimmen. Auf der anderen Seite des Platzes schlenderte Mr. Hobson zum Friedhof. »Also gut … Dann kann ich Ihnen das Taschentuch zurückgeben, das Sie mir geliehen haben. Aber ich gehe – ich reite nicht.«

Hoch erhobenen Hauptes wandte sie sich in die Richtung ihres Cottages. Dominic ging neben ihr, führte sein Pferd am Zügel, und Lucifer blieb ihnen auf den Fersen.

Sobald das Dorf hinter ihnen lag, wünschte Olivia verzweifelt, die Nähe des Earls würde nicht so schrecklich an ihren Nerven zerren. Jedes Mal, wenn sein Ellbogen ihren Ärmel streifte, beschleunigte sich ihr Puls. Wieso benahm sie sich wie ein albernes Schulmädchen? Um eine halbwegs normale Atmosphäre zu erzeugen, brach sie ihr Schweigen. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Mylord?«

»Natürlich.«

Im hellen Sonnenschein wirkte das Blau seiner Augen noch intensiver. »Warum haben Sie neulich erklärt, Sie würden es seltsam finden, dass eine Frau wie ich in Ihrem Haushalt arbeitet?«

Seine Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln. »Wollen Sie die Wahrheit hören, Miss Sherwood?«

In seiner Stimme schwang ein sonderbarer Unterton mit, den sie nicht deuten konnte. »Allerdings, ich weiß die Wahrheit stets zu schätzen.«

»Auf diese sind Sie vielleicht nicht vorbereitet.«

»Trotzdem werde ich sie akzeptieren, Mylord.«

»Nennen Sie mich nicht so!«, befahl er fast ärgerlich.

»Wie bitte?« Verblüfft runzelte sie die Stirn.

»Nennen Sie mich nicht ›Mylord‹.«

Olivia verstand seinen Unmut nicht. »Und wie soll ich Sie anreden, Sir?«

»Wie wär’s mit – Dominic?«

»Mylord …« Gerade noch rechtzeitig unterbrach sie sich. »Sir, das darf ich nicht. Wie Sie vorhin betont haben, bin ich Ihre Angestellte.«

Inzwischen hatten sie die Wiese vor Olivias Cottage erreicht. Neben dem Weg, der zur Haustür führte, blieb der Earl stehen. »Also gut, Miss Sherwood, ich werde Ihre Frage beantworten. Ehrlich gesagt, es überrascht mich, dass sich eine so schöne Frau in dieser nördlichen Wildnis versteckt – und dass Sie unverheiratet sind. Würden Sie in London leben, hätten Sie längst das Interesse eines reichen Gentlemans erregt und wären seine Geliebte geworden.«

Nun musste sie ihm Recht geben – auf diese Antwort war sie nicht vorbereitet gewesen. Hielt er sie wirklich für schön? »Ich – ich war noch nie in London«, war alles, was sie hervorbrachte.

»Sicher habe ich Sie mit der Bemerkung, Sie könnten die Geliebte eines reichen Gentlemans sein, ziemlich schockiert, Miss Sherwood. Nun, solche Dinge gibt es.«

Auch damit hatte er Recht. Sie war schockiert. Doch das Entsetzen ließ bereits nach. »Oh, darüber wissen Sie zweifellos sehr viel, Sir.« Vergeblich suchte sie den scharfen Klang ihrer Stimme zu verhindern.

»Offensichtlich habe ich Sie beleidigt, Miss Sherwood. Sind Sie tatsächlich so unschuldig, wie Sie aussehen?« Herausfordernd hob er die Brauen. »Fast möchte ich wetten, Sie wurden noch nie geküsst.«

Warum machte er sich über sie lustig, nachdem er sie eben noch respektvoll und höflich behandelt hatte? »Sir, Sie nehmen sich etwas zu viel heraus«, fauchte sie. »Und obwohl es Sie nichts angeht – ich wurde schon geküsst.«

»Tatsächlich? Ich meine nicht nur einen flüchtigen Schmatz auf die Lippen, sondern einen richtigen Kuss, der die Erde unter Ihren Füßen erbeben lässt …«

Unwillkürlich erinnerte sie sich an Williams anmaßenden Kuss an diesem Nachmittag, an seine anderen Küsse. Kein Einziger hatte irgendwelche Gefühle erweckt. »Jedenfalls wurde ich bereits geküsst«, versicherte sie erneut, ohne besonders überzeugend zu wirken.

»Bemühen Sie sich nicht um nähere Erklärungen, Miss Sherwood. Ihre ausdrucksvollen Augen erzählen mir alles.« Jetzt lachte er auch noch, dieser Schurke …

»Olivia? Bist das du?« Sie schaute über die Schulter und sah Emily in der Tür des Cottages stehen, eine Hand auf der Klinke.

»Ja, da bin ich, Emily!«, rief sie. »Ich komme gleich zu dir.« Wieder zu Dominic St. Bride gewandt, fügte sie hastig hinzu: »Das ist meine Schwester. Kein Wunder, dass sie sich fragt, wo ich so lange bleibe …« Unbehaglich unterbrach sie sich. »Ich würde Sie gern zum Tee einladen, aber …« Ihre Stimme erstarb. Was sollte sie sagen? Dass sie ihn nicht ins Haus bitten durfte, weil ihre Schwester alle Zigeuner hasste? So sieht meine Wahrheitsliebe aus, dachte sie zerknirscht. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich wie eine verachtenswerte Heuchlerin.

»Oh, Sie müssen Sich nicht entschuldigen, Miss Sherwood, ich verstehe Sie sehr gut.« Das fröhliche Funkeln in seinen Augen war abrupt erloschen. Hatte sie ihn etwa gekränkt? Nein, gewiss nicht …

Schweigend beobachtete sie, wie er in den Sattel stieg und das Pferd zur Straße lenkte. In eine Staubwolke gehüllt, galoppierte er davon.

Er hatte behauptet, sie sei schön. War das ernst gemeint?

Erst viel später erinnerte sie sich an sein Taschentuch und nahm es aus der Schublade, in der sie es verwahrt hatte. Mit einer Fingerspitze strich sie über die Initiale in einer Ecke – D.ST.B. Am nächsten Morgen müsste sie das Tuch nach Ravenwood mitnehmen …

Stattdessen legte sie es ins Schubfach zurück.

Wogen des Glücks

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