Читать книгу Westwind - Samantha Harvey - Страница 4
Rohrkolben
ОглавлениеBin ich auch Staub und Asche, so schlafe ich doch den Schlaf der Engel. Nichts weckt mich nachts auf, nicht, ehe ich bereit bin. Aber in jener Nacht war mein Schlaf unruhig und morgens wurde er von angstvollen Rufen zerschnitten. Eine zischelnde, drängende Stimme durch das Sprechgitter: »Pater, sind Sie da drin?«
»Carter?« Selbst halb im Schlaf erkannte ich seine Stimme: »Um was geht’s?«
»Ein Mann ist im Fluss ertrunken. Drüben bei West Fields. Ich – ich war da wegen eines Baums, der in den Fluss gestürzt ist. Da lag ein Mann im Wasser, der hing wie ein Stofffetzen unter dem Stamm fest, Pater.«
»Ist er tot?«
»So tot, wie man nur sein kann.«
Ich hatte auf dem niedrigen Schemel im Beichtstuhl geschlafen, die Wange gegen das Eichenholz gelehnt. Mein Schlaf war unruhig gewesen, überhaupt nicht den Engeln nah. Jetzt stand ich auf und glättete, so gut es ging, meine Soutane. Draußen war es dunkel; es hätte Nacht sein können oder früher Morgen. Meine Hände und Füße waren steif vor Kälte. Ich schob die Trennwand gerade weit genug zur Seite, um den Beichtstuhl verlassen zu können – der im Grunde kein Beichtstuhl ist, sondern ein Provisorium aus Balken und Vorhängen –, und sah im Kerzenschein das gerötete, besorgte Gesicht von Herry Carter.
»Ich habe Sie erst im Pfarrhaus gesucht, aber da waren Sie nicht«, stotterte er. »Da habe ich mich gefragt, ob Sie vielleicht hier sind.«
Ich hätte ihm gern gesagt, dass ich normalerweise nicht sitzend im Beichtstuhl schlief, dass ich selbst nicht wusste, was mich in dieser Nacht dazu gebracht hatte. Aber Carter sah nicht aus, als ob ihn das interessieren würde. Er wollte bloß zurück zum Fluss.
»Vielleicht kann er noch die Letzte Ölung bekommen«, sagte er mit dünnen, missmutig verzogenen Lippen.
»Du sagtest, er sei tot.«
»Aber wenn wir ihm ein bisschen Messwein einflößen könnten …«
Eine tote Kehle ist nicht empfänglich für Messwein, dachte ich, aber ich schwieg.
»Wenn uns wenigstens das gelingt«, sagte Carter, »kann er vielleicht einen halbwegs anständigen Tod sterben. Sonst …«
Sonst läge ein garstiges Schicksal vor ihm, und die Zeit, in der er wie ein Stofffetzen unter einem umgestürzten Baum festgehangen hatte, würde ihm wie die Erinnerung an eine rosige Vergangenheit erscheinen. Herry Carter tat recht daran, dem Toten Besseres zu wünschen. Also verließen wir die Kirche und liefen los.
Als Erstes bemerkte ich, wie heftig und bitterkalt der Ostwind war. Die Dämmerung hatte gerade erst eingesetzt und am Himmel zeigte sich nur eine schwache Ahnung von Tageslicht. Wir liefen den Pfad nach West Fields entlang, das beinahe eine Meile entfernt liegt, größtenteils schräg gegenüber auf der anderen Seite des Flusses. Der Fluss schlängelt sich windungsreich dahin und braucht fast zwei Meilen, um dieselbe Strecke zurückzulegen. Ich eilte atemlos weiter, mein Gewand flatterte wie ein Segel im Wind, der Messwein schwappte in meiner rechten Hand in der Flasche, das Weihöl in meiner linken und meine Oberschenkel brannten. Wie ein Reh, hatte mein Vater immer gesagt und dabei gezwinkert, weil er gern Rehe schoss. Carter war jung, klein gewachsen, flink auf den Beinen. Mit seinen blonden windzerzausten Haaren und den schlammverkrusteten Knien verkörperte er die schlichte, flaumige Unschuld der Jugend. Mit rhythmischen Armbewegungen lief er voran.
Das Weideland in den Flussbiegungen war überflutet, aber nicht mehr so sehr wie zuvor; es war, als hätte der Wind das Wasser zurück in den Fluss geschoben. Über uns wölbte sich ein hoher, bewegter Himmel, der nach Sonnenaufgang blau sein würde, und alles außer dem Wind war nass – der Pfad, das Gras, die Erde, unsere Füße und Knöchel, die Baumstämme, die Nester mitsamt den Küken darin. Meine Zehen waren wie Frösche in einem Sumpf. Als wir an den Rand des saftigen Weidelands bei West Fields kamen, wurde die Welt noch nasser – durchweichte Schafe mit zitternden Lämmern; Kühe, die auf der Suche nach trockenerem Boden durch das Gras planschten, um fressen zu können, ohne gleichzeitig saufen zu müssen. Townshends Pferde hatten einander die Schnauzen auf die durchnässten Flanken gelegt und bildeten ein Viereck im Sumpf. Nur der Wind selbst war trocken, trocken und kalt, und blies die langen Regentage fort.
»Dort«, sagte Carter und zeigte auf eine Stelle des Flusses, die siebzig oder achtzig Schritte vor uns lag. »Ich habe es mit meiner Axt markiert.«
Keine gute Markierung. Mit der in die Uferböschung gerammten Klinge ragte die Axt keine zehn Zoll aus dem Boden. Man hätte eine Markierung gebraucht, um sie zu finden. Aber Herry Carter hatte die scharfen Augen der Jugend, und seine Gedanken waren auf nichts anderes als diese Axt und die Stelle des Flusses gerichtet, der einen alten, toten Stofffetzen von einem Mann angespült hatte. Mit dem Wind im Rücken beschleunigte er seine Schritte. Jetzt war er schon bei der Axt, schritt unruhig am Ufer auf und ab und stand knöcheltief im Wasser, als ich ihn endlich eingeholt hatte.
»Sie ist fort«, sagte er. Er klang verzweifelt, seine Stimme war kratzig. »Die Leiche. Dort war sie.« Dort bezeichnete den umgestürzten Baum in der Biegung eines Seitenarms. Der Fluss toste wild durch diesen Seitenarm; nichts hätte dort an Ort und Stelle bleiben können, gar nichts. Nicht die Leiche eines Menschen, nicht einmal die Leiche einer Kuh. Wie hatte Carter das glauben können? Andererseits, was hätte er tun sollen? Allein hatte er den Mann nicht bergen können.
»Wo ist er hin?«, fragte Carter wieder und wieder. Er hastete hin und her wie ein Hirtenhund. Dann blieb er stehen, sah geradewegs auf das Wasser hinaus und sagte mit flacher Stimme: »Wo ist die Leiche hin? Sie war genau dort.«
Mein weißes Messhemd war durchnässt und schlammverschmiert bis zu den Knien. Ich verspürte eine gewisse Niedergeschlagenheit, denn nun musste ich Carter Fragen stellen, und das wollte ich nicht. Ich wollte selbst herausfinden, was geschehen war. Die Worte blieben mir im Hals stecken, und wie sehr ich mich auch räusperte, sie wollten nicht herauskommen. Ich hätte überallhin geschaut, nur um mir den Anblick dieses kläglichen, ziellosen Herumlaufens zu ersparen. Überallhin: aufwärts, abwärts. Aufwärts zu den Sternen, die jetzt bei Tagesanbruch verblassten.
Als ich mich wieder nach Carter umsah, stand er links von mir, ungefähr dreißig Ellen flussabwärts, knietief und völlig entgeistert im Wasser, nah bei einem dichten Röhricht. Die Rohrkolben bogen sich im Wind. Erst als ich näher kam, sah ich, dass er etwas Hellgrünes in der Hand hatte, ein Stück Stoff, das er kraftlos in die Höhe hielt. Ein Hemd.
»Ich habe es dort gefunden«, sagte er und deutete kurz auf das Röhricht. »Es hing einfach da.«
Ich musste also gar keine Fragen stellen, die ich nicht stellen wollte, denn das Hemd zeigte unmissverständlich, wer der Ertrunkene war. Wir wussten beide, wem es gehörte; selbst in diesem schwachen Licht war klar, dass ein solches Hemd nur einem einzigen Mann im Dorf gehören konnte. Alle anderen trugen beigefarbene, braune oder graue Hemden, aus einer Wolle gemacht, die ihre schäfische Herkunft nie ganz verleugnen konnte. Kein anderer besaß eines aus gutem Leinen, das einst so grün wie der im Wind wogende Flachs gewesen war, aus dem es gewebt wurde. Jetzt war es verblasst, aber es war immer noch ein schönes Holländerhemd. Schon ehe Carter das Hemd gefunden hatte, musste er beim Anblick der Leiche sofort gewusst haben, dass es sich um Newman handelte. Wie viele andere aufgeschwemmte Leichen sollten in diesem Fluss treiben? Wie viele andere Männer waren drei Tage zuvor verschwunden?
Aber es liegt in unserer Natur, das zu verleugnen, was uns ängstigt, und daran ist nichts Boshaftes und Stumpfsinniges. Existiert nicht immer ein heiterer Teil in uns, der hofft, dass das, was wir wissen, nicht wahr ist? Carter versuchte das Hemd zu einem ordentlichen, pietätvollen Geviert zu falten – wenn sein Tod auch unordentlich war, hatte Newman doch ein ordentliches Leben geführt. Das Hemd war zu nass, um die Form zu behalten, und das Bündel wurde unter Carters Händen lose und unförmig. Murmelnd befahl er seinen linkischen Fingern, das Hemd erneut zu falten, und wieder löste es sich. Dann stopfte er es in den Bund seiner Hose, lief an der Böschung entlang flussabwärts, stieß dabei heulend Newmans Namen aus und platschte durch das aufspritzende Wasser, das sich im ersten Sonnenlicht rosa färbte.
Ach, dass ich den Messwein und das Öl in den Fluss schütten musste! Schlimm genug, dass der Mann keine letzte Beichte hatte ablegen können, aber welche Hoffnung bestand für ihn, wenn ich ihm nicht den kleinsten Tropfen Wein einflößen konnte? Carter hatte recht, es hätte vielleicht ausgereicht, seinen Mund, seine Lippen damit zu benetzen. Mit dem Öl ein Kreuz auf seine Stirn zu malen. Und jetzt lief Carter, wie von Dämonen besessen, am Ufer auf und ab, der Wind wehte unablässig, unsere Beinkleider waren durchnässt und der Tag hatte eine verzweifelte Stimmung angenommen.
Kurz darauf kam Carter wutschnaubend zurück und ging in die Hocke.
»Er ist fort«, sagte er wieder, »der Leichnam ist fort.«
»Er wird jetzt schon auf halbem Weg zum Meer sein«, entgegnete ich – auch wenn wir beide wussten, dass das unmöglich war, lief es aufs Gleiche hinaus. Nach fünf Biegungen und zwei weit geschwungenen Schleifen hinter dem Dorf verbreitert und beschleunigt sich der dann in gerader Linie verlaufende Fluss. Nach mehreren Regentagen floss er so schnell wie ein bergab rumpelnder Karren und scherte sich wenig um das, was ihm in den Weg kam. Carter nickte und sackte in sich zusammen.
Im Grunde noch ein Junge, und ein guter obendrein. Dieser Morgen hatte ihn stark mitgenommen. Newman war ihm ein Freund und ein Ersatzvater gewesen, und in den drei Tagen, seit er ertrunken war, hatte Carter sich wider alle Vernunft mit dem Gedanken getröstet, dass sein väterlicher Freund vielleicht noch lebte. Immerhin hatte man noch keine Leiche gefunden. Wenn eine Leiche verschwindet, dann verschwindet auch der Tod, schien Carter gedacht zu haben, und mich hatte seine Zuversicht berührt, obwohl sie aus schiefem Gebälk gezimmert war.
Der Fluss war durchtrieben und launisch – er hatte sich auf einen Toten gestürzt, sodass wir uns nicht in Würde von ihm verabschieden konnten. Schon zum zweiten Mal war ich an sein Ufer gerannt, um Newmans Leiche zu suchen, und schon zum zweiten Mal war es mir nicht gelungen. Ich finde, wenn die Natur zweimal das gleiche Unterfangen vereitelt, sollte man sich fragen, ob noch etwas anderes als bloßes Missgeschick dahintersteckt – aber das sagte ich meinem Freund nicht. »Du musst jetzt stark sein, Herry«, sagte ich ihm stattdessen, und die Zuneigung lenkte meine Hand zu seinem Kopf. So standen wir eine Weile da, stemmten uns mit dem Rücken gegen den Wind, und trotz des Schlamms und der Nässe fuhr der Wind unter mein Messhemd und bauschte es vor mir auf. Die Rohrkolben bogen sich summend im Wind. Trotz meiner Verzweiflung gefiel mir das.
Wir gingen über die Felder zurück. Jetzt bauschte sich meine Robe wie ein Brautkleid hinter mir, während die Soutane darunter gegen mein Schienbein klatschte – ich bitte um Verzeihung, dass ich so viel über meine Unterschenkel spreche, aber das würde wohl jeder, dessen Gewand schwer wie zwei volle Wassereimer ist und sich wie etwas Lebendiges verhält. Ich schämte mich dafür, dass ich durch ein Fieber im Vormonat schwach und kurzatmig und zittrig auf den Beinen war. Ich wusste, wie mein Haar in diesem Wind aussah – ein Wust aus dunklen wilden Locken rund um meine Tonsur. Ich war es, der jetzt wie ein Besessener aussah, aber das war Carter natürlich egal. Genau wie ich stemmte er sich mit voller Wucht gegen den Wind, der sich uns entgegenwarf.
Sein Gesicht wirkte versteinert und er verweigerte jede Unterhaltung. Er sah mich nicht einmal an. Es war heller geworden, und als wir langsamer gingen, sah ich den Schnitt an seinem rechten Ohr, den er sich einige Tage zuvor zugezogen hatte: Er war bei der Reparatur des Kirchenvordachs ausgerutscht und das Ohr hatte sich an einer Schieferschindel verfangen. Die Schnittwunde war tief und halbfingerlang, und ihre Röte und Tiefe gefielen mir so wenig wie der grünliche Ausfluss und die kastaniengroße Schwellung.
Wir kehrten dort auf den Pfad zurück, wo er sich nach links zur Brücke und nach rechts zum Dorf gabelte. Wir bogen rechts ab. Ein Paar Hände schob mich nach vorn, fort von der halb fertigen Brücke, wo Newman, wie wir glaubten, ertrunken war, und als ich in diese Richtung sah, ähnelten die Wolken dicken alten Grobianen, während sie vor uns nur vereinzelt am hohen Himmel standen und sich bereits lichteten.
Dann die Sonne: ein Gesang aus Bronze, der sich ungesehen hinter Oak Hill erhob, dem langen, bewaldeten Bergkamm, der bei uns »der faule Hund« genannt wird (manchmal auch nur »der Hund«, wenn wir faul sind). Der Kamm verläuft entlang der nordöstlichen Grenze von Oakham, sodass die aufgehende Sonne vom Dorf aus niemals sichtbar ist. Aber sie taucht alle Bäume auf dem Kamm in ihr Licht. So war es auch jetzt: ein rötlicher, anfangs schwacher Schein, der dann weit ausgreift, kühl und rosig. Ich muss dann immer denken, dass gleich auf der anderen Seite das Meer liegt. Weiter weg vom Fluss blies der Wind mit weniger Ingrimm, und wir gingen schweigend nebeneinanderher. Carter griff von Zeit zu Zeit hinter sich, um sich zu vergewissern, dass das Hemd noch in seinem Hosenbund steckte. Ich hätte ihn gern getröstet, aber wie sollte ich das ohne Gebete und Bibelgleichnisse tun? Sie waren alles, was ich hatte. Es war offenkundig, dass Carter der Sinn nicht danach stand. Die Trauer hatte ihn zornig und ungeduldig gemacht.
»Dieser Schnitt an deinem Ohr«, sagte ich, »der sieht nicht so aus, als ob er heilen würde.«
»Er heilt«, sagte er.
»Ich finde, er ist schlimmer geworden.«
»Er ist besser als gestern.«
»Das finde ich nicht.« Er stürmte weiter voran, mit wenig Geduld und langen Schritten. Ich sagte: »Ich finde, der sieht gar nicht gut aus.«
»Dann sehen Sie woandershin.«
Und dort, an der Wegbiegung, bei den mit vormals leuchtenden Stofffetzen geschmückten Birken, kniete er nieder. Im hochgewachsenen Gras lag ein toter Hund. Carter drehte sich zu mir um, dann wieder zurück zu dem Hund. »War der auf dem Hinweg auch schon hier?«
»Gesehen habe ich ihn nicht«, sagte ich, »aber er war bestimmt da. Wir sind ja schnell gelaufen, da konnten wir ihn nicht bemerken.«
Es war die Zeit des Sonnenaufgangs, und ich musste Morgengebete sprechen und Beichten abnehmen und hatte keine Zeit, mich mit einem Hund aufzuhalten. Aber Carter legte eine Hand auf den Brustkorb des Hundes. »Kalt wie Lehm«, murmelte er. Trotzdem hatte das schwarze Fell des Tieres einen so gesunden Schimmer, als ob er jederzeit aufspringen und fortlaufen könnte, und genau das hätten wir auch erwartet, wenn ihm nicht die Zunge zum Hals herausgehangen und der Körper leblos dagelegen hätte. Wenn man einen toten Hund sieht – oder überhaupt einen Leichnam –, dann kann man meistens davon ausgehen, dass er verhungert ist oder erschlagen wurde oder von einem galoppierenden Pferd überrannt oder von Alter oder Mutlosigkeit niedergestreckt. Dieser Hund sah zwar dünn, aber nicht verhungert aus, auch nicht erschlagen, verletzt oder alt. Eigentlich sah er aus, als ob er recht guter Dinge wäre. Er lag einfach da, als wäre er vom Himmel gefallen.
»Hätten wir ihn nicht bemerkt?«, fragte Carter. Seine Hand lag flach auf der Flanke des Tieres.
»Es war noch dunkel.«
»Und wir sind gerannt.«
»Wir hatten es eilig.«
Einige Augenblicke standen wir einfach da, und meine Hand schloss sich fest um die Fläschchen mit Weihöl und Messwein. Eben waren wir noch wegen Newman erschüttert gewesen, und jetzt standen wir wie Sheriffs auf Streife neben einem toten Hund, als ob der etwas ganz Ungewöhnliches und Unheimliches wäre.
»Er könnte …«, setzte Carter an, »ich könnte …« Er legte seine Hand auf Newmans Hemd und zerrte daran herum. »Vielleicht hatte ich unrecht mit dem, was ich vorhin im Fluss sah.«
»Nein«, sagte ich. »Nein.«
»Vielleicht war es keine Leiche, die sich in dem Baum verfangen hatte, vielleicht war es nur ein Schatten – bestimmt werden die Leute sagen, dass es nur ein Schatten war.«
»Und das Hemd?«, fragte ich. »Ist das auch nur ein Schatten?«
»Aber Sie haben es doch selbst gesagt – es war noch dunkel. Wenn wir einen toten Hund übersehen haben, der wirklich da war, vielleicht habe ich dann einen Mann gesehen, der nicht da war?«
Ich wollte Carter nicht durcheinanderbringen, aber ich musste doch auf die Tatsachen hinweisen. »Herry, am Samstagmorgen wurde ein Mann gesehen, der den Fluss hinabtrieb«, sagte ich so freundlich und klar, wie ich konnte. »Robert Tunley bekam ihn kurz zu Gesicht und sagte, es hätte durchaus Newman sein können. Seitdem wurde Newman nicht mehr gesehen, und er ist der Einzige, der im Dorf vermisst wird. Es ist unwahrscheinlich, dass ein Fremder ertrunken ist. Wir haben weiß Gott nicht viele Besucher hier.«
Es gab keine Fremden, weil der Fluss uns von der Welt abschnitt. Aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um über unsere eingestürzte Brücke zu jammern, so sehr es mich auch dazu drängte.
Ich legte ihm meine Hand auf die Schulter. »Und jetzt wird flussabwärts eine Leiche angespült …«
»Nicht weit genug flussabwärts«, widersprach Carter. Er stieß mit dem Fuß den Bauch des Hundes an und schob meine Hand fort. »Sie haben doch gesehen, wie schnell das Wasser fließt – in drei Tagen wäre eine Leiche viel weiter fortgeschwemmt worden.«
»Und du hast gesehen, wie lang die Strecke ist, die sie zurücklegen muss, durch die eine Flussbiegung bei Odd Mill, die andere bei Burn Wood. Eine Leiche kann dort überall unterwegs stecken bleiben, sich in abgefallenen Ästen verfangen, an einer Böschung auflaufen …«
Carter wandte sich mir zu. »Die Leute werden mir nicht glauben, wenn ich sage, dass ich die Leiche von Tom Newman gesehen habe. Sie werden sich über mich lustig machen.«
»Du hast sein Hemd gefunden«, sagte ich. »Hier ist es. Was sollen die Leute dagegen sagen?«
Wir standen wortlos in der Kälte. Seine Schultern hingen so tief herab, dass ich ihn am liebsten aufgerichtet und in die Arme genommen hätte. Lass die Leute doch reden, wollte ich sagen. Du weißt, was du gesehen hast – andere zählen nicht. Ich hielt die Flaschen umklammert, der Wind fuhr in den raschelnden Birkenhain. Auf einmal überkam mich eine große Traurigkeit, und ich fragte mich, woher die Bäume die Zuversicht zum Weiterwachsen nahmen, wenn Wind, Regen und Schnee sie den ganzen Winter auf diese Weise schikanierten.
In wortlosem Einverständnis setzten Carter und ich uns in Bewegung, angelockt vielleicht durch den Geruch nach Bratfett, der uns schwach erreichte. Er drang nur einmal und auch nur einen Moment lang zu uns, sodass man ihn fast für Einbildung halten konnte, aber plötzlich dachte ich nur noch an Eier und an Brot, das in das warme Speckfett vom Vortag getunkt wird. So flüchtig der Duft auch war, ich entwickelte einen gewaltigen Appetit. Vielleicht war auch Carter hungrig, denn er beschleunigte seine Schritte und ging so schnell, dass ich in meinen schweren, nassen Messgewändern nicht mitkam. Als wir das Dorf erreichten, lag ich rund dreißig Schritte zurück.
Carter eilte zu seinem Haus, einen Steinwurf von der Kirche entfernt. Er wollte bestimmt seiner Frau das Hemd zeigen, damit sie es waschen und er es behalten konnte – als trauriges Andenken an eine große Liebe, die ihm genommen worden war, fortgetragen wie ein Zweig im Schnabel einer Krähe.
»Carter!« Ich wollte zumindest anbieten, das Hemd zu weihen, auch wenn es eine kühne Idee war, ein Stück altes Leinen zu weihen. »Herry! Herry Carter!« Aber Carter antwortete nicht. Er hielt sich das Hemd über den Kopf und wedelte damit herum, als ob er Zuschauer hätte.
Dann geh hin und leide, dachte ich – aber nicht auf herzlose Art. Menschen klammern sich an ihr Recht zu leiden, und manchmal ist es besser, wenn man sie eine Weile lässt. Ich würde Newman in der Messe erwähnen und dafür sorgen, dass der Baum aus dem Fluss entfernt würde. Natürlich nicht an diesem Tag; heute würden die Stunden im Flug vergehen. Ich brauchte eine halbe Stunde Schlaf. Versuche, nicht davon zu träumen, wie der Leichnam flussabwärts gerissen wird, versuche, nicht unglücklich über die Grausamkeit des Todes zu sein. Denke nur an das rosafarbene Licht in den Rohrkolben an der Stelle, wo das Hemd lag, und denke daran, wie gut es ist, dass das Hemd dort gefunden wurde, genau dort, in der sanften Heiligkeit der Rohrkolben. Das ist das beste aller denkbaren Zeichen, und selbst wenn dieser Mann eines grausamen und ungeklärten Todes sterben musste, ehe er so plötzlich verschwand, als hätte ihn ein Wal verschluckt, so blieb doch etwas von ihm in jenem Röhricht hängen – gefangen, gehalten, geborgen, gerettet –, wie ein Mann, der in die Arme seines Volkes zurücksinkt.
War das Licht auf den Binsen überhaupt rosafarben? Vielleicht nicht, aber in meinem Herzen eben doch, und so würde es immer bleiben. Dort, in meinen Gedanken, auf dem Weg nach Hause, war auch die kluge und sanfte Stimme meiner Schwester: Die Sprache des Menschen verstummt vor den Wundern des Herrn. Warum ich das hörte, weiß ich nicht, außer dass ich müde, traurig, zornig und getröstet zugleich war. Als ich die Kirchentür öffnete, weinte ich um Thomas Newman und war überrascht, wie lange es dauerte, ehe die Tränen versiegten.