Читать книгу Westwind - Samantha Harvey - Страница 5
Aberglaube
ОглавлениеEin Priester ist zugleich auch Richter und Sheriff, ob er will oder nicht.«
»Das ist richtig«, sagte ich, ohne überrascht zu sein, denn ich hatte mich daran gewöhnt, dass der Dekan vor mir in der Kirche war und dort müßig auf mich wartete. Diesmal lehnte er an einem Pfeiler neben dem Eingang zur Sakristei und ließ den Ersatzrosenkranz, der dort immer an einem Nagel neben der Tür hängt, durch seine Kinderhände gleiten.
»Wie ich höre, ist die Leiche von Newman wieder aufgetaucht. Oder – war aufgetaucht«, sagte er, »ehe sie wieder verschwand.«
»Das hat sich aber schnell herumgesprochen.«
Mein Abschied von Carter lag erst zehn Minuten zurück. Ich hatte die Kirche betreten und war in die Sakristei gegangen, um etwas Trockenes zum Anziehen zu finden. Ich hatte meine Tränen mit der Stola getrocknet, die dort an einem Haken hängt, bis die weiße Seide große graue Flecken hatte. Als ich herauskam, war der Dekan schon da; er hatte ein untrügliches Gespür für alles Scheußliche. Da stand ich also vor ihm. In den Armen hielt ich einen schweren Wäschestapel, das frische Messhemd lag gefaltet auf der frischen Soutane, und beide warteten nur darauf, dass ich sie nach Hause mitnahm und anzog. Am traurigen Zustand meiner Schuhe konnte ich nichts ändern.
»Ich sah Sie und Carter von irgendwoher zurückkehren«, sagte er, »und ich war, nun ja, neugierig. Also fragte ich Carter, wo Sie gewesen sind.«
»Offenbar sind Sie der bessere Richter und Sheriff.«
Er sah mich an. Klein und penibel wie eine Feldmaus, die aufgeregt hin und her flitzt, von Korn und Gras gestriegelt. Deren winziges Herz in einer kleinen, mutlosen Brust pocht. Ich hingegen war groß und unsicher, meine Augen tränenrot. Die Robe schlammverschmiert und obendrein auf das Schändlichste mit Gänseschmalz befleckt.
»Heute ist der letzte Tag«, sagte er und entnahm seiner Börse eine kleine Papierrolle, die er öffnete. Es war der Ablass, der seit Samstag an die Kirchentür geschlagen war. »Ihnen ist doch klar, dass ein Mann wie Newman nicht einfach ohne Erklärung sterben darf?«
Ich wollte sprechen, aber er ließ es nicht zu. »Und Sie werden sagen, dass es eine Erklärung gibt – der Fluss steht hoch, es hat stark geregnet, Menschen sind keine Fische. Sie fallen hinein, sie ertrinken.«
»Das ist richtig.«
»Aber Newman war nicht die Sorte Mensch, die einfach in einen Fluss fällt.«
Ich ging zum Altar, um die schweren Gewänder dort abzulegen. Ich war nass, und mir war kalt. Ich fragte erschöpft: »Gibt es eine Sorte Mensch, die in Flüsse fällt?«
»Heute ist der letzte Tag«, wiederholte er, und ich sah zu unserem Ostfenster hoch, das in weitem Bogen dünnes, silbriges Morgenlicht hereinließ. Er schwenkte die Papierrolle, als ob ich sie nie zuvor gesehen hätte, als ob sie nicht drei Tage an meine Kirchentür geschlagen gewesen wäre. »Dieser Ablass ist die beste Möglichkeit, den Mörder zu einem Geständnis zu bewegen …«
»Es gibt keinen Mörder.«
»Das glauben wir nur so lange, bis einer gesteht. Wie ich sagte, ist dieser Ablass die beste Möglichkeit, den Mörder zu einem Geständnis zu bewegen, und er verfällt mit dem heutigen Tag. Morgen ist es zu spät. Ein guter Ablass, Reve – mehr können weder Sie noch ich anbieten, mehr wird niemand in dieser traurigen Gemeinde jemals bekommen. Es gibt hier viele Menschen, die ihn brauchen, mit oder ohne Mord. Dies ist kein Dorf, das den Himmel bevölkern wird. Wussten Sie, dass das Purgatorium einen Warteraum hat? Er heißt Oakham.«
Als Junge hatte ich immer geglaubt, dass der Zorn in großen Menschen wohne: Mein Vater war ein hochgewachsener Mann. Es erschien mir immer noch seltsam, wenn Menschen wie der Dekan, blasse und nichtssagende Menschen mit schmalen Gesichtern, so viel Wut in sich trugen. Sie verbarg sich unter einer kühlen Haut, in blau geäderten Händen, die so leise zitterten, dass es kaum auffiel. Aber mir fiel es auf. Der Ablass bebte in seiner Hand wie ein Weidenkätzchen.
»Wenn Sie Oakham so hassen, könnten Sie doch einfach gehen«, sagte ich. »Vielen gefällt es sowieso nicht, dass Sie sich in Newmans Haus niedergelassen haben.«
Er runzelte die Stirn, wedelte mit dem Ablass herum und sagte mit einer Stimme, die tiefer sein sollte als seine normale Tonlage: »Schon vergessen? Ich muss in einem Todesfall ermitteln.«
»Ach ja.«
»Wenn ich jetzt fortgehe, am letzten Beichttag vor der Fastenzeit, am letzten Tag, wo ein großzügiger Ablass gewährt wird, nach all der harten Arbeit …« Er hielt inne, und ich fragte mich, welche harte Arbeit er seiner Meinung nach geleistet hatte. »Ich will nicht, dass jemand anders die Früchte erntet, die ich gesät habe.«
Du willst nicht gehen, ehe jemand an den Schandpfahl gefesselt wurde, dachte ich. Du willst nicht ausgerechnet an diesem Tag gehen, diesem Festtag, falls das Dorf in wilden Aufruhr ausbricht, animalisch, wie wir sind.
»Oh, ich verstehe Sie gut«, sagte ich. Ich beugte mich vor, um ein fingerlanges Stück Hartriegel aufzuheben, das von dem Wandleuchter an der Altarsäule herabgefallen sein musste, wo es zusammen mit Hexenhasel und Winterblüte langsam verdorrte – es waren die Hochzeitsblumen meiner Schwester, die da verwelkten. Dann wusste ich nicht, was ich mit dem Zweiglein tun sollte, also hielt ich es müßig in der Hand. Ich wollte ihn spüren lassen, dass ich es interessanter fände als ihn, aber ich glaube nicht, dass er das bemerkte.
Im westlichen Teil der Kirche, an der Nordwand gegenüber dem Eingang, ist bei uns ein Wandgemälde des heiligen Christophorus zu sehen, wie er das Jesuskind über den Fluss trägt – eine enorme Gestalt, fast ein Riese, der den Knaben, klein wie ein einwöchiges Lamm, in der Armbeuge hält. Die gekreuzten Füßchen des Kindes ruhen in der Hand des Heiligen. Das Bild nimmt die gesamte Wand ein, von den Dachsparren bis zum Türsturz. Viel Rosa, Rot und Gelb. Es heißt, wenn man es innerhalb eines Tages vor dem Tod sieht, ersetzt es die Letzte Ölung. Wenn der Tod überraschend oder in Abgeschiedenheit eintritt und die Letzte Ölung nicht möglich war, dann kann einen der Anblick des heiligen Christophorus immer noch vor der Hölle retten. Wenn Newman ihn an dem Freitag, ehe er ertrunken war, gesehen hatte, war seine Seele jetzt auf sicherer Überfahrt ins Jenseits. Hatte er ihn gesehen? Niemand außer Newman konnte das wissen. Ich hatte mein Gedächtnis wieder und wieder befragt, aber keine Antwort gefunden. Nichts. Ich nahm den Stapel Gewänder wieder auf, ging zu dem Gemälde und kniete nieder.
Der Dekan sah zu mir, wandte sich verdrossen ab, sah wieder zu mir, seufzte und hantierte mit dem Kelch, den er geistesabwesend vom Altar genommen hatte, drehte dessen Stiel zwischen seinen Fingern. Der Rosenkranz war immer noch um seine Knöchel geschlungen. Ich sollte unser Rosenkranz sagen, der von Oakham. Ein Geschenk von Robert Tunley. Der Dekan stellte den Kelch mit plötzlicher Ungeduld zurück, ging zur Altarsäule, kratzte mit dem Fingernagel am Stein, drehte sich auf dem Absatz herum, schielte über die gesamte Länge der Kirche hin zum Beichtstuhl. Ich hörte nicht mit dem Beten auf, aber ich wusste, was er tat, denn ich weiß, wie man sieht, ohne zu schauen, während er nur wusste, wie man schaut, ohne zu sehen. Ich wusste, dass er drauf und dran war, die Geduld zu verlieren, und gleich auf mich zutrippeln würde.
»Reve«, sagte er schließlich und klapperte mit kurzen, schnellen Schritten durch das Hauptschiff. Er wackelte mit den Fingern, um mich zum Aufstehen zu bewegen. »Es reicht, Reve. Wenn ich morgen nicht mit neuen Informationen über Newmans Tod zum Erzdiakon gehen kann, dann leiden wir alle darunter. Sie haben während der letzten zwei Tage ununterbrochen Beichten abgenommen – jetzt bleibt Ihnen noch ein Tag, um etwas herauszufinden. Wollen Sie das tun?«
Ich unterbrach mein Gebet und hob den Kopf. »Haben wir heute Morgen nicht schon etwas gefunden?«
»Eine verschwundene Leiche und ein lausiges Hemd?«
»Thomas Newmans Hemd. Und wo haben wir dieses Hemd gefunden? In den Rohrkolben. Wie Sie wissen, stehen sie für die Arme Gottes – sie bedeuten, dass Newman ihm sicher übergeben wurde. Wie kam das Hemd dorthin? Wir wissen es nicht, aber es war da, und was mich betrifft, so freue ich mich über jedes Zeichen Gottes. Es ist ja nicht so, dass wir viele erhalten würden.«
Der Dekan öffnete den Mund zum Widerspruch, schloss ihn aber wieder. Aus seiner Körperhaltung wich die Anspannung, seine Lippen formten ein schwaches Lächeln, und etwas Freundliches zeigte sich in seinem Gesichtsausdruck – vielleicht der Junge, den seine Mutter einst liebte. Ich fragte mich, was ihn besänftigt hatte. Einen Augenblick lang sah ich ihn, wie ich ihn am Samstag gesehen hatte, als er auf seiner traurigen, seelenvollen Stute in Oakham angekommen war. Wie unbegreiflich Menschen doch sind, voller Winkel und Nischen. Manchmal alt und gemein, dann wieder jung und freundlich. Aber letztlich ist das alles vergebens, dachte ich, denn er war nie für lange Zeit freundlich.
Und tatsächlich sah er jetzt in die Höhe und hob die Arme. »Ein Hemd in den Rohrkolben, halleluja!« Dann ließ er die Arme sinken. »Das reicht leider nicht, Reve. Finden Sie mehr heraus.«
Ich stand da mit dem Arm voller Kleidungsstücke, das Stückchen Hartriegel immer noch in der Hand, und wusste nicht, was ich sagen sollte.
»Das Hemd hat Carter mir übrigens gegeben …« Er heuchelte Freude über einen guten, klaren Einfall, schlug die Hände zusammen, hob eine Augenbraue. »Ich denke, ich werde es an den Maibaum beim Old Cross hängen, damit es uns alle an die Kürze unseres lieb gewonnenen, kleinen Erdenlebens erinnert. Was meinen Sie?«
Ich verbeugte mich, einzig deshalb, weil er der Dekan war und ich bloß ein Priester. »Entschuldigen Sie mich«, sagte ich.
Ich ging nach Hause, aß ein Stück altes Brot, schlief kurz, zog mich um, kehrte zurück. Die Glocke hatte längst schon zehn Uhr geschlagen. Im Dorf spielten die Kinder Fangen und Dreibeinlauf und bauten Burgen aus Schlamm. Janet Grant, die Kirchendienerin, teilte mir mit, dass sie ihre morgendliche Runde gedreht und an die Türen geklopft habe, um sich zu vergewissern, dass niemand verschlafen hatte oder krank geworden oder gestorben war. Glücklicherweise hatte sich Tür um Tür geöffnet. Ich war erleichtert, dass auch die von Sarah Spenser dazu zählte; so, wie es ihr am Vorabend gegangen war, hatte ich mich gefragt, ob sie die Nacht überleben würde. Auf Townshends Feldern standen Männer in gebeugter Haltung und traktierten die Erde mit Spaten, Rechen und Eggen, um den schlammigen Grund auf die Aussaat vorzubereiten. Ackerboden konnte man sie nicht mehr nennen, unsere Erde, diesen unpflügbaren Matsch, in dem der Rechen versinkt wie die Gabel in ausgelassenem Fett.
Ich kniete im Altarraum nieder, und das Licht von Osten schien blass und matt auf meine Hände. Heile Carters Wunde, betete ich, lass Sarah Spenser gesund werden. Verbessere unseren Ackerboden, lass unsere Samen gedeihen. Nimm mein Gebet zur Terz an, auch wenn ich mich verspätet habe, und zur Sext, für die ich zu früh dran bin. Verzeih, dass ich Mette und Laudes ganz versäumt habe.
Der Wind zerstreute die elf Schläge der Glocke. Danach ging Janet Grant mit der Beichtglocke hinaus, damit die Arbeiter ihre Werkzeuge niederlegten und zur Beichte kämen. Ich erhob mich und ließ mich in dem kleinen Abteil nieder, das eigentlich nur eine dreieckige Nische und kein richtiger Beichtstuhl ist, eine Kiste ohne Dach, schnell und notdürftig zusammengezimmert. Abteil, Kiste – alles Wörter, die der Sache eine Struktur zusprechen, die sie nicht besitzt. Ich saß hinter einer Trennwand aus Eichenholz, an der drei Rosenkränze hingen, um anzuzeigen, dass ich anwesend war und die Beichte abnahm. Das geschah im Tagesverlauf dreimal, und jedes Mal entfernte ich danach einen Rosenkranz. Das verleiht der Sache eine gewisse Dringlichkeit, etwas Dramatisches – so hatte man es mir in meiner Ausbildung beigebracht. Etwas Dramatisches! Als ob wir davon noch mehr brauchten. Ich setzte mich auf den niedrigen Schemel, zog mir das Schultertuch über den Kopf und starrte auf die Wand.
Ich saß in der südwestlichen Ecke der Kirche, nahe dem Eingang. Schwaches Licht sickerte von oben herab und verendete zu meinen Füßen. Am frühen Morgen zeigte das weiß gekalkte Gemäuer ein dunkles Graubraun; wenn der Morgen fortschritt, hellte es zu einem matten Wollweiß auf, so wie jetzt. Ich hatte viele Stunden auf diese Steine gestarrt, bis sie zu einem Gewebe geworden waren, das vor meinen Augen gesponnen wurde. An sonnigen Tagen fiel irgendwann ein Lichtstreif darauf und veränderte die Beschaffenheit. Jetzt im Februar fiel dieser Lichtstreif ungefähr um zwei Uhr schräg auf die Mauer und schmückte sie wie eine Seidenstola. Bei wolkenlosem Himmel konnte ich anhand seiner Breite und seines Winkels auf zehn oder zwanzig Minuten genau die Uhrzeit bestimmen.
Ich hockte mit ungelenk angezogenen Beinen an einem Platz, der beinahe zur Gänze aus Winkeln bestand, zu spitz, um Bequemlichkeit zu bieten. Mein Rücken war in einen dieser Winkel gequetscht, meine Knie in einen anderen, ein Becher Bier stand neben meinem rechten Fuß. Ich stellte mir das Bild vor: Der Priester auf der Hühnerstange. Eines Tages würde ich vielleicht die Unbequemlichkeit dieser simplen Kiste hinter mir lassen, würde einen richtigen Beichtstuhl von geschickten Handwerkern mit richtigem Werkzeug anfertigen oder einen aus Italien kommen lassen (was die Mittel dieser Gemeinde weit übersteigen würde, wenn das, was ich über Italien weiß, stimmt).
Trotz der Abenteuer des heutigen Morgens, trotz Newmans Tod und Carters Trauer überkam mich ein Gefühl lauteren, gottgeweihten Wartens. Vielleicht war das Gefühl wegen meiner morgendlichen Abenteuer sogar besonders stark. Wieder einmal neigte sich ein Jahr dem Frühling zu, und in wenigen Stunden begann die Fastenzeit. Als ich acht Jahre alt war und das Tauchen lernte, holte ich vorher immer noch tief und gierig Luft, sodass mein Kopf anzuschwellen schien und in der Sekunde, ehe ich ins Wasser tauchte, alle Farben und Formen besonders kräftig wirkten. So war es jetzt auch. Vor uns lag eine Zeit der Entbehrungen, lagen vierzig Tagen des Hungrigseins. Während der viertägigen Fastnachtszeit holten wir tief Luft, wir rochen, schmeckten, spürten, aßen, tanzten, beichteten. Nun ja, zumindest die anderen aßen und tanzten und beichteten. Ich spürte bloß, wie sich eine dunkle Ahnung und etwas Erwartungsvolles in mir regte – ein heftiger Missklang meiner Sinne.
Ich schloss die Augen. Dort zeichneten sich in der Uferböschung und im wadentiefen Schlamm feuchte Hufabdrücke ab und dort einige längere, schmalere, flachere Spuren, die – konnte das sein? – vielleicht der ausrutschende Fuß eines Mannes hinterlassen hatte, der bei der Brücke das Flussufer zu erreichen versucht hatte – wohl um besser erkennen zu können, warum die Brücke kürzlich eingestürzt war. Die schmalen Spuren beunruhigten mich; sie zeigten mir, wie schwach Newman gewesen sein musste. Selbst drei Tage später war es schwierig, dieses unbeholfene Ende mit einem so beherrschten Menschen wie Thomas Newman in Verbindung zu bringen – und doch hätte es bei den starken Regenfällen der letzten Zeit jeden, der zu nah am Ufer des tosenden, wirbelnden Flusses stand, schwindeln können. Gebannt wie durch einen Fluch. Der beherrschteste Mensch der Welt konnte ins Rutschen kommen, wenn er mit abgelaufenen Schuhsohlen auf den regennassen Schlick geriet.
Finden Sie etwas, hatte der Dekan gesagt und damit gemeint: Finden Sie den Mörder für mich. Ich hatte es ihm zugesichert. Was ich ihm zu sagen versäumt hatte: Der Mörder ist ein anderer, als Sie glauben. Wer ist es, der stets das Leben nimmt? Der Tod natürlich. Der Tod selbst ist der Mörder, und die Geburt ist seine Komplizin. Menschen sterben, weil sie zum Sterben geboren sind. Durch Ertrinken, durch Krankheit, durch Missgeschick, die Meuchelmörder des Herrn. Wie sollten wir daran etwas ändern können?
Während ich schweigend wartete, spürte ich, wie mich das Universum in zeitlosen Zyklen umschloss. Ich hörte das Rollen der Planeten und das Knospen des Weißdorns. Die Mauern der Kirche rochen wie ein großer tiefer See, die Trennwand aus Eichenholz wie ein Herbstwald und der Schmerz in meinen lädierten Knien durchflutete mich mit der Süße eines harten Lebens.
»Benedicite«, sagte sie.
Und ich: »Dominus.«
Und sie, jung und erschöpft: »Confiteor.« Eine bebende Pause, flatternder Atem und unzufriedenes, gereiztes Herumrutschen. Zwischen uns befand sich eine Trennwand, aber meine Sehkraft war nicht mehr auf das angewiesen, was meine Augen sahen. Sie hustete kurz.
Ich wollte sie gerade auffordern, das Glaubensbekenntnis zu beten, da sagte sie: »Pater, ein Mann ist tot.«
Ich fragte ruhig: »Welcher Mann?«, aber der Muskel an der Innenseite meines linken Fußes zuckte, und die Zehen zogen sich krampfhaft zusammen.
»Ich weiß es nicht, aber er ist ertrunken, genau wie der andere«, flüsterte sie durch das Gitter, und unter dem Stoff, der mein Ohr verhüllte, konnte ich sie kaum verstehen. Ich beugte mich vor. »Die Neuigkeit verbreitet sich schneller als der Wind.«
»Von wem hast du sie erfahren?«
»Oh, von anderen, allen. Ich war auf dem Weg hierher und ich habe davon gehört …«
»Durch den Wind.«
»Aber es ist wahr, Pater, man sagt, dass es wahr sei.«
Wie unwahrscheinlich das Leben manchmal auch wirkt, so gibt es doch Dinge, die völlig unmöglich erscheinen – zwei Ertrunkene an einem Morgen zum Beispiel. Also dachte ich: Bestimmt meint sie Newman. Gleichzeitig dachte ich, dieser neue Ertrunkene müsse Herry sein. Ich hatte keine Ahnung, wie diese beiden gegensätzlichen Instinkte so leicht nebeneinander existieren konnten, aber da es nun einmal so war, sah ich Herry vor mir, wie er sich in seinem Kummer in den Fluss stürzte, während ich mit einem Stück Barchent über dem Kopf tief und fest schlummerte.
Ich streckte in der Dunkelheit meine Hand aus, nach meinem Bierkrug, nach etwas, woran ich mich festhalten konnte, und da erinnerte ich mich an die kleine Eisenkiste, die ich am Vortag unter den Schemel geschoben hatte. Ich tastete ängstlich herum, um mich zu vergewissern, dass sie noch da war. Meine Finger erspürten sie, umfassten sie der Länge nach und schoben sie zurück. Als Nächstes tastete ich nach dem Bier, ließ es aber schließlich dort auf dem Boden stehen, da meine Hände vor dem kalten Zinnbecher zurückschreckten. Doch schon der Geruch war wärmend, der Geruch nach Hopfen und Honig, wie der Höhepunkt eines Sommernachmittags.
»Aber du weißt nicht, wer der Tote ist?«, fragte ich so gleichmütig wie möglich, denn dies war die Frau von Lewys, ein kleines, nervöses Ding, siebzehn Jahre alt, immer auf der Hut.
»Ich hatte gehofft, dass Sie das vielleicht wüssten.« Ihre Finger zupften nervös am Gitter. »Es ist nur ein Hemd von ihm übrig geblieben – zerrissene Fetzen eines Hemdes, sagt man, voller Blut …«
»Ein Hemd?«
»Herry Carter fand es am Fluss.«
»Herry Carter? Hast du ihn auf deinem Weg hierher gesehen?«
»Ja, ich sah ihn. Er hat mit seiner Frau Cat Wasser vor die Tür gefegt; in letzter Zeit ist es so nass, dass wir alle im Schlaf schwimmen.«
»War das Hemd grün?«
»Woher wissen Sie das?« Ihre Stimme war dünn und ungläubig.
»Hast du es selbst gesehen?«
»Nein, Pater. Man sagt so.«
Sie klang aufgewühlt, als würde sie gleich zu weinen beginnen. Meine Finger berührten ihre, um sie zu beschwichtigen. »Bitte, beruhige dich. Es ist nicht so schlimm.«
»Schon der zweite Mensch ist in unserem Fluss ertrunken«, sagte sie, und jetzt flüsterte sie nicht mehr, sondern sprach leise, aber deutlich durch das Gitter, mit angstvoller Ruhe. »Lange Zeit gab es keine Toten, und jetzt sind es gleich zwei in wenigen Tagen. Ich habe Angst: dieser ganze Regen, und der Fluss ist schmutzig und zornig – als ob Gott die Brücke, die wir bauen, nicht haben will. Er ist nicht zimperlich mit seinen Zeichen.«
Es ist nicht Gott, der sie nicht haben will, hätte ich sagen können. Gott beklagt sich nicht über Brücken. Nein, der Groll kommt von den zornigen kleinen Flussteufeln. Wenn das, was sie sagte, doch nur wahr wäre; wenn Gott doch nur etwas deutlichere Zeichen senden würde. Immer war es mein vergeblicher Lebenswunsch gewesen, eine eindeutige Anweisung von ihm zu erhalten, nur ein einziges Mal. Ich legte meine Hand zurück in den Schoß.
»Wenn Gott ein solches Zeichen geschickt hat, dann weiß ich nichts davon«, sagte ich.
Auch ihre Hand zog sich zurück und verschwand in der Dunkelheit. »Sehen Sie es denn nicht? Er will, dass wir die Reste der Brücke abreißen. Er will nicht, dass wir auf Kosten von Menschen, die vielleicht arm sind, Gewinn machen, er will nicht, dass Männer bei ihrem Bau sterben. Wie die beiden Männer im letzten Sommer.« Sie hielt einen Augenblick inne, ehe sie weitersprach, und ich wusste nicht, ob sie wollte, dass ich etwas über die beiden anderen Männer sagte. »Diese beiden Männer und dann Thomas Newman, der Geld für die Brücke spendete – sehen Sie sich die jetzt an. Fort und tot und vergessen, als ob es sie nie gegeben hätte. Und der Mann, der heute gefunden wurde. Ich weiß nicht, wer er ist, aber ich wette, dass er einer von denen ist, die dabei geholfen haben, sie zu bauen oder zu bezahlen.«
»Die Männer, die letzten Sommer starben, sind nicht ertrunken, sondern dem Fieber erlegen.«
»Aber nur, weil sie das Flusswasser tranken. Tom Newman hat Geld für den Bau der Brücke gegeben«, sagte sie erneut, als ob diese Tatsache sie in Gefahr brächte. »Und auch mein eigener Mann hat beim Brückenbau geholfen. Er könnte der Nächste sein, Pater.«
Ich konnte hören, wie steif ihr Kiefer beim Sprechen war, und das kalte, unverwandte Blau ihrer Augen sehen. Ich setzte mich auf. »Die Leiche, die heute gefunden wurde, war nicht die eines zweiten Mannes«, sagte ich, »es war die desselben Mannes – Newman. Es war Thomas Newman. Es hat drei Tage gedauert, bis ihn der Fluss eine Meile stromabwärts angespült hat. Es gibt keinen zweiten Mann. Es gibt kein Zeichen Gottes. Besser gesagt, es gibt ein Zeichen Gottes, aber ein anderes, als du glaubst. Das Hemd wurde in einem Röhricht gefunden, an einem heiligen Ort. Er ist sicher in Gottes Armen angelangt.«
Sie schwieg, und dann schluchzte sie.
»Es ist abergläubisch zu denken, dass Gott uns bestraft. Glaubst du, er hasst Brücken? Hast du schon einmal von den großen Brücken in Rom gehört? Und in … Wade? Da haben sie auch eine Brücke gebaut, die Stadt ist wie neu.« Ich hielt inne, denn mir fielen keine weiteren Beispiele ein.
Ich erinnerte mich an die Stille, die ich unter Wasser gehört hatte. Eine Stille, welche die Ohren überwältigte. Zwischen mir und dieser jungen Frau befand sich ein handbreites Stück Eichenholz, aber wie ihr loses Haar über ihre Wangen streifte, hörte ich so laut wie den Besen auf dem Platz.
»Er ist sicher in Gottes Armen angelangt«, flüsterte sie. Dann, schärfer und lauter flüsternd: »Sind wir sicher, Pater?«
»Ja.«
»Wirklich?«
»Hast du Angst vor Gott?«
Sie antwortete nicht.
»Du solltest Angst nur vor dem haben, was nicht Gott ist«, sagte ich.
Ein Schniefen. »Es ist heute kein zweiter Mann ertrunken?«
»Nein.«
Sie atmete tief aus. Ich hätte sie jetzt eigentlich auffordern müssen, Glaubensbekenntnis, Vaterunser und Ave-Maria zu sprechen, aber ich wusste, dass sie diese kannte, und ohnehin würde sich bald eine Schlange im Kirchenschiff bilden.
»Hast du etwas zu beichten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich war ja erst gestern da«, sagte sie. Ja, sie war da gewesen und hatte gebeichtet, dass sie den letzten Löffel Honig gegessen hatte, ohne ihn mit ihrem Mann zu teilen, was ich ihr schnell und ordnungsgemäß vergeben hatte.
»Du sagtest, du seist bereits auf dem Weg gewesen, als du von dem Ertrunkenen gehört hast …«
»Aber ich hatte nichts zu beichten, Pater. Ich habe bloß … die letzten Tage waren verstörend. Ich brauchte bloß Ihren Trost. Ich fühle mich wie auf dem Meer, seekrank. Vielleicht liegt es daran.«
Ich nahm an, dass sie mit ihrer kleinen blassen Hand über ihre Körpermitte strich.
»Bist du jetzt getröstet?«, fragte ich.
»Ja. Danke, Pater.«
»Das wäre dann also alles?«
»Ich denke schon.«
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie die kleine Hand schnell und flüchtig das Kreuz schlug. Dann ging sie, langsam und seufzend, und die große Kugel ihres schwangeren Bauches füllte das vergitterte Fenster, als ob ein Planet schwerfällig über den Himmel zöge.