Читать книгу Eno - Die Macht der Naniten - Samuel Smith - Страница 10

3.Von Anschuks und Fengos

Оглавление

Am anderen Morgen fühlte sich Eno zerschlagen und müde. Der kurze Schlaf, in den er endlich gefallen war, hatte ihn nicht erfrischt. Mit einem Mal fiel ihm alles wieder ein. Er war nicht der leibliche Sohn von Mutter und Vater. Seine wirklichen Eltern hatten ihn irgendwo auf einem Feld liegen lassen, und er glaubte sogar, zu spüren, dass er anders als seine Brüder war, nicht nur vom Aussehen. Eno fühlte einen Stich in der Brust, und als hätte man ihn mit eiskaltem Wasser übergossen, sprang er auf. Er hörte, wie seine Brüder bereits den Wagen luden und die Sonne schon hoch am Himmel stand. Man musste ihn schlafen gelassen haben, heute zu seinem Geburtstag. Er war ihnen dankbar, aber nun stieg er rasch die Treppe hinunter, wusch sich, zog sich an, und erst dann lief er auf den Hof. Mit herzlichen Glückwünschen zum Geburtstag wurde er begrüßt. Er war nun volljährig und es war heute sein Tag. Alle umarmten ihn und schlugen ihm freudig auf die Schulter. Eno ließ alles mit sich geschehen, wie in einem seiner Träume, von denen er in letzter Zeit zu viele hatte. Dann gab er sich einen Ruck, lächelte zaghaft und tat zumindest so, als wenn alles wie eh und je war. Mit Eifer half er seinen Brüdern, den Wagen fertig zu beladen, das Pferd anzuschirren, denn er freute sich schon darauf, das erste Mal zum Markttag mit zu dürfen. Es war abhängig vom Wetter mindestens eine Tagesreise vom Dorf in die Stadt Trangall. Sie würden in einer Raststätte die Nacht verbringen müssen. Diesmal kam Vater nicht mit und er durfte erstmals mit seinem älteren Bruder Walter fahren. Nach dem Frühstück verabschiedeten sich die ungleichen Brüder. Er drückte Karl fest an sich, umarmte Vater und Mutter, und dann spannten sie gemeinsam das Pferd vor den Wagen und Eno stieg mit Walter auf den Kutschbock. Mutter wischte sich über die Augen, als ob ihr etwas ins Auge geflogen war. „Hey jah“, schrie Eno im Übermut und knallte mit der alten Lederpeitsche zweimal laut in der Luft, wie er es so oft geübt hatte. Dann setzte sich der schwere voll beladene Wagen unter Walters heftigen Zügelschlagen und Rufen in Bewegung. Er sah freudig zurück zu seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder, die winkend im Hoftor standen. „Macht keine Dummheiten und kommt schnell wieder zurück!“, rief Mutter noch von weitem. Vater hatte seinen starken Arm um Karls‘ Schulter gelegt, und beide winkten ihnen nach. Dann ging es schon auf die holprige Straße und in die erste Biegung. Ein letztes Mal schaute Eno zu seiner Familie zurück, sah das Haus, in dem er aufgewachsen war, roch die Felder und die braune Erde und fühlte zugleich wie sich sein Herz schmerzhaft zusammenzog, so als würde er dies alles ein letztes Mal sehen und der Abschied in Wirklichkeit ein Abschied für immer sein. Er verscheuchte diesen dummen Gedanken, von dem er nicht wusste, warum er ihm gerade jetzt in den Sinn gekommen war. Mit Gewalt wandte er sich ab, aber erst nachdem er sich das Bild seiner ‚Familie’ ein letztes Mal fest eingeprägt hatte und schaute nach vorne auf den Weg zur großen Stadt Trangall, die er bald mit eigenen Augen sehen durfte. Von der Seite stupste Walter ihn an, lächelte auffordernd und hielt ihm die Zügel hin. Überrascht nahm Eno die abgewetzten Lederriemen, trieb das Pferd an, spürte den Ruck, der durch den Wagen ging, als der Gaul mit Macht anzog, und in diesem Augenblick fühlte Eno sich plötzlich erwachsen.

Sie waren einige Zeit unterwegs gewesen, als es zu nieseln anfing. Es war kühl an diesem Morgen und der Weg war alles andere als trocken und fest. Oft mussten Eno und Walter vom Wagen absteigen und mit dem Schlamm kämpfen, der immer wieder versuchte, ein oder mehrere Räder mit Gewalt festzuhalten. Es war anstrengend für die beiden Brüder und obwohl sie nach einer Weile vor Schmutz starrten und ihre Kleider nass und klamm waren, behielten sie ihre gute Laune, denn es war ja bald Markttag. Ein fröhliches Tummeln, Feilschen, Spiele und noch viel mehr erwartete sie. Nach den Geschichten, die Eno gehört hatte, gab es dort Zigeuner, Kneipen und Mädchen. Was wollte das Herz eines achtzehnjährigen Jungen mehr?

Manchmal, wenn Walter nicht auf ihn achtete, blickte Eno auf ein Bündel, welches ganz vorn im Wagen lag. Ein dunkler Stab schaute heraus. Dann wurde er still und fiel ins Grübeln. Walter, der dies zu ahnen schien, schwieg und kümmerte sich in diesen Momenten noch intensiver um die Lenkung des Wagens, in die sie sich nun teilten. Der Himmel hatte ein Einsehen und ihr ständiger Begleiter, der unablässige Nieselregen, hatte endlich aufgehört. Die Sonne kam kurz zum Vorschein und es war Zeit für eine kleine Mittagsrast. Allerdings zogen von Osten wieder dunkle Wolken heran und verhießen nichts Gutes. Die beiden Brüder spannten das Pferd ab und banden es an einen Baum. Sie füllten einen Eimer mit Wasser vom nahegelegenen Bach und ließen das Pferd saufen. Erst dann machten sie es sich mit Mutters Wegzehrung unter einer alten Eiche bequem und begannen zu essen. Die dunklen Wolken kamen viel zu schnell über sie, und es fing wieder an zu regnen. Dicke Tropfen fielen und es würde nicht mehr lange dauern, bis sie sich durch das dichte Blätterdach gearbeitet hatten. Es wurde auch wieder kälter. Der Regen und das von den dichten Zweigen herabtropfende Wasser verursachten ein monotones Geräusch, sodass sie nicht hören konnten, wie sich auf der Straße Reiter näherten. Erst als diese plötzlich vor ihnen auftauchten, sprangen Walter und Eno erschrocken auf. Der vorderste Reiter war sehr groß und breitschultrig. Er hatte ein narbiges Gesicht und trug ein schwarzes Lederwams, welches vor Nässe glänzte. Die Pferde dampften vom schnellen Ritt und erst jetzt sahen die Brüder noch zwei weitere Männer, die sich schnell näherten. Sieben in dunkles Leder gekleidete Männer mit langen Schwertern waren es, die sie von ihren Pferderücken finster ansahen. Walter fing sich als erster von dem Schreck und fragte: „Hallo ihr edlen Herren, was können mein Bruder und ich für euch tun? Wir sind auf dem Weg zum Markt.“ Die Männer antworteten nicht. Der vorderste Reiter mit der Narbe im Gesicht musterte die Brüder schweigend und fragte endlich ungeduldig mit einem ausländischen Akzent „Von woher kommt ihr?“

Walter antwortete wahrheitsgemäß „Aus einem kleinen Dorf, einen halben Tagesritt von hier edle …“ Der Narbige unterbrach Walter schneidend, und seine Stimme klang jetzt wie rostiges Eisen. „Kennt ihr ein Findelkind in dieser Gegend, in seinem Alter?“, und dabei zeigte er streng auf Eno. Walter erstarrte für den Bruchteil einer Sekunde und antwortete dann fast ohne zu überlegen „Aber nein, meine Herren. Wir kennen kein Findelkind.“ Eno wurde blass. Angst drückte seine Kehle zu und legte sich wie ein Mühlstein auf seine Brust. Er sah, wie Walters Hände zitterten und das schien auch der Aufmerksamkeit des Narbigen nicht entgangen zu sein. „Was lügt ihr Pack mich an. Ich frage euch ein letztes Mal. Wo ist der Bengel, der nie Eltern gehabt hat?“

Walter schwitzte und noch bevor er etwas entgegnen konnte, antwortete Eno schnell; „Aber hoher Herr, wir sind nur zwei unwissende Bauern. Ich bin zum ersten Mal auf dem Weg zum Markt in Trangall und war noch nie weiter vom Dorf entfernt. Ihr müsst …“, „Ich muss gar nichts!“, schrie der Narbige jetzt ungehalten und zeigte auf einen seiner Männer. „Du, fessele sie und dann tu, was du tun musst, um endlich die Wahrheit aus ihnen herauszuholen.“ Der schwarz gekleidete Mann, auf den der Narbige gezeigt hatte, trieb sein Pferd dichter heran, stieg ab und riss sein Schwert aus der Scheide. Walter und Eno bewegten sich unwillkürlich rückwärts, bis ihre Rücken an die dicke Eiche stießen, die sie als Lagerplatz gewählt hatten. Der Mann hatte einen wilden Blick und das Schwert hielt er leicht schräg nach oben. Man musste schon blind sein, nicht den geübten Schwertkämpfer in ihm zu erkennen. Die beiden Brüder hatten nie eine Waffe in der Hand gehalten und nicht nur Walter wusste, dass sie keine Chance hatten. „Schnell Eno, lauf weg!“, rief er verzweifelt und drehte sich auf der Stelle um und begann zu rennen. Doch bevor Walter um die Eiche herum in den Wald fliehen konnte, surrte ein Pfeil und bohrte sich mit einem hässlich schmatzenden Laut in seinen Rücken. Eno blieb wie erstarrt stehen. Dies konnte doch alles nicht real sein! Er sprang zu Walter und versuchte ihn zu stützen, aber Walter sackte schwer und lautlos zusammen. Dunkles Blut lief aus seinem Mund und seine Augen blickten unnatürlich geweitet. Eno schossen Tränen in die Augen und mit dem Schmerz kam die Wut. Er stand auf, drehte sich zu dem Angreifer, und gerade als dieser mit dem Schwert auf ihn einschlug, sprang Eno zur Seite, lief zum Wagen und schloss seine Faust um das schwarze Holz seines Stabes. Er schwang ihn, und wie von selbst glitt er durch seine Finger und wirbelte vor den Angreifer. Dieser aber lachte und bewegte sich mit spielerisch tänzelnden Bewegungen auf ihn zu. Sein Schwert zuckte vor wie eine Schlange, und nur mit Mühe und Glück gelang es Eno auszuweichen. Gerade als er glaubte, diesem Schlag entgangen zu sein, riss der Krieger seinen Arm hoch und versetzte ihm mit dem Ellbogen einen fürchterlichen Hieb ins Gesicht. Dann wurde es Nacht um Eno.

Mit dem Erwachen kam die Erinnerung. Walter war von einem Pfeil getroffen worden. Mit einem Ruck wollte Eno aufstehen, doch eine starke Hand drückte ihn auf sein Lager zurück. „Bleib liegen. Du hast ganz schön was abbekommen.“

Diese Stimme war anders, weniger forsch und ungehalten als die der schwarzen Reiter, eigentlich fast schon sanft. Er öffnete die Augen oder versuchte es zumindest, denn seine linke Gesichtshälfte war vollkommen zugeschwollen. Mit dem rechten Auge blinzelte er in die Dunkelheit, während das linke einfach nur höllisch schmerzte. Es war mittlerweile Nacht geworden. Er musste einige Stunden geschlafen haben. Er fragte in die Finsternis hinein „Wer seid ihr?“

„Man nennt mich Neves. Ich habe dich gefunden. Du hattest wohl eine kleine Meinungsverschiedenheit?“, antwortete eine warme tiefe Bassstimme. „Mein Bruder, was ist mit ihm?“, keuchte Eno. „Er lebt. Ich konnte den Pfeil entfernen, aber er hat viel Blut verloren.“

„Was ist mit den Räubern? Sind sie …“

„Sie sind weg“, unterbrach ihn Neves. „Hier trink!“. Eine bauchige Flasche wurde an seine Lippen gedrückt. Gierig trank Eno und schon nach dem ersten Schluck hustete er. „Was ist denn das für ein Trank?“, stieß er zwischen heftigen Hustenattacken aus.

„Das ist ein Geheimrezept meiner Großmutter und macht sogar Tote wieder lebendig.“

Neves grinste, und obwohl Eno dies nicht sehen konnte, verzog auch er seinen Mund zu einem dankbaren Lächeln und sagte: „Na dann gib mir noch einen Schluck. Ich fühle mich eher tot als lebendig.“ Der Alkohol floss wie flüssiges Feuer durch seine Kehle, erzeugte sofort wohlige Wärme in seinem leeren Magen und schien tatsächlich den pochenden Schmerz in seinem Gesicht zu betäuben. Vorsichtig setzte er sich auf. Mit dem noch heilen rechten Auge sah er nun im Licht eines Lagerfeuers, welches Neves entzündet haben musste, Walter auf dem Boden liegen. Neves musste ihn auf weiches Moos gebettet haben und Walter schien fest zu schlafen. Ein frischer Verband war um seine Schulter gewickelt. Plötzlich erstarrte Eno, als er nicht weit von ihrem Lagerplatz in der Dunkelheit fein säuberlich in einer Reihe sieben Leichen im Schein des flackernden Feuers erkannte. Mäntel und auch einige Decken lagen über ihnen ausgebreitet, sodass Eno nicht sehen konnte, wer sie waren. Aber natürlich konnten das nur die schwarzen Reiter sein. „Was ist mit denen dort geschehen?“, fragte er ängstlich und zeigte mit einer Hand unwillkürlich in die Richtung des grausigen Fundes. Neves grinste fast schon schelmisch und erst jetzt nahm Eno sich Zeit, die fremdartigen Züge, das dichte schwarze Haar, die blauen Augen und die seltsame Kleidung aus derbem Stoff und altem Metall des Mannes genauer anzusehen, der ihn gerettet und vielleicht sogar ganz alleine die sieben Krieger getötet hatte. Aber das konnte nicht sein. Das war unmöglich. Er hatte selbst gesehen, wie gewandt und tödlich diese Männer waren. Als ob Neves ahnen würde, was in seinem Kopf vorging, sagte er „Es ist nicht so, wie es aussieht. Ruh dich aus. In dieser Nacht bist du sicher. Übrigens, wie lautet eigentlich dein Name? Nun, da du meinen kennst, ist es an der Zeit, auch deinen zu hören. Meinst du nicht auch?“

Eno nickte nur mechanisch und sagte dann „Mein Name ist Eno. Ich war mit meinem Bruder Walter auf dem Weg zur Stadt Trangall. Da haben uns die Männer angegriffen und meinen Bruder -“, er stockte und schluckte schwer „haben sie einfach von hinten erschossen.“

„Haben sie jemanden gesucht?“, fragte Neves im Plauderton weiter, als wenn er sich nach dem Wetter erkundigte, während er Holz auf das Feuer legte, das die Flammen gierig verschlangen. In Eno begann wieder die Angst herauf zu kriechen, wie eine Natter. Da er nicht antwortete, fuhr Neves im gleichen sanften Ton fort: „Du musst nicht antworten. Ist vielleicht auch nicht wichtig.“ Natürlich war es wichtig, sogar sehr, aber irgendetwas hielt Eno davor zurück wahrheitsgemäß zu antworten. Also sagte er nichts darauf. Das Lagerfeuer prasselte und Schweigen breitete sich zwischen den beiden ungleichen Männern aus. Nach einer Weile stand Neves auf und ging zu seinem Pferd. Er zog ein Leinentuch aus dem Packen hinter dem Sattel hervor und kam langsam zu Eno zurück. Aus dem Leinentuch wickelte er eine kleine Dose und nachdem er sie geöffnete hatte, begann er, Enos Gesicht vorsichtig zu bestreichen. Kaum aber hatte Neves sein Gesicht mit den Fingern berührt, zuckte ein greller Blitz hinter Enos Augen und eine lähmende Schockwelle raste vom Kopf bis zu seinen Füßen. Kam dies von dem Schmerz in seinem geschwollenen Gesicht? Er wusste es nicht und traute sich auch nicht, den unbekannten Mann zu fragen. Er fühlte sich ein wenig schwindelig. Alles ging viel zu schnell, sodass Eno nur tief und heftig einatmete und sich schüttelte, als ob er fröstelte. „Es ist eine besondere Salbe“, fuhr Neves fort. Er schien Enos ungewöhnliche Reaktion nicht bemerkt zu haben oder wenn doch, dann zeigte er es nicht und schrieb es den Schmerzen zu. „Sie wird dich schnell heilen. Ich wünschte, ich hätte auch ein solches Mittel für deinen verletzten Bruder.“

„Danke“, sagte Eno ehrlich „für alles, was du für uns getan hast. Ohne dich wären mein Bruder und ich wohl nicht mehr am Leben.“

„Na na, nicht so voreilig mein Junge. Du hast gut gekämpft. Ich sah, wie du den Stab geschwungen hast und nur aufgrund deiner Unerfahrenheit hast du verloren.“

„Also hast du alle Räuber allein besiegt?“, fragte Eno ungläubig. „Ich habe so meine Methoden“, entgegnete Neves schmunzelnd. „Aber lass uns von dem Stab sprechen. Woher hast du ihn?“

Eno antwortete und irgendwie hatte er das Gefühl doch nicht alles sagen zu dürfen. „Ich habe ihn bei meiner Abreise geschenkt bekommen.“ Zumindest war es nicht gelogen, dachte Eno. „Hast du noch mehr ‚geschenkt‘ bekommen?“, fragte Neves neugierig und grinste schon wieder breit über‘s ganze Gesicht. Sein dunkler Vollbart verdeckte seine Lippen fast zur Gänze, und die blauen irgendwie viel zu alten Augen blitzten wie zwei Diamanten in dem wettergegerbten Gesicht des Fremden. „Wir sind arme Leute und normalerweise bekommt man außer einem guten Essen oder einem reparierten Werkzeug nichts geschenkt. Allerdings ist heute mein achtzehnter Geburtstag und mein Vater gab mir den Stab mit auf die Reise als mein Geburtstagsgeschenk.“ Wieder hatte er die Wahrheit und doch nicht alles gesagt. „Na dann herzlichen Glückwunsch, und jetzt wird geschlafen“, sagte Neves entschieden. „Morgen bei Sonnenaufgang, wenn du ausgeruht bist, kümmern wir uns um deinen Bruder. Er muss schnellstens zu einem Arzt in die Stadt. Er wird heute Nacht bestimmt ein wenig zu Kräften kommen und wir können ihn morgen in den Wagen legen. Ich halte Wache. Was hältst du davon, Eno?“

Eno war nicht sicher, was er von so viel Freundlichkeit halten sollte, willigte er aber doch ein, da er todmüde war. Irgendwie wollte er auch nichts mehr wissen, von den Räubern, dem Stab, dem Findelkind und auch nichts mehr über den Fremden, der sie gerettet hatte und dessen Fragen ihm allmählich komisch vorkamen. Die Salbe roch zwar schlecht aber schien tatsächlich zu helfen. Es tat schon gar nicht mehr so weh, und er hatte sogar das Gefühl, dass die Schwellung in seinem Gesicht zurückging. So hatte sich Eno seinen Geburtstag nicht vorgestellt. Er liebte Abenteuer, aber, wenn man selbst in eines verstrickt war, dann war das etwas ganz anderes. Eigentlich hatte er schon jetzt genug davon und sehnte sich nach Hause. Heimweh überfiel ihn, wie er es nie gekannt hatte, krampfte seinen Magen schmerzhaft zusammen und ließ ihn schwer atmen. Fast musste er weinen, zum zweiten Mal in kurzer Zeit. Mit den Gedanken bei dem verletzten Walter, bei Klaus und seinen Eltern glitt Eno endlich in den ersehnten Schlaf.

Am anderen Morgen weckte ihn ein zischendes Geräusch. Schlagartig war er wach und sah wie Neves das Feuer mit Wasser löschte. Erst dann wurde ihm bewusst, dass er keine Schmerzen mehr im Gesicht hatte und mit beiden Augen Neves beobachtete, wie er das kleine Lager abbrach. „Na, willst du ewig schlafen?“, sagte Neves und fügte hinzu „Kümmere dich um deinen Bruder. Ich glaube, er ist erwacht.“

Schlagartig war Eno wach. Mit einem Ruck sprang er auf und rannte die paar Schritte zu Walters Lager. „Wie geht es dir?“, fragte er hastig, als er die geschlossenen Augen seines Bruders sah. „Es geht schon“, flüsterte Walter mit halberstickter Stimme und ein leises kraftloses Husten schüttelte ihn. „Kannst du aufstehen? Soll ich dir helfen?“

Da kam Neves kopfschüttelnd dazu und rief. „Was für eine Frage Eno! Komm, fass mit an.“

Gemeinsam trugen sie Walter vorsichtig, jede Erschütterung vermeidend, zum Wagen, wickelten ihn in Decken und spannten anschließend das Pferd an. Natürlich mussten sie vorher einen Teil der Getreidesäcke abladen, aber das war Eno egal und Vater würde es verstehen. Dann brachen sie auf. Von den Toten, die er letzte Nacht entdeckt hatte, war nichts mehr zu sehen. Die schwarzen Männer waren auf Pferden geritten und auch diese waren verschwunden. Eno fragte nicht weiter. Er wollte das alles so schnell wie möglich vergessen, und irgendwie war ihm das alles egal. Er wollte einfach nur noch weg von hier. Neves ritt auf einem schwarzen Hengst dicht neben dem Wagen, den Eno jetzt lenkte. Ein mächtiges Schwert hing an seiner Seite, und ein heller glatter Holzstab war seitlich am Sattel festgebunden. Die Wagenräder pflügten durch den Morast und das Geräusch vermischte sich mit dem Stapfen des Pferdes, das eintönig voranschritt. Walter gab einen ächzenden Laut von sich und Eno sah erschrocken auf den Wagen. Als er aber sah, dass sein Bruder nur im Schlaf gestöhnt hatte, wandte er sich Neves zu: „Ihr habt mir noch gar nicht gesagt, woher ihr kommt und was ihr so macht“, kam es aus ihm heraus. Neves grinste breit, wie Eno es schon öfter bei ihm gesehen hatte, zumindest seit sie sich getroffen hatten. Eno wurde plötzlich klar, dass er bis auf den Namen nichts von seinem Retter wusste. „Du willst also wirklich wissen, woher ich komme und was ich so mache? So so, neugierig bist du also auch noch“, brummelte Neves in seinen Bart. Von einem Augenblick zum andern wurde er ernst. Ein gefährliches Funkeln lag plötzlich in seinen Augen, und ein unnatürlicher Ernst ließ seine Gesichtszüge erstarren. „Ich suche ein Findelkind“, und in seiner Stimme lagen die Schärfe seines Schwertes und die Härte seiner Muskeln, die man unter dem Lederwams erahnen konnte. Enos Herzschlag setzte aus. Er presste die Zügel in seinen Händen als hinge sein Leben davon ab und wollte gerade antworten, als Neves plötzlich sein Pferd mit einem Ruck zum Stehen zwang, „Still!“, zischte und dabei die linke Hand hob. Die andere griff zum Schwert. Eno zog an den Zügeln mit aller Kraft und brachte den Wagen zum Stehen. Seine Hand griff unwillkürlich hinter sich nach seinem Stab, und dann richtete er sein Blick in die gleiche Richtung, in die Neves starrte. „Weg von der Straße!“, stieß Neves hervor, und obwohl seine Stimme weniger als ein Flüstern war, schnitt sie wie ein Fallbeil durch die Luft. Eno trieb die Kutsche in den nahen Wald, und auf seiner Stirn bildeten sich Tropfen, die nicht nur vom unablässigen Nieselregen stammten. Neves war vor ihm, und als sie weit genug im Wald waren, verschwand Neves mit seinem Pferd im Unterholz, als hätte er nie existiert. Eno blieb allein zurück und musste erkennen, dass sein neuer Freund ihn einfach im Stich gelassen hatte. So viel zu Vertrauen und Ehrlichkeit. Sein verletzter Bruder lag regungslos auf dem Wagen und schien tief zu schlafen. Es wurde still um Eno. Nur der Regen tröpfelte durch das dichte Blätterdach und das Pferd stampfte eine unbestimmte Gefahr erahnend unwillig mit seinen Hufen auf den Waldboden. Durch das Gebüsch erspähte Eno Reiter auf der Straße. Wieder waren es Männer in Schwarz und sie schienen ebenfalls bewaffnet zu sein. Angst griff nach seinem Magen und drückte seine Eingeweide schmerzhaft zusammen. Unwillkürlich hielt er den Atem an und streichelte dem Pferd beruhigend den Kopf. Die Reiter schienen ihn nicht bemerkt zu haben, denn sie ritten ohne das Tempo zu verändern vorbei. Als sie außer Sicht waren, erinnerte Eno sich wieder daran, zu atmen, und gierig sog er die Luft in die Lungen. Etwas zu laut vielleicht oder das Schnaufen des Pferdes hatte sie verraten, denn ein Reiter kam plötzlich zurück und richtete seinen Blick in den Wald. Seine Augen schienen das dichte nasse Blätterdach mühelos zu durchdringen, denn er ritt direkt auf Eno zu. Diesmal aber war Eno vorbereitet, überwand seine Angst und hielt sein Stab fester. Er würde auch ohne diesen Neves klarkommen. Kaum war der Reiter heran, trat Eno blitzschnell hinter einem Baum hervor, schlug mit aller Macht zu und zielte auf den Kopf des Angreifers. Dieser aber duckte sich unter dem wüsten Schlag anscheinend mühelos weg, zog noch beim Abducken sein Schwert aus der Scheide und hieb in der Aufwärtsbewegung nach Enos Hals. Dies alles geschah so schnell, dass Eno die Bewegung des Mannes kaum wahrnahm. Das Schwert des Angreifers strich mit unglaublicher Geschwindigkeit durch die Luft und das Singen, das es dabei verursachte, ließ Eno erschauern. Unwillkürlich wollte er die Augen schließen, doch irgendetwas in ihm zwang ihn, alles genau anzusehen. Plötzlich veränderte sich etwas. Wie in einem Traum nahm er die Bewegungen rings um ihn extrem verlangsamt wahr. Er sah erstaunt, wie sich das Schwert Millimeter um Millimeter auf seinen Kopf zu bewegte und er schien alle Zeit der Welt zu haben, seinen Stab zur Abwehr hochzuheben. Dann senkte sich das blitzende Metall ganz langsam herab und berührte die polierte Oberfläche. Behänd drehte Eno sich und trieb das Stabende mit fast überirdischer Gewalt in die Brust des Angreifers. Er sah die schreckgeweiteten Augen seines Gegners und wie er von der Gewalt des Hiebes im Sattel beinahe gemächlich zusammensackte. Der Mann fiel wie ein Sack vom Pferd und stand nicht mehr auf. Das Pferd des Angreifers blieb stehen und Eno bemerkte, wie seine Umgebung oder er selbst wieder die gewohnte Ablaufgeschwindigkeit annahm. Was war mit ihm geschehen? Er ging vorsichtig auf den dunklen Krieger zu, beugte sich über das harte Gesicht und der fassungslose und jetzt für immer erstarrte Blick war Antwort genug, wie es um ihn stand.

Der Kampflärm und das Ausbleiben des Kriegers hatten mittlerweile die anderen Reiter alarmiert. Doch während diese näher kamen, sah Eno einen dunklen Schatten, der sich mit irrwitziger Geschwindigkeit fortbewegte und in Richtung der Reiter raste. Eno konzentrierte sich, und wieder schaffte er es, alles verlangsamt zu erleben. Er konnte nun erahnen, was mit dem Narbigen und seinen Begleitern geschehen war, nachdem Walter und er gestern verletzt wurden. Dieser Schatten, der unter den Reitern wütete, rasende Schläge austeilte und sich wie ein Blitz von einem zum anderen bewegte, war niemand anderes als Neves. Vom ersten Auftauchen des schwarzen Schattens an war der Ausgang des Kampfes beschlossene Sache. In wenigen Sekunden saß keiner der Männer mehr auf dem Rücken seines Pferdes. Neves aber stand nun neben Eno und steckte sein Schwert in den Sattel. „Hast dich gut gehalten Jungchen.“ Ein Lächeln stahl sich auf sein wettergegerbtes, fremdartiges, eher asiatisches Gesicht und er nickte Eno anerkennend zu. „Wo hast du so kämpfen gelernt? Du warst unglaublich schnell, hast den Gegner herankommen lassen, ihn in Sicherheit gewiegt und urplötzlich mit deinem Stock pariert. Der folgende Hieb war ansatzlos und eigentlich nicht möglich, zu schnell. Wollen wir nachsehen, ob jemand noch am Leben ist?“ Neves wartete die Antwort nicht ab und schritt auf die herrenlosen Pferde zu. Eno wusste selbst nicht, was mit ihm geschehen war. Vor Verblüffung konnte er keinen Ton hervorbringen. Wortlos starrte er Neves nach, der anfing, die umherliegenden Männer einen nach dem anderen auf den Rücken zu drehen. Dann gab Eno sich einen Ruck und half mit. Er ging umher und untersuchte die leblosen Gestalten. Einige lagen in ihrem Blut, hatten grausame tödliche Wunden, und andere starrten ihn mit aufgerissenen Augen an, in denen noch das Erstaunen eingefroren war, von etwas Furchtbarem einfach überrannt worden zu sein. Er drehte sich um und ging auf einen im Wassergraben Liegenden zu. Kaum hatte er seinen Stab in dessen Rücken gestoßen, hörte er ein Stöhnen. Er stieß das Schwert, welches neben dem Krieger lag, mit dem Fuß weg und sagte dann mit harter Stimme, die so gar nicht zu seiner noch kindlichen fast zarten Statur passen wollte: „Hey Kerl, dreh dich um, damit ich dein Gesicht sehen kann, und mach ja keine Dummheiten.“

Neves hörte ihn und kam interessiert näher. Unter verhaltenem Stöhnen drehte sich der einst stolze Krieger mühsam auf die Seite. Dem Blutfluss aus seiner Nase und seinem Mund zufolge musste er wohl innere Verletzungen davongetragen haben, nachdem er vom Pferd in den Graben gefallen war. Neves fragte: „Was wollt ihr Kerle hier eigentlich von friedlichen Reisenden?“ Doch der Mann schwieg. Ein Tritt in seine Rippen ließ ihn wieder aufstöhnen und erinnerte ihn daran, wer hier im Vorteil war. „Wir sind vom König beauftragt worden, ein Findelkind zu finden und es zu töten.“ Eno wurde blass. Erschrocken sah er zu Neves. Doch wenn dieser die Panik in seiner Mimik bemerkt hatte, verstand er es hervorragend, sich nichts anmerken zu lassen. Mit seiner unnachahmlich tiefen rostigen und gleichzeitig gutmütigen Stimme sagte Neves: „So so, einen Jüngling sollt ihr töten. Was für Helden seid ihr denn, sich an Kindern zu vergreifen, anstatt es mit euresgleichen aufzunehmen?“ Der Krieger wälzte sich langsam und unter Stöhnen ganz auf den Rücken und blickte erst Eno, dann Neves ängstlich an. Fast entschuldigend entgegnete er hastig „Der Knabe soll extrem gefährlich und schwer bewaffnet sein! Es gibt auch eine große Belohnung. Eine Stelle am Hofe in der Garde des Königs und 100 Goldstücke.“ Dann hustete er, spuckte Blut und sein Körper verkrampfte sich. Neves wandte sich an Eno: „Was sollen wir mit ihm machen? Mitnehmen können wir ihn nicht, und wenn wir ihn hierlassen, wird uns der nächste Haufen Halsabschneider oder Schlimmeres verfolgen.“ Eno überlegte angestrengt, fand aber keine Lösung. Voll Entsetzen sah er, wie Neves sein Schwert zog. Mit schriller Stimme rief Eno: „Nein. Lass ihn! Für heute ist genug Blut geflossen. Er ist verletzt und wird uns sicher nicht verraten. Das stimmt doch oder?“ Er wandte sich dem Krieger zu und dieser antwortete erschrocken mit einem schnellen Kopfnicken. In seinen Augen war Todesangst zu sehen, und er begann mit beiden Händen Neves anzuflehen, ihn zu verschonen. Neves säuberte sein blutverschmiertes Schwert mit etwas Gras, steckte es ein und sagte zu Eno gewandt: „Wie du meinst. Es ist dein Leben.“ Eno pumpte Luft in seine Lungen, bis es nicht mehr ging, und wollte etwas erwidern, aber dann atmete er aus seinen fast geschlossenen Lippen betont aus. „Was meinst du damit? Ich bin doch nicht gemeint!“ „Bist du nicht?“, entgegnete Neves und schmunzelte dabei. Seine blauen Augen lachten und dann wurde er urplötzlich ernst. „Geh zum Wagen und schau nach deinem Bruder. Wir fahren weiter, und zwar sofort.“ Eno schluckte die harte Antwort, die auf seiner Zunge lag, herunter und gehorchte. Neves hatte Recht. Sie sollten schnell von hier verschwinden. Zum Glück schlief Walter fest wie ein Murmeltier. Seine Wunde hatte dank des Verbandes aufgehört zu bluten, doch seine unnatürlich weißglänzende Haut verriet den Schwerverwundeten. Eno zog die Decke etwas höher, in die Walter eingewickelt war. Neves saß bereits auf seinem Pferd und Eno setzte sich ebenfalls auf den Kutschbock, schwang die Peitsche und gemeinsam verließen sie den Ort, an dem so viele Männer ihr Leben gelassen hatten. Mehr noch; an dem Eno zum ersten Mal einen Menschen getötet hatte. Ob aus Notwehr oder nicht spielte keine Rolle. Eno war zu einem Mörder geworden und er hasste sich selbst dafür. Aber jetzt war keine Zeit für Selbstmitleid. Es ging um seinen Bruder Walter, und nur das zählte. Als sie ein gutes Stück zurückgelegt hatten, brach Eno das Schweigen, das sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte. „Neves“, begann er: „Was hattest du damit gemeint, als du sagtest, dass ich es bin, nach dem sie suchen? Du glaubst doch nicht etwa, dass ich das gefährliche Findelkind bin? So bärenstark, schwer bewaffnet und breitschultrig wie ich nun mal bin?“ Dabei grinste Eno jetzt ebenfalls, als wenn er einen Witz gerissen hätte, und tatsächlich schmunzelte Neves auch, aber blieb stumm. Das war vielleicht noch schlimmer, als wenn er etwas entgegnet hätte. Eno führte das einseitige Gespräch nicht weiter, und so legten sie bis zum Mittag eine gute Strecke schweigend zurück. Aus diesem Neves wurde er einfach nicht schlau. Plötzlich stöhnte Walter, und Eno drehte sich erschrocken um. Aber sein Bruder schien nur einen Albtraum zu haben, denn er hatte die Augen fest geschlossen. Allerdings bewegten sich seine Augäpfel hektisch unter den geschlossenen Lidern. „Neves, wird er durchkommen?“, fragte Eno ängstlich und hoffte, dass er zumindest diesmal eine Antwort bekam. Neves zog die Zügel an und wartete kurz, bis der Wagen heran war. Dann warf er einen Blick auf Walter und nickte dann bedächtig, trabte an und antwortete: „Wenn wir ihn gleich in die Stadt zu einem Arzt bringen, hat er eine Chance.“ Eno seufzte, doch gleichzeitig dachte er an die Männer in Schwarz, die ein Findelkind suchten. Er war ein Findelkind, wie ihm Vater erst kürzlich mitgeteilt hatte. Natürlich konnte das niemand ahnen, schon gar nicht die Männer oder dieser Neves, der vor ihm ritt. Aber wenn jemand bereits auf dem Hof seiner Eltern war und die Wahrheit kannte? Nein, das glaubte Eno nicht. Seine Familie würde eher sterben als ihn zumindest wissentlich verraten. Mit Schaudern dachte er daran, dass es auch andere Methoden gab, Antworten zu bekommen. Ihn überfiel plötzlich der furchtbare Gedanke, dass die einzigen Menschen, die er wirklich liebte, nicht mehr am Leben sein könnten, wegen ihm. 100 Goldstücke waren ein Vermögen. Mit Gewalt riss er sich aus diesen trüben Gedanken. „Neves“, rief er von seinem Kutschbock, aber nicht zu laut, um Walter nicht zu wecken „Wenn der König einen Jungen von 18 Jahren sucht, ist es dann nicht etwas gefährlich, in die Stadt zu reiten, wo es von Soldaten nur so wimmelt?“ Etwas zögernd setzte er nach: „Nach allem was wir getan haben, werden wir vielleicht bereits verfolgt. Meinst du nicht?“, und dabei zeigte er mit einer vagen Geste zurück, wo die Leichen lagen.

Neves brachte mit einem Ruck sein Pferd zum Stehen. Eno musste ebenfalls hart an den Zügeln ziehen, damit er Neves auf dem schmalen Weg nicht einfach umfuhr. „Wollen wir nun in die Stadt oder nicht, Eno? Deine Entscheidung. Bedenke aber auch, was ich dir gesagt habe. Deinem Bruder geht es nicht gut und er muss dringend zu einem Arzt. Ich begleite dich, wenn du das wünschst. Allerdings können wir auch zu deinen Eltern zurück, aber das dauert länger, und die Gefahr, dass dein Bruder stirbt, ist sehr groß. Ich kenne solche Wunden, damit ist nicht zu spaßen.“ Fragend sah Neves Eno ins Gesicht.

Schon wieder musste er eine Entscheidung treffen. Sollte er in die Stadt oder zurückreiten? Sie hatten, eigentlich musste sich Eno korrigieren, er hatte einen dieser gedungenen Mörder verschont. Wahrscheinlich hatte der sein Versprechen bereits vergessen und erzählte für klingende Münze jedem, der es hören wollte, wer und was sie waren. Die Gefahr, in der Stadt gefasst zu werden, war groß, aber es gab viele junge Männer in seinem Alter, und man konnte ja nicht alle töten. Wenn er aber zu seinen Eltern zurückging, konnte er sie vielleicht warnen, ja nichts über ihr Geheimnis zu erzählen, niemandem. Eno drehte sich wie schon so oft in den letzten Stunden zu Walter um und der Anblick seines sterbenden Bruders gab den Ausschlag. Eno nickte entschlossen: „Gut. Lass uns in Trangall einen Arzt aufsuchen. Aber keine Pausen mehr, und wenn wir Reiter sehen, verstecken wir uns. Einverstanden?” Eno fügte leise hinzu „Danke“, und flüsterte: „für alles.” Neves nickte nur und sah Eno kurz prüfend an, als ob er plötzlich einen ganz anderen in ihm sah. Dann trieben sie ihre Pferde an, Eno auf dem Kutschbock und Neves auf dem Rappen. Sie machten keine Rast und aßen unterwegs. Die Sonne senkte sich und es wurde kühler. Walter wurde wach und hatte schrecklichen Durst. Er glühte jetzt, ein untrügliches Zeichen von hohem Fieber. Eno befestigte die Zügel am Kutschbock, zog die Wagenbremse an und gab Walter einen Schluck aus der Wasserflasche, die ihre Mutter noch gefüllt hatte. Wie lange war das her? Erst zwei Tage, und doch schien es Eno, als läge eine Ewigkeit dazwischen. Walter glitt in einen unruhigen Schlaf. Eno tupfte ihm mit einem feuchten Lappen den Schweiß von der Stirn und benetzte ihm die rauen Lippen. Als Eno die Lampe am Kutschbock entzünden wollte, verbot Neves es ihm: „Kein Licht.“ Eno aber entgegnete trotzig: „Und wie sollen wir den Weg finden? Wir könnten im Graben landen.“ Neves aber drückte seine Schenkel in die Seiten seines schwarzen Hengstes und preschte voraus. Er tat irgendwas mit seinen Händen und es sah fast so aus, als ob er sich über die Haut und seine Kleidung strich. Erstaunt riss Eno seine Augen auf. Seine Gestalt schien jetzt ein hauchzarter Schimmer zu umgeben, ein Licht in der stockfinsteren Nacht, aber schwach, so schwach, dass man es überhaupt nur auf wenige Meter wahrnehmen konnte. „Was ist das, Neves? Du leuchtest ja!“, rief Eno hinter ihm her. Neves ignorierte den Jungen und ritt weiter. Endlich fasste Eno den Entschluss, mit offenen Karten zu spielen. Er musste herausfinden, was dieser Neves war und warum er ihm half. Das ging doch alles nicht mit rechten Dingen zu: „Neves, wer oder was bist du eigentlich und warum hilfst du mir? Wir haben uns noch nie vorher gesehen.“ Neves antwortete, ohne sich auch nur einmal umzudrehen: „Du kennst mich. Denk nach. Es ist gar nicht so lange her.” Eno überlegte, aber er kam einfach nicht darauf. Sollte es jemand sein, den er in seiner Kindheit kennengelernt hatte? Er ging in Gedanken alle nur erdenklichen Verwandten und Bekannten durch, doch keiner ähnelte Neves. Ihn würde er wiedererkennen. Da war er ganz sicher. „Ich habe dich noch nie zuvor gesehen. Ich wüsste es. Also hilf mir!“, entgegnete Eno trotzig. Neves ritt stumm weiter und dann zog er plötzlich seinen Stab aus dem Sattel, hielt ihn mit ausgestrecktem Arm nach hinten und sagte: „Nimm, Eno. Erkennst du ihn?“ Eno nahm neugierig den Stab und drehte ihn in dem schummrigen Licht, das Neves ausstrahlte. Er konnte nichts Auffälliges erkennen. Wie ein Blitz traf ihn die Erkenntnis. Natürlich, er fühlte sich an wie sein Stab, war genauso leicht und hatte etwa die gleiche Länge, nur war er wesentlich heller. Eno drehte sich zum Wagen und betrachtete seinen Stab mit neuen Augen. Warum war ihm das nicht früher aufgefallen? „Was ist mit diesem Stab? Ich hab auch so einen ähnlichen. Er liegt gut in der Hand. Aber sonst ist er ein gewöhnlicher Stab und das hat mir mein Vater gesagt, der ihn mir gegeben hat.“ Neves drehte sich jetzt vollständig zu Eno um, und das vertraute Lächeln umspielte sein in der Dunkelheit schwach leuchtendes Gesicht. Das Licht war kalt wie der Schein des Mondes, aber zumindest erhellte es den Weg und auch Enos Gesicht, das immer noch fragend zu Neves blickte: „Nun, da muss ich wohl deinem Gedächtnis etwas nachhelfen. Vor einigen Jahren hattest du…“ Diesen Satz sollte Eno nicht zu Ende hören, denn mit einem gewaltigen Krach explodierte etwas neben Neves in der Erde. Das Pferd scheute, und obwohl Neves ein geübter Reiter war, konnte er sich nicht im Sattel halten. Der grelle Blitz, der mit dem Donner kam, blendete Eno. Reflexartig warf er Neves‘ Stab, den er immer noch in den Händen hielt auf den Wagen, griff nach den Zügeln, riss mit aller Kraft daran und galoppierte in die Dunkelheit. Vielleicht war das seine Rettung, denn gleich darauf krachte es erneut an gerade der Stelle, an der sein Fuhrwerk eben noch gestanden hatte. Eno begriff endlich, dass sie angegriffen wurden und diesmal nicht von Männern mit Schwertern, Pfeil und Bogen, sondern von etwas Unheimlichem, welches mit Blitz und Donner um sich warf. Dann tauchte eine weitere Explosion alles in grausame Helligkeit und gleich darauf noch eine. Das Pferd galoppierte vor Angst mit fast schon unheimlicher Geschwindigkeit und zog den schweren Wagen über die holprige Straße. Die Räder rumpelten, und es war abzusehen, wann Eno sich mitsamt Walter, der Ladung und dem Wagen überschlagen würde. Durch die andauernden Blitze geblendet und taub vom Donner hieb Eno von Angst getrieben wie ein verrückter auf den Gaul ein. Er riss die Zügel mal nach links und wieder nach rechts. Der Wagen machte einen Satz nach dem anderen und Eno wurde fast vom Kutschbock geschleudert. Im ersten Moment blieb die Angst aus. Doch sie würde später wie eine Schlange kommen, in seine Gedärme kriechen, den Hals zudrücken, sich schließlich in seinen Kopf einnisten und die übrig gebliebenen klaren Gedanken im Keim ersticken. Noch war es nicht so weit. Noch floh er und der Wagen hielt. Es war fast ein Wunder, und Enos Glückssträhne schien zu halten, denn mit einmal sah er die Gestalt Neves‘ neben sich mit erschreckender Schnelligkeit rennen. Sein Pferd schien er verloren zu haben. „Schnell Junge, gib mir …“, rief er. Der Rest ging im Tosen eines weiteren Donnerschlages unter, und der Blitz zerriss die Dunkelheit und tauchte alles in unbarmherziges grelles Licht. Fast gleichzeitig raste eine Druckwelle heran und ließ den Wagen mitten im rasenden Lauf umstürzen. Sein Bruder, das Getreide, und alles andere verschwanden in der Dunkelheit. Eno aber fühlte sich wie von einer Faust getroffen und flog davon. Er landete auf einer völlig durchnässten Wiese am Straßenrand, überschlug sich gleich mehrfach und blieb schwer atmend liegen. Gebrochen hatte er sich nichts, zumindest vermutete er das, denn er konnte seine Gliedmaßen bewegen, ohne gleich vor Schmerz aufschreien zu müssen. Im Licht einer weiteren Explosion glaubte er, den umgestürzten Wagen und die Sachen, die auf ihm gelegen hatten, nicht weit von ihm zu erkennen. Eno erlebte alles wie in einem Traum, als ob er gar nicht real hier war und sich selbst dabei beobachtete, wie er ungläubig in dieser fremden, von Donner und Blitz erfüllten Welt agierte. Wie aus dem Nichts tauchte Neves auf, wischte sich hastig mit irgendetwas über Gesicht, Arme und Hände und voll Erstaunen beobachtete Eno wie das schwache Licht auf seiner Haut verblasste. Dann wiederholte Neves seine vor einigen Minuten gestellte Frage, nun in einem gehetzten drängenden Ton; „Wo ist mein Anschuk? Schnell Eno, mein Stab!“ Eno wusste nicht, was ein Anschuk war, aber wenn er die Stäbe meinte, die auf dem Wagen gelegen hatten, dann lagen sie nicht weit von hier. Eno fühlte sich schwach und erst jetzt spürte er das warme Blut, das ihm die Sicht nahm und aus einer Wunde am Kopf zu kommen schien. Er blinzelte, als wieder ein Blitz in ihrer unmittelbaren Nähe einschlug, aber den darauffolgenden Donner spürte er nicht. Apathisch zeigte er über seine Schulter zu dem umgestürzten Wagen und Neves sprang in die angegebene Richtung und wurde eins mit der Dunkelheit. Nur wenige Sekunden später krachte es an der Stelle, an der Neves sich jetzt befinden musste, und eine Kugel aus purem Licht, gefolgt von einem Donner sprang in die Nacht hinaus. Dann folgte gleich noch eine und dann noch eine. Eno lag noch immer am Boden und sah teilnahmslos zu, wie Neves anscheinend Lichtkugeln abfeuerte. Jedes Mal wenn er das tat, rissen die Blitze seine Konturen aus der Nacht und Eno sah Neves in diesen kurzen Momenten überdeutlich. Eno hatte den Eindruck, Neves benutze diesen langen Stab zum Schießen, denn er hielt ihn in Richtung der Angreifer und tatsächlich kamen die Blitze aus der Stabspitze. Staunend beobachtete er das Geschehen wie aus weiter Ferne, wie ein Theaterstück, dass irgendjemand ganz speziell für ihn veranstaltete. Neves warf sich in Deckung, schoss, rollte blitzschnell herum und schoss wieder. Dann aber, wie aus weiter Ferne, sah er, wie Neves versuchte, mit ihm in Kontakt zu kommen. Aus den Gebärden entnahm er, gefälligst in Deckung zu gehen. Das tat Eno dann auch, indem er sich einfach rechts in den Straßengraben rollte. Dann suchte er vorsichtig Neves, aber entweder hatte der sich gerade in Luft aufgelöst und war wie durch Zauberei am gegenüberliegenden Waldrand erschienen, oder jemand anderes feuerte dort diese grellen Blitze in die Nacht. Nach einer Weile wurde es ruhig. Nur noch vereinzelt hörte Eno aus der Ferne das furchtbare Donnern. Ganz allmählich realisierte er, was geschehen war. Schreckliche Schmerzen explodierten in seinem Kopf und Eno presste sich wie gelähmt in das kühle Rinnsal, das sich vom letzten Regen im Straßengraben gesammelt hatte. Die Sorge um Walter ließ die Schmerzen nur größer werden. Er musste ebenfalls vom Wagen gefallen sein und war vielleicht schon tot. Eno wollte aufspringen, aber Neves nahm ihm die Entscheidung ab. Er stand wie aus dem Nichts erschienen einfach vor ihm und hatte zu Enos großer Freude seinen Bruder über der Schulter. In der anderen Hand hielt er jetzt beide Stäbe und auch sein Bündel, was er vom Vater mitbekommen hatte. Als Neves Walter vorsichtig auf den Boden gelegt hatte, bedeutete er Eno still zu sein. Dann setzte er sich neben ihn in den Straßengraben und legte alles neben sich. „Das war knapp. Sie hätten uns beinahe erwischt“, flüsterte er mit wachsamem Blick in die Dunkelheit, in die sich seine Augen festgesaugt hatten.

Enos Schmerzen drohten seinen Kopf zu zersprengen, und dazu kamen noch andere, resultierend aus kleinen und größeren Prellungen, die er beim Sturz abbekommen hatte. Mechanisch wischte er sich das Blut aus den Augen, das unaufhörlich von seinem Kopf rann. Alles war so schrecklich schnell gegangen, diese Blitze und die Detonationen, der harte Aufprall, sein verletzter Bruder, der nun halb tot vor ihm lag, einfach alles. Es war zum Verzweifeln. „Du hättest mir ruhig etwas helfen können, Kleiner“, flüsterte Neves und dabei starrte er immer noch bewegungslos in die Dunkelheit. Was sollte das jetzt, fragte sich Eno. Er musste sich anstrengen, die Worte überhaupt zu begreifen. Er lag halb tot im Straßengraben und jetzt bekam er auch noch Vorwürfe, nicht mitgekämpft zu haben? Eno entschied einfach, gar nichts darauf zu erwidern. Allerdings musterte er neugierig seinen Stab im schwachen Licht des Mondes. Was hatte Neves vorhin gesagt? Er solle ihm seinen Anschuk geben? War der Stab damit gemeint? Er konnte nichts Außergewöhnliches an dem Stück blank poliertem Holz erkennen. Auch darüber musste er mit Neves reden und über einige andere Dinge, zum Beispiel, wie man sich so schnell bewegt und in der Dunkelheit leuchtet. Aber nicht jetzt und nicht hier. Schuldbewusst sah er erleichtert zu, wie Neves seinen Bruder fachgerecht untersuchte. Er wollte helfen, aber irgendwie kam er sich vollkommen nutzlos vor. Er wusste nicht, wie er seinen Bruder verarzten sollte, oder wie man aus dem lächerlichen Stab Leuchtkugeln abschießen konnte. So, wie er apathisch im Straßendreck lag und einfach nichts tat, war er einfach nur erbärmlich. Zumindest fühlte er sich so. Endlich fragte er kleinlaut: „Wie geht es Walter?“ Neves antwortete: „Den Umständen entsprechend. Ich denke nicht, dass er sich etwas gebrochen hat. Aber wir müssen vorsichtig sein.“ Eno nickte beruhigt und fragte leise: „Wer verfolgt uns? Hast du sie gesehen?“ Neves antwortete nicht gleich sondern starrte konzentriert in die undurchdringliche Finsternis. Im schalen Mondlicht sah alles irgendwie unwirklich aus. Vielleicht war es das ja auch, und Eno befand sich in einem Traum, aus dem er bald schon erwachen würde. Allerdings dauerte dieser Albtraum schon viel zu lange. Dann flüsterte Neves: „Es waren Fengos mit Anschuks bewaffnet. Sie machen also auch Jagd auf dich. Langsam wird es wirklich ernst.“ Eno erschrak, und mit der Angst, die sein Herz umklammerte, sprudelten seine Fragen mit Macht aus ihm heraus: „Wieso jagen mich alle? Und überhaupt, wer sind diese Fengos, und wieso kann dein Stab Blitze verschießen? Wieso leuchtest du? Bist du ein Zauberer?“ Dann schien er keine Luft mehr zu haben. „Komm her, Eno!“, flüsterte Neves, und es waren diese leisen Worte, die Eno Zuversicht gaben, ihn veranlassten, aufzustehen, seine Schmerzen zu vergessen und die Angst abzuschütteln wie ein zu schwer gewordener Mantel. Als Eno sich erhoben hatte und aus dem Straßengraben gestiegen war, legte Neves seine Arme auf Enos Schultern, blickte ihn ernst an und sagte mit einer Eindringlichkeit in der Stimme, die Eno nie vergessen sollte: „Du bist Eno und du bist nicht allein. Wir sind bei dir. Immer. Vergiss das niemals!“ Eno starrte wie gebannt auf die scheinbar von innen heraus leuchtenden uralten blauen Augen, die ihn so warm und verstehend ansahen. Was sollte das nun wieder bedeuten? Neves sprach in Rätseln. Seine Mundwinkel umspielte jetzt wieder ein schelmisches Lächeln und dann sagte er streng: „Ich erkläre dir alles später. Lass uns erst in Sicherheit sein. Ich weiß nicht, ob ich sie alle erwischt habe, und ob die Überlebenden wirklich weitergezogen sind. Also komm, hilf mir mit deinem Bruder und dann verstecken wir uns irgendwo. Das Pferdegespann können wir abschreiben.“ Auch jetzt wollte Eno nachhaken, wer denn eigentlich hinter ihnen her war, wer oder besser was denn Fengos eigentlich waren und was diese Lichtblitze zu bedeuten hatten, aber Neves kniete sich neben Walter. Er hob ihn sich vorsichtig auf die Schulter und bedeutete Eno, die Stäbe und die anderen Sachen mitzunehmen. Seufzend tat Eno, was man ihm aufgetragen hatte und stolperte hinter Neves her in die Sicherheit des Waldes. Auf dem Weg stellte er erstaunt fest, dass die gröbsten Schmerzen bereits nachgelassen hatten. Auch die Wunde am Kopf musste sich bereits geschlossen haben, denn das Bluten hatte aufgehört. Seine Mutter hatte Recht, er war tatsächlich mit einer strotzenden Gesundheit gesegnet. Aber was nützte das gegen Feinde, die mit Blitz und Donner auf ihn losgingen, und vor denen sogar dieser unheimliche Neves wenn nicht Angst so doch zumindest Respekt hatte? Eno fühlte sich überfordert und entschied für sich, dass es mit der Fragerei genug sein sollte. Er wollte einfach nur noch nach Hause. Aber er konnte Walter nicht im Stich lassen. Beim Anblick seines schwer verletzten großen Bruders, der vor ihm auf Neves‘ Rücken bei jedem Schritt hin und her baumelte, übermannte ihn Hilflosigkeit und lähmte ihn, sodass er nur noch apathisch hinter Neves herschleichen konnte. In diesem Moment begriff er, dass Erwachsensein nicht gleichbedeutend war mit Peitsche knallen und Wagen lenken und etwas verlangte, dass er noch nie hatte übernehmen müssen, nämlich Verantwortung.

Eno - Die Macht der Naniten

Подняться наверх