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2.Die Enthüllung

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Es war ein verregneter und kalter Frühlingstag im April und Eno arbeitete mit seinen zwei Brüdern auf dem Feld, obwohl die Sonne schon tief am Horizont stand. Sie ernteten Wintergerste, die am anderen Tag auf den Weg nach Mauritz gebracht werden sollte, um sie dort auf dem Markt zu verkaufen. Die Familie hatte das Geld bitter nötig, denn der Winter war kalt gewesen, Mutter krank und der Arzt hatte sie alle Ersparnisse gekostet. Sie fristeten ein karges Dasein. Heute Abend allerdings war etwas anders als sonst. Eno, ein braun gebrannter, aber für sein Alter zu klein geratener und eher zierlicher Bursche, war voll Freude und sang sogar, was er ziemlich selten tat. Kein Wunder, denn er hatte morgen seinen achtzehnten Geburtstag und seine Eltern hatten ihm mit vielsagender Miene eine Überraschung angekündigt. Karl, sein jüngerer Bruder, brummelte verstimmt „Du singst wie die Krähen am Morgen“, doch Walter, sein älterer Bruder, hob den Kopf, drehte sich zu Karl um und rief laut, dass alle es hören konnten „Lass ihm doch seinen Spaß. Schließlich wird man nicht jeden Tag achtzehn Jahre alt.“ In Karls Augen trat ein gefährliches Funkeln, welches aber so schnell wieder verschwand, wie es gekommen war. Karl war erst sechzehn und viel kräftiger und größer als Eno. Eno blickte zu Walter und bedankte sich mit einem schnellen Kopfnicken. Dann trällerte er weiter vor sich hin, allerdings nun deutlich leiser, während er die letzten Getreidegarben auf den Wagen warf. „Ich denke“, schlug Eno vor, „wir sollten uns jetzt auf den Heimweg machen. Es ist schon spät und Mutter wartet sicher mit dem Essen.“ Die anderen stimmten ihm nickend zu und hatten es plötzlich sehr eilig, den hoch beladenen Wagen zum Abmarsch vorzubereiten. Die drei Brüder zogen das schwere Gefährt über den vom Regen weich gewordenen Pfad, der zum Dorf führte.

Obwohl es in Strömen regnete, wartete die Mutter am Eingang des Hauses, und schon von weitem winkte sie ihren Söhnen zu. Die drei Brüder winkten zurück und beschleunigten ihre Schritte noch. Völlig durchgeweicht kamen sie im Hof an und schoben den Wagen in die Scheune. Dann wollten sie ins Haus gehen, doch Mutter zeigte nur stumm auf die Tränke, in der sie sich zuerst waschen mussten. Müde, hungrig und lustlos wuschen sich alle gleichzeitig in der Tränke und es war nicht klar, wer nun die Reinigung übernahm, der Regen oder das abgestandene Wasser der Tränke. Als sie sich umgezogen hatten und sich halbwegs sauber und vor allem trocken fühlten, setzten sie sich an den gedeckten Tisch. Viel war allerdings nicht darauf zu sehen. Ein harter Laib Brot, ein Krug Wasser und etwas Suppe, die wohl zum wer weiß wievielten Mal aufgewärmt worden war. Aber alle waren es so gewohnt und fingen an nach dem Tischgebet zu essen. Vater blieb schweigsam wie immer. Er hatte graues Haar und war mit seinen 65 Jahren immer noch eine stattliche Erscheinung. Mutter hatte blasse graue Augen und trug ihre Schürze wie ein Abendkleid. Als alle gegessen hatten, wollten die drei Brüder aufstehen, doch Vater streckte plötzlich eine Hand aus und räusperte sich. Wie auf Kommando setzten sich die ungleichen Brüder wieder und blickten erwartungsvoll auf. Ihr Vater knetete die rauen mit Schwielen übersäten Hände und es sah aus, als würde er sie gleich auspressen wie reife Zitronen. Dann hob er den Blick und sprach mit fester Stimme, jedes Wort betonend: „Kinder, es ist an der Zeit, dass ich euch eine Geschichte erzähle. Ihr seid jetzt alt genug und -“. Er hielt inne, da Mutter ihm einen verzweifelten Blick zuwarf. Ihre Blicke kreuzten sich und ein stummer Kampf schien zwischen den Eltern zu toben. Schließlich nickte die Mutter ergeben, presste die Lippen aufeinander und starrte auf den Tisch, so als hätte sie gerade den letzten liegengebliebenen Brotkrumen entdeckt. Seine Söhne fest anschauend, sprach der Vater weiter, und seine Stimme zitterte jetzt leicht. „Ihr habt es verdient, die Wahrheit zu kennen. Mein Vater hat mir diese Geschichte erzählt und dieser hat es von seinem Vater erzählt bekommen und so fort. Niemand weiß genau, wann sich alles zugetragen hat, aber das ist auch nicht wichtig.“ Die drei Brüder vergaßen völlig, dass sie gerade aufstehen wollten, und da Vater nie viel zu sagen pflegte, musste es etwas sehr Wichtiges sein. Gebannt lauschten sie auf seine Worte und atmeten flach, um ihn ja nicht zu stören. Der ständige Regen musste aufgehört haben und man konnte von draußen die Hühner leise scharren hören, so still war es im Zimmer. „In einer klaren Sternennacht“, fuhr der Vater endlich fort, „fiel einst meinem Ur-Ur-Großvater, Jan hieß er, glaube ich, ein Licht am Himmel auf. Es strahlte hell, viel zu hell für einen Stern und bewegte sich schnell über das Firmament. Erstaunt darüber, was dies sein könnte, blieb mein Vorfahre stehen und beobachtete die Erscheinung. Das Licht schien auf ihn zuzukommen, und es wurde von Sekunde zu Sekunde heller. Als es fast herangekommen war, hielt es mein Vorfahre nicht mehr aus. Angst kroch in seine Seele, kreatürliche nackte Angst vor dem Unbekannten, die seine Füße von allein antrieben wegzurennen. Doch er zwang sich, irgendwie stehen zu bleiben. Er schloss die Augen, um nicht geblendet zu werden, und hielt gleich darauf seine Hände fest vor das Gesicht, als er ein fast schon schmerzhaftes Gleißen auf seiner Haut spürte. Es schien seinen ganzen Körper zu durchdringen, und für einen kurzen Moment fühlte er sich nackt und bloß. Dann war es vorbei und das Licht war erloschen. Finsternis umhüllte ihn wie eine schwarze Decke, und obwohl er die Augen weit aufriss, konnte er nichts erkennen. Was war das? Ist es weg? Er horchte, doch außer dem kalten Wind, der an seinen Haaren zauste und ihn frösteln ließ, war es still. Doch dann hörte er plötzlich eine tiefe, unnatürlich laute und emotionslose Stimme. Sie schnitt durch die Stille wie ein scharfes Schwert und ließ alles andere unwichtig erscheinen. „Höre Jan. Wir kommen von weither. Hab keine Furcht. Wir haben dich beobachtet und haben deine Sippe ausgewählt. Eines Tages wird ein Kind auf deinen Feldern gefunden werden, und ihr sollt es aufnehmen und Eno nennen. Beschützt es gut, denn es ist eure einzige Hoffnung. Es wird -“. In diesem Moment zuckte ein greller Blitz durch die Nacht, gefolgt von einem Donner, dessen Stärke mit nichts vergleichbar war, was Jan je gehört hatte. Eine Titanfaust umklammerte ihn und fegte ihn etliche Meter weit in einen Graben. Der Boden zitterte wie bei einem Erdbeben, und dann war es vorbei. Er lag in dem Graben am Rand seines eignen Feldes und atmete heftig. Seine Augen waren geschlossen und er glaubte zu träumen. Vorsichtig lauschte er in sich hinein und vergewisserte sich, dass er außer einigen Prellungen heil geblieben war. Irgendetwas schien ihn beschützt zu haben, denn für kurze Zeit war da eine Kraft gewesen, die ihn spielend hätte zerquetschen können. Doch fast gleichzeitig hatte er eine andere, entgegengesetzte Kraft gespürt, die ihn einhüllte wie in Watte, und trotzdem war er viele Meter durch die Luft geschleudert worden. Er blieb noch ein paar Minuten liegen, froh, noch am Leben zu sein, und da es um ihn still blieb, stand er schließlich mit einem Ächzen auf. Suchend blickte er sich im Dunkeln um, sah zum Himmel empor, und da er nichts entdecken konnte außer den blinkenden Sternen, ging er schließlich zum Haus zurück. Erstaunt stellte er fest, dass niemand wach geworden war und sogar die Hunde fest schliefen. Hatte er das alles vielleicht nur geträumt? Er ging ins Haus und im Licht der brennenden Öllampe konnte er seine dreckigen Kleider sehen, die aufgeschrammten Knie und etwas Blut, das von seiner Stirn tropfte. Es konnte also wahrlich kein Traum gewesen sein. Jan wusch sich, zog saubere Kleidung an und ging dann ins Bett. Er lag noch sehr lange wach und grübelte über die Worte nach, die er auf dem Feld gehört hatte. Dann schlief er schließlich ein. Die Sonne weckte ihn und es schien ein Sommertag zu werden wie jeder andere. Er behielt alles für sich, um seine Familie nicht zu beunruhigen und ging nach dem Frühstück wie gewohnt hinaus aufs Feld zur Arbeit. Doch dann sah er sie, die Spur der Vernichtung. Eine kreisrunde verbrannte Fläche, tief in den Boden gestanzt, die eigentlich nur bestätigte, was gestern Nacht passiert war, und was Jan bereits erfolgreich aus seinem Gedächtnis verdrängt hatte. Ängstlich schaute er in das metergroße Loch und konnte tief unten sogar etwas Grundwasser erblicken, welches sich über Nacht gesammelt hatte. Dann rannte er zurück, so schnell seine Beine es ihm erlaubten und erzählte alles hektisch seiner Frau. Die glaubte ihm nicht, und erst als sie beide auf das Feld hinausgegangen waren, wurden ihre Augen groß. Nach kurzer Beratung waren sie sich einig geworden. Sie schaufelten das Loch gemeinsam zu und nichts erinnerte mehr an die schreckliche Nacht. Da man ihnen im Dorf sowieso nicht glauben würde und sie kein Aufsehen erregen wollten, beschlossen sie, über alles den Mantel des Schweigens zu legen. Aber was sie gesehen und was Jan gehört hatte, das konnten sie nicht vergessen, ja irgendetwas sagte ihnen, dass sie es nicht vergessen durften. Über die Jahre hinweg entstand eine Legende, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde, aber an die niemand mehr so recht glauben wollte. Bis -“ Der Vater trank hastig aus einem Krug einige Schlucke Wasser und es schien so, als sammelte er Kraft, um fortzufahren. Seine Hände, die er die ganze Zeit über gefaltet hatte, umklammerten nun den Tisch. Obwohl Vater stark war, sah es so aus, als ob er sich am Tisch festhalten musste, um nicht umzufallen. In Mutters starren Augen, die immer noch eine imaginäre Brotkrume anstarrten, schlich sich eine Träne, die langsam ihre Wangen herunterlief. Die Stille im Zimmer war noch tiefer geworden und sogar die Hühner mussten ihr unablässiges Scharren für diesen einen Moment aufgegeben haben. Eno, der sich am schnellsten fasste und voller Wissbegierde gerade eine oder gleich zwei Fragen auf einmal stellen wollte, hielt inne, als Vater langsam eine Hand hob, seinen Kopf senkte und sich räusperte. Diesen Augenblick sollte Eno niemals vergessen. Vater schaute auf und sah Eno direkt in die Augen. Die Mutter riss sich endlich von der imaginären Brotkrume auf dem Tisch los und blickte mit feuchten Augen und einem um Verzeihung heischenden Blick ebenfalls zu ihrem Sohn. Eno fühlte sich unbehaglich und rutschte auf dem Stuhl nach hinten. Irgendetwas war nicht richtig. Er konnte es spüren. Seine Brüder drehten sich ihm zu allem Überfluss ebenfalls zu, als wenn er plötzlich ein großes Mal auf der Stirn hätte. Vaters Blick wurde weich und mit gepresster Stimme flüsterte er „Du, Eno, warst das Kind, das deine Mutter und ich vor achtzehn Jahren in der Nacht auf dem Feld schreien hörten, wie es von meinen Vorfahren einst prophezeit wurde.“

Eno spürte einen dicken Kloß im Hals und alles erschien ihm plötzlich unwirklich. Die Brüder starrten ihn erstaunt an, vielleicht zum ersten Mal richtig, denn sie musterten unwillkürlich Enos blonde Haare, die blauen Augen und die kleine, fast zierliche Gestalt. Walter und Karl hatten beide dichtes schwarzes Haar und braune Augen wie ihre Mutter. Die Unterschiede waren eigentlich nicht zu übersehen, doch erst jetzt begriffen sie, dass Eno nicht ihr leiblicher Bruder war. Nach all der Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, unvorstellbar. Mutter stand wortlos auf und stellte sich hinter Eno. Sie schlang zärtlich ihre Arme um ihn, zog ihn an ihre Brust und küsste ihn auf den Kopf. Dann hauchte sie mit erstickter Stimme: „Eno, du bist unser Sohn und wir haben dich alle sehr lieb. Du gehörst zu uns, und das soll auch immer so bleiben. Vater und ich haben aber beschlossen, dass du die Wahrheit kennen sollst.“ Sie löste sich fast widerwillig von Eno, trat zurück und setzte sich wieder an den Tisch. Niemand sagte etwas. Die Brüder waren einfach zu verblüfft und schauten hilfesuchend ihren Vater an, darauf wartend, dass dieser böse Scherz schnell ein Ende finden würde. Eno aber vergaß für eine Weile zu atmen und tat es dann umso öfter, sodass man ihn angestrengt keuchen hörte. Endlich war es Vater, der das Schweigen durchschnitt wie ein scharfes Schwert. Er sprach einfach das Dankgebet, als ob alles wie früher wäre, und wie immer fassten sich alle mechanisch an den Händen, froh irgendetwas zu tun. Aber es war nicht wie immer. Schon gar nicht für Eno. Enos Gedanken wirbelten wild durcheinander wie trockenes Laub, und obwohl er überrascht sein sollte, war er es nicht. Tief im Innern schien er es immer geahnt zu haben. Doch sobald er versuchte, den Gedanken an seine Vergangenheit festzuhalten, entglitt er ihm wieder wie ein glitschiger Fisch, den man mit den Händen aus dem Wasser ziehen wollte. Als Vater geendet hatte, hielt Eno immer noch die Hände seiner Brüder, und da niemand zuerst loslassen wollte, blieben alle sitzen und blickten Eno abwartend an. Endlich bemerkte Eno die Blicke und ließ die Hände erschrocken los, als wenn sie plötzlich zu heiß geworden wären. Er stand fluchtartig auf, brummelte etwas von wegen alleine sein und rannte aus dem Haus. Die Mutter und seine Brüder wollten ihm nachgehen, aber Vater hielt sie mit einer entschiedenen Handbewegung zurück.

Eno spürte den einsetzenden Regen nicht, der unablässig auf ihn nieder trommelte und noch um einiges stärker geworden war. Er merkte auch nicht, wohin er ging, bis er sich auf dem Feld wiederfand, von dem Vater erzählt hatte. Etwas in seinem Inneren wusste plötzlich, dass es hier gewesen war, wo seine Eltern ihn gefunden hatten. Einem Instinkt folgend richtete er seinen Blick zum Himmel. Der Regen hatte aufgehört und obwohl am Nachthimmel dunkle Wolken hingen, war wie durch ein Wunder ein kleines Stück Sternenhimmel zu sehen. Nicht viel, aber es schien ihm, als wenn ein Licht dort oben heller leuchtete als alle Sterne, die er je gesehen hatte. Sicher waren es nur seine überreizten Nerven, die ihm etwas vorgaukelten. Spät nachts lief er frierend, müde und völlig durchnässt nach Hause. Seine Brüder schliefen schon, doch seine Eltern hatten noch auf ihn gewartet. Sie umarmten ihn so, als ob er eben erst von einer langen Reise zurückgekommen wäre. Mutter hatte eine warme Decke gebracht und Vater schürte das Feuer im Kamin, das mittlerweile völlig heruntergebrannt war. Dann sagte der Vater sanft und in seinen Augen leuchtete es: „Ich wollte dir eigentlich die Sachen morgen geben, aber vielleicht ist gerade jetzt der beste Augenblick dafür. Er bückte sich und verschwand durch die niedrige Seitentür in die Scheune, die direkt neben dem Haus lag. Eno konnte ihn in der alten großen Truhe kramen hören, die immer abgeschlossen war. Als er nach kurzer Zeit zurückkam, hatte er einen Stab aus Holz dabei. In der anderen Hand hielt er ein Tuch. Es konnte aber auch eine alte Windel sein, dachte Eno bei sich. Er reichte Eno den Stab und das Tuch mit den Worten: „Das haben wir bei dir in der Nacht vor achtzehn Jahren gefunden, als wir dich fanden.“ Dann fasste er unter sein Gewand und holte eine filigran gearbeitete Metallkette heraus. Sie bestand aus vielen kleinen Ringen und hatte eine mattgraue Farbe, die an minderwertiges Eisen erinnerte. Die Kette besaß keinen Verschluss und man musste sie über den Kopf streifen. Vaters Stimme schien für Eno wie aus weiter Ferne zu kommen: „Diese Kette war um deinen Körper gewickelt. Ich habe versucht herauszufinden, ob es sich bei diesen Dingen um etwas Besonderes handelte. Der Stab und das Tuch sind nichts wert und für die Kette bekommt man höchstens einen Kupferling beim Händler in der Stadt. Es wurde mir versichert, dass es um eine simple wertlose Eisenkette handelt, die niemand je tragen würde, so hässlich ist sie. Es tut mir leid, aber das ist alles, was deine wahren Eltern dir mitgegeben haben. Wir wissen nicht, warum du bei uns bist, aber wir wissen, dass du zu uns gehörst, für immer.“ Mit diesen Worten legte er Eno die Kette um den Hals. Sie fühlte sich erstaunlich leicht an, und man spürte sie kaum beim Tragen. Dann nahm Eno den etwa anderthalb Meter langen Stab aus dunklem poliertem Holz. Er war glatt und makellos, keine Einkerbung, kein noch so kleines Astloch war auf dem fast schwarzen Holz zu sehen. Obwohl der Stab schwer aussah, war er unnatürlich leicht und lag gut in der Hand. Zuletzt nahm Eno das Tuch. Es war ein festes grobes Leinentuch, das bei näherem Betrachten wie eine Windel aussah und wahrscheinlich auch eine war. Ausgebreitet war das Tuch erstaunlich groß und man konnte sich darin einwickeln, wenn man denn wollte. Eno wollte nicht. Er bedankte sich bei seinen Eltern für die Aufbewahrung der Sachen, nahm fast behutsam seine neuen Besitztümer und verschwand in seinem Zimmer. Er wollte alleine sein und seine Eltern verstanden das. Eno legte sich in sein Bett und glitt erst nach geraumer Zeit in einen unruhigen Schlaf. Er träumte von dunklen Ungeheuern, die ihn verfolgten, und wie er weit weg von zu Hause in einem fernen Land weilte und Dinge sah, die kein Mensch zuvor gesehen hatte. Plötzlich wurde er von einem finsteren Schattenwesen angegriffen. Er rang mit ihm und gerade als seine Sinne zu schwinden drohten, wachte er auf und sah Mutter an seinem Bett knien, in der rechten Hand eine Öllampe haltend. Sie streichelte ihm das Gesicht, lächelte verständnisvoll und schob eine widerspenstige Haarsträhne aus seiner schweißnassen Stirn. „Bist du wach, mein Sohn?“ Eno, der ins Licht der Lampe blinzelte und froh war, dem Albtraum entkommen zu sein, nickte nur. „Ich muss dir noch etwas sagen mein Junge“, flüsterte die Mutter. „Wann warst du das letzte Mal krank?“ Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern fuhr fort „Du weißt es nicht, kannst dich nicht erinnern? Es ist wahr. Du bist immer gesund gewesen, solange ich zurückblicken kann. Nicht einmal einen Schnupfen hattest du wie deine Brüder. Vielleicht war es das, was dir deine Eltern wirklich mitgegeben haben. Eine strotzende Gesundheit, um die dich jeder beneidet. Ich hab gewartet, bis alle schliefen, um dir das zu sagen. Es macht dich zu etwas Besonderem, und das ist in einer Zeit, wo man schnell als Hexer oder Schlimmeres verschrien oder sogar verurteilt werden kann, nicht gut. Behalte es also für dich. Wir lieben dich alle, so wie du bist. Gute Nacht und schlaf schön. Möge Gott dich segnen.“ Sie küsste Eno auf die Stirn und verließ leise das Zimmer. Enos Augen brannten plötzlich und heiße Tränen rannen ihm übers Gesicht. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die nassen Augen und lag noch lange wach in dieser seiner Nacht, die Nacht vor seinem achtzehnten Geburtstag. Nun war etwas anderes daraus geworden und obwohl vieles von dem Gehörten ihn nicht wirklich überrascht hatte, war es doch ein Unterschied, nur zu ahnen oder wirklich zu wissen. Vielleicht war zu viel Kenntnis gar nicht so gut, wie Eno immer geglaubt hatte. Er verdrängte die dunklen Gedanken mit aller Macht, und erst viel später fiel er in einen unruhigen Schlaf. Hätte er zu diesem Zeitpunkt die Wahrheit geahnt, wäre vielleicht alles anders gekommen. Aber Ahnung und Wissen machen oft den Unterschied aus, ob jemand sich aufmacht. Gewissheit zu finden, dabei Risiken eingeht und sich selbst dabei findet oder das Wissen einfach annimmt und letztlich nichts damit anzufangen weiß, und es nichts mehr gibt, wofür der Einsatz lohnt. Eno hatte eine Ahnung in sich, was das alles bedeuten könnte, aber er war weit davon entfernt, sich deshalb aufzumachen, um die Wahrheit zu finden. Aber die Wahrheit sollte ihn finden.

Eno - Die Macht der Naniten

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