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4.Das Werengol

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Nach einem kurzen Stück durch dichtes Gebüsch legten Neves und Eno eine Rast ein. Walter wurde behutsam auf ein Lager aus Moos und weichem Laub gebettet. Er schien immer noch zu schlafen und eigentlich sollte Eno dankbar sein, aber irgendetwas in ihm sagte ihm, dass das gar nicht gut war. Er bückte sich zu Walter und hörte seinen unregelmäßigen rasselnden Atem. Eno kramte seine Wasserflasche heraus, schüttelte sie, seufzte und befeuchtete mit dem kläglichen Rest den trockenen Mund seines Bruders. Mehr konnte er nicht für ihn tun und das schmerzte ihn. Plötzlich sagte Neves in die Stille: „Du hast viele Fragen. Ich verstehe das und ich werde sie alle beantworten, soweit ich es kann. Fangen wir doch damit an. Du hast gesehen, wie ich mir die phosphoreszierende Salbe abgewischt habe. Trägt man sie auf die Haut auf, erzeugt sie ein schwaches Leuchten. Man gewinnt sie aus Kräutern und dem Sekret von Tieren. Allerdings ist es im Moment besser, wenn wir ohne Licht weitergehen. Wir werden sicher verfolgt und wollen doch nicht gleich ‚hier‘ rufen.“ Eno verstand oder versuchte zumindest zu verstehen, denn von einer phosphoreszierenden Salbe hatte er noch nie gehört. „Und bevor du mich nach unseren Verfolgern fragst, da drüben liegt ein Fengo.“ Neves streckte seinen Arm aus und im fahlen Mondschein, der im Laufe der Nacht heller geworden war, sah Eno ein dunkles Etwas am Boden liegen, nicht weit von ihrem Lagerplatz entfernt. Ein schwarzer Umhang lag darüber und verdeckte das meiste und doch ragte da etwas heraus, was einem Fuß zumindest ähnlich sah. Er war dürr und mit gebogenen schwarzen Klauen besetzt. Eno sog die Luft ein, hörte auf zu atmen und er hörte sein Herz wild schlagen. Voll Entsetzen stammelte er: „Ein Fengo? Was ist das? Es sieht aus wie ein Untier.” Neves schmunzelte diesmal nicht und antwortete todernst: „Ein Sucher, mächtig und von einer einmal gefundenen Fährte nicht abzubringen. Er verfolgt seine Opfer bis er entweder getötet wird oder sein Ziel nicht mehr am Leben ist. Komm Eno, lass es uns ansehen und lerne!“ Eno wusste nicht, ob es klug war, einem solch gefährlichen Geschöpf so nahe zu kommen, auch wenn es schon tot war. Aber Neves drängte und endlich ging auch Eno die wenigen Schritte zu der schwarzen, fast vollständig verhüllten Gestalt des Fengos. Mit einem Ruck zog Neves den dunklen Umhang zurück und Eno sah ein Raubtiergebiss, vier Greifarme, in denen ein Stab oder wie Eno nun wusste ein Anschuk lag, und starke Beine mit raubtierartigen Krallen an den Füßen. Die Haut war schwarz und glänzte metallisch. Kleine schwarze Schuppen bedeckten den ganzen Körper. Am schlimmsten aber waren die Augen. Kleine schwarze Pupillen in facettenartigen Halbkugeln, gefüllt mit weißem Gallert, starrten Eno an, als würden sie ihn sogar jetzt noch töten wollen. Ein solches Wesen hatte Eno noch nicht einmal in seinen dunkelsten Albträumen gesehen, und vollkommen erstarrt stand er da. Das Licht des Mondes war mit ihm gnädig und versteckte viele Details. Aber er konnte trotzdem einen sauberen Stich zwischen den Augen erkennen, aus dem eine schwärzliche Flüssigkeit tröpfelte. Eno wand sich vor Ekel ab und stammelte: „Was für ein Monster. Wo kommt so was nur her?“ Er sagte dies eigentlich nur zu sich selbst, aber Neves antwortete: “Es wurde geschickt. Übrigens kann man es mit einer Stichwaffe nur zwischen den Augen töten. Ich habe sie vorhin mit meinem Anschuk abgelenkt, bin dann an sie herangeschlichen und habe sie einen nach dem anderen mit meinem Messer erledigt. Es waren drei.“ Eno schwieg. Er wollte etwas wie ‘Du hättest getötet werden können.‘ ausrufen, aber er wusste, wie lächerlich das klang. Er hatte sich heute schon genug blamiert. Obwohl er immer noch Angst hatte, das Wesen könnte plötzlich aufwachen, bückte sich Eno und griff nach dem Anschuk, das neben dem Ungeheuer lag. „Zeig mir, wie man die Blitze verschießt“, forderte er Neves auf. Neves nahm ihm vorsichtig das Anschuk aus der Hand und mit zwei schnellen Bewegungen drehte und drückte er an Stellen, die Eno nicht richtig sehen konnte. Verblüfft beobachtet er, wie gleißendes blaues Licht aus dem Stab fuhr und binnen eines Augenblicks die Leiche in Asche verwandelte. „Hier nimm deinen eigenen Stab in beide Hände, fühl die leichten Vibrationen und berühre dann diese Stellen.“ Eno fühlte nichts. Er ließ seine Hände über den Stab gleiten und konnte beim besten Willen keine Vibrationen, Erhebungen oder sonstiges feststellen. Neves schmunzelte nachsichtig und sagte auffordernd: “Versuch es noch einmal. Es muss dich erst erkennen. Fühle die Energie. Das Anschuk ist dein Diener. Wenn es dich einmal erkannt hat, ist es dir immer zu Diensten.“ Also legte Eno erneut die Hände auf das Anschuk und versuchte etwas zu fühlen. Energie oder so was in der Art. Während er die Hände über die polierte Oberfläche auf- und abgleiten ließ, schloss er seine Augen und dann endlich fühlte er etwas. Eine leicht vibrierende Stelle und dann noch eine zweite eine Handbreit weiter unten. Er legte die Hände darauf, und mit einem Mal sah er, wie er noch nie zuvor gesehen hatte. Wie durch ein Vergrößerungsglas konnte er weit entfernt liegende Dinge ganz nah sehen. Aber was auch immer es war, da war noch mehr zu sehen; unbekannte Symbole und ein feines Kreuz in der Mitte, und das, obwohl es stock dunkel war. „Konzentrier dich jetzt auf den abgestorbenen Baum dort. Siehst du ihn Eno?“ Er sah den Baum ganz klar vor sich und konzentrierte sich darauf. Gleichzeitig veränderten sich die seltsamen Zeichen und ein Kreuz bewegte sich wie von Geisterhand genau auf den Baumstamm. „Denke einfach, dass der Baum zerstört werden muss.“ Eno gehorchte, und sofort löste sich eine Leuchtkugel und raste mit irrsinniger Geschwindigkeit auf den Baum zu. Es gab einen Blitz und im fast gleichen Moment ein Donnern und der Baumstamm wurde durchschlagen, sodass die blattlose aber gewaltige Baumkrone majestätisch zu Boden sank. Neves sagte: „Hast du die Energie gespürt? Es ist eine mächtige Waffe. Nimm sie nur im allerletzten Augenblick, weil, weil …“

„Sprich weiter Neves“, verlangte Eno neugierig geworden. „Weil man dich dann schneller finden kann.“ „Wer soll mich finden und wer hat die Fengos geschickt?“, setzte er nach. Neves schaute traurig und antwortete „Das weiß ich nicht. Mich hat man nur geschickt, um dich zu beschützten. Ein Findelkind, schutzbedürftig, gejagt von Menschen, Fengos und vielleicht noch Schlimmerem. Jemand will dich tot sehen. Nur das weiß ich. Aber wie ich dir schon gesagt habe; du bist nicht allein. Es gibt andere wie mich und sie sind auf dem Weg.“

„Was bist du, Neves?“, fragte Eno. Neves kam jetzt ganz nah an ihn heran, legte eine Hand schwer auf seine Schulter und antwortete: „Ich glaube, du würdest mich einen Bruder nennen. Wir sind von der gleichen Art, du und ich.“ Eno war nicht überrascht. Irgendwie hatte er es die ganze Zeit über geahnt. Neves und er gehörten zusammen, aber er wusste nicht wieso. Beide konnten sie sich unglaublich schnell bewegen, ein Anschuk bedienen und wahrscheinlich verfügte auch Neves über eine erstaunliche Gesundheit. Laut sagte er nur: „Ich weiß, ich habe es gespürt. Seitdem du mich berührt und mir die Salbe aufgetragen hast, wusste ich es. Nichts ist mehr so wie früher. Ich habe mich verändert. Stimmt das etwa nicht?“, fragte er fast zornig. Neves ließ ihn los und setzte sich auf einen Baumstamm. Gedankenverloren schaute er in den Wald, der nun tiefschwarz vor ihnen lag. Dann sprach er leise: „Vielleicht hast du recht. Nichts ist, wie es einmal war. Aber niemand kennt sein Schicksal, bis es ihn findet.“ Dann sprach er schnell weiter: „Wir sehen nach Walter und müssen dann aufbrechen. Du hast das Anschuk benutzt und sie könnten immer noch nahe sein.“ Eno ging zu Walter, fühlte seine heiße Stirn und bemerkte gleichzeitig die fieberglänzenden Augen. „Es geht ihm schlecht. Er braucht Ruhe, klares Wasser und einen Arzt. Wir können ihn nicht weitertragen und auch nicht hierlassen.“ Neves zog fragend die Stirn in Falten: „Was schlägst du vor?“

Eno wusste es nicht. Er kniete sich neben Walter und sah ihn an. Sein Herz krampfte sich bei seinem Anblick zusammen. Er hatte ihn retten wollen, und dafür lag er nun schwer verletzt vor ihm. Die Lippen waren jetzt vollends aufgesprungen und das Mondlicht ließ seine Haut so blass wie die eines Toten schimmern. Eno erschrak vor seinen eigenen Gedanken. „Neves, hast du noch etwas Wasser?“ Neves zeigte ihm die kaputte Wasserflasche und schüttelte traurig den Kopf. „Ich werde Wasser holen“, sagte Eno mit fester Stimme. Neves wollte ihn zurückhalten und sagte bestimmend: „Wir müssen weiter. Sie sind uns auf der Spur“, aber Eno lief einfach los. Keine zwanzig Schritte weit war er gekommen, da verschluckte ihn die Dunkelheit des Waldes. Er stürzte stolpernd über Wurzeln und stieß gegen herabhängende Zweige. Nach einer Weile blieb er stehen und lauschte. Der einsame Schrei einer Eule, das Knarren der Äste und der Wind, der durch die Zweige fuhr, waren alles, was er vernahm. Kein Wasserplätschern war weit und breit zu hören. Neves hatte Recht. Wie so oft schon. Es war töricht, nachts ins Dickicht zu laufen, auch wenn Walter dringend Wasser brauchte und sie alle durstig waren. Mutlos drehte sich Eno um und begann zurückzulaufen. Er fand das Lager und bemerkte sofort, dass Neves alles zum Aufbruch vorbereitet hatte. In der kurzen Zeit, in der Eno im Wald gewesen war, hatte Neves eine Trage aus herumliegenden Ästen gebaut. Darüber lag eine Decke und auf ihr Walter. Mit keinem Wort ging Neves auf Enos törichten Alleingang ein. „Fass vorn an. Nach einer halben Stunde Fußmarsch müssten wir zu einem Fluss kommen.“ Eno fragte nicht, woher Neves das wissen konnte. Er gehorchte einfach, biss sich auf die Zunge und schwieg. Sie schleppten sich durch die Dunkelheit auf einen Pfad, den nur Neves, der vorauslief, zu kennen schien. Die Trage mit Walter wurde immer schwerer, aber Eno biss die Zähne zusammen und trottete hinter Neves her, der mit weit ausgreifenden Schritten ein ordentliches Tempo anschlug. Völlig erschöpft erreichten sie einen kleinen Fluss und mit Erleichterung setzte Eno die Trage ab. Er lief zum Wasser, tauchte seinen Kopf in das kühle Nass und trank gierig. Dann schöpfte er mit seinen Händen Wasser, brachte es zu Walter und ließ es über seine spröden Lippen laufen. Er holte noch zwei Hände voll und endlich wachte Walter auf und seine Zunge bewegte sich hektisch um auch noch die letzten Tropfen aufzulecken. Schnell zog Eno sein Hemd aus und tauchte es in das kalte Wasser. Nachdem er es mehrmals über Walters Mund ausgewrungen hatte, trocknete er ihm sein Gesicht ab. Das Wasser hatte ihm gutgetan. Walter war wach und schaute ihn dankbar aus fiebernden Augen an. Sprechen konnte er nicht. „Sag nichts, Walter. Du hast Fieber. Wir bringen dich zu einem Arzt.“ Eno drehte Walter vorsichtig auf die Seite, zog die Decke zurück, mit der sie ihn eingewickelt hatten und dann weiteten sich seine Augen vor Schreck. Er schrie: “Neves, was ist das?“ Neves schaute ihm über die Schulter auf Walters Rücken. Mit schnellen präzisen Bewegungen öffnete er den Verband und dann sahen beide, dass die Pfeilwunde tiefschwarz war. Neves Stirn bekam tiefe Falten, als er erkennen musste, dass der gesamte Rücken ebenfalls dunkel war und nässte. “Gift. Schnell, wir müssen schneiden.“ Eno liefen Tränen über die Wangen und mit tonloser Stimme sagte er: „Er wird sterben. Neves, sag es mir. Stirbt Walter?“ Neves antwortete nicht sofort, sondern zog sein großes Messer, betrachtete es so, als ob er ein winziges Partikel auf der scharfen Schneide gefunden hatte und erwiderte dann: „Ich weiß es nicht, Eno. Wir können nur versuchen, deinen Bruder zu retten. Sammle Holz. Wir machen ein Feuer. Schnell.“ Eno rannte los und sammelte so schnell es ging herumliegende Äste und Gestrüpp. Neves hatte bereits mithilfe von trockenem Moos und dürren Zweigen ein kleines Flämmchen entzündet, als Eno zurückkam. Nach einer kurzen Weile brannte ein helles Feuer und Neves hatte sein Messer in die Glut gelegt. Dann wusch er Walter und sagte zu Eno „Steck ihm ein weiches Holz in den Mund, auf das er beißen kann. Es wird höllisch schmerzen. Halte ihn ganz fest, so fest du kannst.“ Dann fragte Neves eine Spur zu heftig „Bist du bereit Eno?“ Eno nickte stumm, presste die Zähne fest aufeinander und spannte seine Muskeln an. In dem Moment schnitt Neves tief mit dem glühenden Messer in die Wunde und eine schwarze, übelriechende Flüssigkeit sickerte daraus hervor. Walter krümmte sich heftig zusammen, bäumte sich mit einem erstickten Schrei auf und blieb dann bewegungslos liegen. Neves schnitt noch einmal, und diesmal lief dunkles Blut aus der Wunde. Walter rührte sich nicht mehr. Neves hob das Messer zu einem dritten Schnitt, als plötzlich ein grelles Licht mit rasender Geschwindigkeit durch die Luft raste und ihm das Messer aus der Hand riss. Eno konnte alles wie in Zeitlupe erkennen. Neves hatte sich so auf den Schnitt konzentriert, dass er den Angriff nicht bemerkt hatte. Buchstäblich vom Blitz getroffen fiel Neves schwer zu Boden und erst jetzt realisierte Eno, in welch furchtbarer Gefahr sie schwebten. Er hechtete sich nach rechts, weg von Neves, und kam auf die Füße. Mit einem schnellen Blick konnte er glühende Augenpaare in der Dunkelheit erkennen. Sie hatten sie umstellt. Mit schrecklicher Gewissheit beobachtete er, wie die Fengos siegessicher ihre Anschuks fast gleichzeitig auf Eno richteten. Gleich war es vorbei. Neves hatte es gewusst. ‚Nichts ist, wie es einmal war.‘, hatte er gesagt. Hier und jetzt war es zu Ende. Alle Anschuks der Fengos waren mittlerweile nur auf ihn gerichtet und er glaubte, die höhnischen Fratzen zu sehen, die ihn anstarrten. Aber natürlich konnte er in der Finsternis nur die dunkel glühenden Facettenaugen erkennen. Einer inneren Eingebung folgend ließ er sich fallen, gerade in dem Moment, als die ersten Blitze an den Spitzen der Anschuks wie von Geisterhand erschienen. Aber die Fengos beachteten seine Bemühung nicht einmal. Wie in Zeitlupe sah Eno die hellen Kugelblitze auf sich zu rasen. Er schloss die Augen und bereitete sich auf den gleißenden Schmerz vor, der sicher nur sehr kurz war. Wenigstens musste er nicht leiden und in diesem Augenblick hatte er keine Angst mehr zu sterben. Dann hüllten ihn Licht und sengende Hitze ein. Aber nichts geschah. Eno blinzelte und sah zu seinem Erstaunen, wie die Kugeln, die eben noch auf ihn zu gerast waren, die Fengos verschlangen. Gleißendes Aufblitzen gepaart mit furchtbaren Donnerschlägen erfüllte die Luft und die Dunkelheit, die danach kam, war so endgültig, dass sie wie ein Riss in eine andere, schwärzere Welt wirkte. Obwohl Eno gesehen hatte, wie Neves getroffen zu Boden ging, fühlte er ihn plötzlich ganz nah an seiner Seite. Neves musste eine eisenharte Statur haben, wenn er sich von solch einem Schlag so schnell erholen konnte, dachte Eno. Neves legte seinen Arm um Eno und drehte ihn in das schale Mondlicht. Seine Augen huschten suchend an seinem Körper entlang und blieben dann an der Kette hängen. „Ein Werengol. Alle Achtung. Wer hat dir denn das gegeben? Es ist sehr selten und es gibt sie in verschiedenen Gestalten. Bei dir sieht es wie eine Metallkette aus. Und bevor du mich wieder mit Fragen löcherst. Ja, es ist ein Beschützer. Es reflektiert Energie und sendet sie an den Ausgangspunkt zurück. Du hast ja gesehen, was mit den Fengos passiert ist. Ich denke, keiner hat überlebt. Deine Glückssträhne scheint aber lange anzuhalten. Falls du vorhattest, dich nach meinem Befinden zu erkundigen, es geht mir gut. Der Blitz hat mich nur gestreift, aber dafür ist das Messer geschmolzen.“ Ungläubig starrte Eno auf den Klumpen silbriges Metall, das da auf dem Boden lag. Dann erst bemerkte er Neves‘ verbrannte Hand. „Es wird heilen, Junge“, sagte Neves nur und dann wie zu sich selbst‚ „es heilt immer.“ In Eno überschlugen sich die Gedanken. Er war vollkommen damit beschäftigt zu begreifen, warum er immer noch am Leben war. Dann erst fiel sein Blick auf Walter oder auf das, was von ihm noch übrig war. Alles in Eno verkrampfte sich. Eine eiserne Faust schloss sich um sein Herz, und seine Kehle schien wie abgeschnürt, sodass er keine Luft mehr bekam. Der Boden unter ihm gab nach, und wie versteinert fiel er neben Walter auf die Knie. Ein Blitz oder die reflektierte Energie, die das verfluchte Werengol abgestrahlt hatte, mussten Walter gestreift haben. Feine Asche bedeckte totes Gewebe und Knochen. Keine Träne floss aus seinen Augen und vielleicht war das das Schlimmste, denn der Schmerz schien Eno innerlich zu zerreißen, aber fand einfach kein Ventil. Walter war nicht nur sein großer Bruder, er war sein Freund, sein Beschützer gewesen. Wie viel Spaß hatten sie zusammen gehabt, damals in jenem anderen Leben, das nun so weit weg zu sein schien. Eno wusste nicht, wie lange er so da kniete. Dann kamen die Tränen. Sie waren wie Sturzbäche und Eno schluchzte hemmungslos. Neves stand hinter ihm und legte seine großen Hände auf Enos Schultern. Die Berührung gab Eno irgendwie Kraft. Er hörte auf zu weinen und ein furchtbarer, alles verschlingender Zorn bohrte sich in seine Gedanken, namenlose Wut, die immer weiter anwuchs und zu einer alles verschlingenden Woge wurde. „Warum, Neves?“, schrie er in die Dunkelheit. „Warum Walter? Er hatte doch nichts damit zu tun!“ Natürlich erhielt er keine Antwort. Aber die Wut gab ihm neue Kraft. Eno stand auf und faste sein Anschuk mit beiden Händen. „Wir werden sie alle vernichten. Du und ich, Neves, wir werden sie alle auslöschen. Ich hasse sie!“ Neves sagte noch immer nichts, legte aber seine Hand auf Enos Anschuk und drückte den Stab sanft nach unten. „Nein, Eno. Wir können sie nicht alle vernichten. Es sind zu viele. Bisher hatten wir Glück, auch wenn Walter getötet wurde. Ich kann dich nicht trösten, aber vielleicht hilft es dir, wenn du weißt, dass Walter mit Sicherheit am Pfeilgift gestorben wäre. Ich habe bei den Messerschnitten gesehen, wie weit das Gift bereits seine inneren Organe angegriffen hat. Er war nicht mehr zu retten gewesen. Vielleicht war es sogar besser so und er musste nicht leiden.“ Diese Worte konnten Eno nicht trösten, und Neves wusste das. Eno stand noch immer mit wütendem Blick da. Die beiden Hände lagen genau an den zwei leicht vibrierenden Stellen auf dem Anschuk, die Neves ihm gezeigt hatte. Dann versteifte er sich plötzlich. In einer fließenden Bewegung schupste Eno den überraschten Neves mit Gewalt von sich weg, riss seinen Stab hoch und richtete ihn in den Wald. Dann blitzte es und ein gleißendes Licht raste in den Wald. Ein Krachen ertönte, dann war es wieder still. Mit gepresster eiskalter Stimme, die Eno selbst unwirklich erschien, sagte er grimmig: „Ich habe einen erwischt. Ein Fengo hat sich zwischen den Bäumen versteckt und uns beobachtet. Das Anschuk hat ihn mir gezeigt. Er war ganz rot zwischen den Bäumen und leicht zu sehen.“

Neves nickte verstehend und antwortete: „Gut gemacht, Junge. Du hast bereits die Infrarotsicht angewendet. Ich war so unvorsichtig zu glauben, dass sie alle tot sind. Wir müssen noch vorsichtiger sein.“

„Infra..was?“, fragte Eno, und Neves antwortete: „Wir und die Fengos verbrauchen Energie und das kann man an der Wärme, die wir abstrahlen, erkennen. Diese Wärmestrahlung wird mit den Anschuks sichtbar und nennt sich Infrarotstrahlung.“ Eno winkte ab: „Egal. Man kann sie töten. Nur das zählt.” Neves nickte nur: “Lass uns von hier verschwinden, aber zuvor begraben wir Walter.” Sie errichteten ein Steingrab auf den Überresten, und nachdem sie beide eine Zeit lang still davorgestanden hatten, begann Eno leise zu beten. Ein Holzkreuz zierte das Grab aus losen aufeinander getürmten Steinen. Ein Spruch war mit einem Messer ungelenk eingeritzt worden ‚Hier liegt Walter, der sein Leben für seinen Bruder gegeben hat. Möge er in Frieden ruhen. In ewiger Liebe und Dankbarkeit – Eno.’ Eno wischte seine Tränen mit dem Ärmel aus seinem nassen Gesicht und stützte sich schwer auf sein Anschuk. Er konnte das Grab einfach nicht verlassen. Seine Füße waren wie Blei. Neves verstand, und so standen sie eine Weile schweigend vor Walters Grab. Es hatte mittlerweile aufgehört zu regnen und die Sonne ging im Osten auf. Ihre Strahlen kitzelten ihre Gesichter und sie sahen auf. Das erste Licht des Tages versprach Hoffnung. Eine Hoffnung, die allerdings durch nichts begründet schien. Enos rasende Wut war abgeklungen und hatte jetzt einer wilden Entschlossenheit Platz gemacht. Er biss die Zähne aufeinander, drehte sich entschlossen um und lief in den grauenden Morgen, als wüsste er, wohin er gehen musste. Neves folgte ihm schweigend.

Eno - Die Macht der Naniten

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