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I. Ursprünge, Geschichte und Wirkung der gegenstandslosen Meditation

Die gegenstandslose, objektfreie oder ungegenständliche Meditation ist, wie der Name zu erkennen gibt, ein Meditieren, bei dem kein Objekt als Meditationsgegenstand dient. Eine Meditation mit der Leere oder Stille, könnte man auch sagen.

Wie weiter unten in der Anleitung beschrieben, findet der Einstieg mithilfe des Beobachtens des eigenen Atems statt. Ich richte meine Aufmerksamkeit auf den Atem, ohne ihn beeinflussen zu wollen. Stelle ich während der Meditation fest, dass mein Fokus nicht beim Atem ist, kehre ich zum Atem zurück.

Ursprünge und Geschichte

Der Ursprung der Atemachtsamkeitsmeditation ist sehr alt. Sie wurde von Buddha gelehrt (vor 2500 Jahren) und ist in der Anapanasati Sutta überliefert worden. Wir finden aber eine Anleitung zu Atemachtsamkeitsmeditation schon in den hinduistischen Upanischaden in der Bhagavad Gita50, deren Ursprung wahrscheinlich älter ist als der des Buddhismus.51 Im europäischen Raum finden wir sie bei den christlichen Mönchen, den Wüstenvätern, zu Beginn unserer Zeitrechnung und dann im Mittelalter bei den christlichen Mystikern. Aus dieser Zeit sind Texte überliefert worden, welche noch heute genauso wie die buddhistischen Texte als Begleitung auf dem Weg der gegenstandslosen Meditation verwendet werden.52 Die Ursprünge reichen daher weit zurück und wir finden sie sowohl in der östlichen als auch in der westlichen Religion.

Entsprechend den Ursprüngen ist auch die frühe Geschichte dieser Übung eng mit religiöser Praxis verbunden. Im Buddhismus, vornehmlich im Zen-Buddhismus, ist sie seit seiner Entstehung in China im 5. Jahrhundert die Grundübung in der Meditationspraxis geblieben. Die Beschreibung dieses ‹inneren Wegs› zu der Erfahrung der spirituellen Dimension ist im Buddhismus und in der christlichen Mystik in ihren Kernaussagen auffallend ähnlich, wenn nicht identisch (siehe Anhang C 4. «Die Spirituelle Dimension», Kapitel «Der spirituelle Weg»).

Interessant ist auch die neuere Geschichte. Beginnend in der 2. Hälfte des letzten Jahrhunderts hat man entdeckt, dass die Atemachtsamkeitsmeditation als Hilfsmittel bei Therapie und Prävention in der Medizin angewendet werden kann. Vor bald 40 Jahren hat Jon Kabat-Zinn ein achtsamkeitsbasiertes Programm für die Behandlung und Prävention von Stressfolgen entwickelt. Das Herzstück dieses Programms ist die Atemachtsamkeits- und objektfreie (gegenstandslose) Meditation. Dieses Programm mit dem Namen MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction) wird heute weltweit breit angewendet.53

Seit Anfang 2000 wird die Atemachtsamkeitsmeditation auch als Hilfsmittel in der achtsamkeitsbasierten kognitiven Psychotherapie angewendet und nimmt hier dank klinischer Studien, welche die Wirkung nachgewiesen haben, einen festen Platz ein.54

Parallel zu dieser Anwendung wird die gegenstandslose Meditation aber weiter als spiritueller Weg praktiziert. Regelmässige Meditationspraxis ist auch die Voraussetzung dafür, dass sich eine Therapeutin oder ein Therapeut in der achtsamkeitsbasierten Psychotherapie ausbilden und sie praktizieren kann.

Die gegenstandslose Meditation kann folglich unabhängig von Religionslehren (und der individuellen Weltanschauung) praktiziert werden55, ist mit ihnen aber durchaus vereinbar, weil sie vor allem im Zen-Buddhismus und in der christlichen Kontemplation eine lange Tradition hat.56

Wirkung

Die regelmässige Praxis der gegenstandslosen Meditation zeigt Wirkung auf verschiedenen Ebenen: auf der psychischen, körperlichen und existenziellen oder spirituellen.

In der Dimension unserer psychischen Funktionen kommt es zu einer grösseren Stabilität und zu einer Änderung der Einstellung uns selbst und der Welt gegenüber. Ein wichtiger Mechanismus, der für die psychischen Veränderungen verantwortlich ist, besteht darin, dass wir dank der regelmässigen Übung unsere Gedanken und Gefühle klarer sehen. Dadurch gewinnen wir eine Distanz, dank der wir besser die Muster sehen, welche unsere Lebenshaltung bestimmen. Diese Muster (auch Schemata genannt) entstehen meist in der frühen Kindheit oder als ‹Anpassung› nach einem Trauma und ziehen sich durch das ganze Leben hindurch. In der achtsamkeitsbasierten Psychotherapie berichten die Klientinnen und Klienten darüber, dass sie durch diese Distanz eine Befreiung erfahren: «Die Gefühle und Gedanken haben mich weniger im Griff.»

Diese Befreiung führt zu einer höheren psychischen Stabilität. Eine grössere Widerstandsfähigkeit (Resilienz) gegenüber Krisen entsteht weiter dadurch, dass wir bei der gegenstandslosen Meditation üben, mit uns selbst zu sein. Sind wir unglücklich oder leiden wir in einer Krise, sind wir häufig einsam, auf uns selbst geworfen. In der regelmässigen Praxis der gegenstandslosen Meditation lernen wir – ‹gewöhnen uns daran› –, bei uns selbst zu sein. Unser Inneres ist dann kein unbekanntes Gelände und wir haben auch in Krisensituationen mehr Sicherheit.

Die psychischen Änderungen finden auf einer unbewussten Ebene statt. Wir kennen es bei körperlichen Übungen, zum Beispiel beim Joggen. Dass wir jeden Tag joggen gehen, ist eine bewusste Tätigkeit. Ihre Wirkung – Zunahme der Muskelkraft und Stärkung unseres Kreislaufsystems – findet allerdings statt, ohne dass wir es bewusst wahrnehmen. Wir bemerken, dass sich unsere körperliche Leistungsfähigkeit bessert, aber wie das geschieht, entzieht sich der bewussten Kontrolle. Ähnlich wie bei körperlichem Training ist es für die Entwicklung der Wirkung wichtig, regelmässig, am besten täglich, zu üben und es braucht längere Zeit, bis die Wirkung bemerkbar wird.

Seit etwa Ende des letzten Jahrhunderts wissen wir, dass diese Wirkungen auf psychischer Ebene nicht nur als Besserung der psychischen Funktion beobachtet werden können, sondern dass die regelmässige Meditation zu Änderungen der Hirnstrukturen führt. Man kann die Wirkung auch morphologisch, d. h. auf der körperlichen Ebene, nachweisen. Das wurde möglich durch die Entwicklung der magnetischen Resonanz als bildgebende Methode in der Medizin.

Mittels MRI (Magnetic Resonance Imaging) können wir heute die Strukturen und Bahnen im Gehirn viel genauer darstellen. Diese Untersuchungen haben gezeigt, dass unser Hirn viel plastischer ist, als es bis vor 30 Jahren angenommen wurde. Es kann sich durch Neubau und Umbau der Nervenzellen und Nervenbahnen bis ins hohe Alter verändern.

Diese neuen Methoden (MRI und functional MRI) wurden verwendet, um nachzuweisen, dass regelmässige Meditation über längere Zeit zu einer Veränderung der Hirnstrukturen und -bahnen führen kann.57 Heute wird auf diesem Gebiet intensiv geforscht.58

Diese neuen Erkenntnisse sind wichtig für Menschen, welche die Wirkung der Praxis der gegenstandslosen Meditation auf der psychischen und spirituellen Ebene als nicht erwiesen oder als Suggestion betrachtet haben. Frauen und Männer, welche die Wirkung selbst erfahren haben, benötigen für sie keine morphologischen Beweise.

Die ursprüngliche und eigentliche Wirkung der Praxis der gegenstandslosen Meditation, die auch das Thema dieses Buchs ist, geht tiefer als psychische oder körperliche Veränderungen. Sie berührt die existenzielle oder spirituelle Ebene. Es geht um Fragen wie Suche nach Sinn, Suche nach einem absoluten Halt oder auch die Suche nach einem ethischen Fundament.

50 Bhagavad Gita. Der Gesang des Erhabenen. Aus dem Sanskrit übersetzt und herausgegeben von Michael von Brück. Verlag der Weltreligionen 2007, S. 45.

51 Ibid., S. 131.

52 Siehe zum Beispiel Johannes Tauler: Predigten. Johannes Verlag, Einsiedeln – Trier, 1987; Meister Eckehart: Deutsche Predigten und Traktate. Diogenes Verlag, 1979 und aus dem englischsprachigen Raum W. Massa, Übersetzer und Herausgeber. Wolke des Nichtwissens und Brief persönlicher Führung. Herder Verlag, 2002.

53 Siehe zum Beispiel: Jon Kabat-Zinn. Gesund durch Meditation. Fischer Verlag 2007 und Jon Kabat-Zinn. Zur Besinnung kommen. Arbor Verlag 2006.

54 Siehe zum Beispiel: Alberto Chiesa, Alessandro Serretti: Mindfulness based cognitive therapy for psychiatric disorders: A systematic review and metaanalysis. In: Psychiatry Research. 187, Mai 2011, S. 441-453.

55 Siehe zum Beispiel das Kapitel «Erkenne dich selbst» weiter unten in diesem Anhang.

56 Siehe zum Beispiel: Günter Stachel, Hrsg. Ungegenständliche Meditation. Festschrift für Pater Hugo M. Enomiya-Lassalle SJ zum 80. Geburtstag. Matthias-Grünewald-Verlag, 1980; und Willigis Jäger. Die Kontemplation – ein spiritueller Weg. Kreuz Verlag, 2010.

57 William R Marchand. Neural mechanisms of mindfulness and meditation: Evidence from neuroimaging studies. World J Radiol. 2014 Jul 28; 6(7): 471–479.

58 Siehe zum Beispiel: Nicole Last et al. The Effects of Meditation on Grey Matter Atrophy and Neurodegeneration: A Systematic Review. Journal of Alzheimer's Disease, vol. 56, no. 1, pp. 275-286, 2017 und Michael Zimmermann. Achtsamkeit. Ein buddhistisches Konzept erobert die Wissenschaft. Hans Huber Verlag 2012.

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