Читать книгу Suche nach (verlorenem) Sinn - Samuel Vožeh - Страница 8
ОглавлениеII. Wer sucht, der findet
Zwei mögliche Wege
Im ersten Teil haben wir gesehen, dass der Mensch mithilfe des rationalen Denkens, durch den Gebrauch seines Verstands, den Sinn nicht finden kann.
Ludwig Wittgenstein schreibt: «Der Sinn der Welt muss ausserhalb ihrer liegen. […] Die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit liegt ausserhalb von Raum und Zeit. (Nicht Probleme der Naturwissenschaft sind ja zu lösen.)»12
Wie können wir aber zu diesem «Ausserhalb-von-Raum-und-Zeit», diesem «Ausserhalb-der-Welt» kommen?
Es gibt – und gab seit alters her – Menschen, welche die Suche an dieser Grenze des rationalen Denkens nicht aufgegeben haben. Sie haben die Leere und die Verzweiflung, die sich durch das Besinnen auf einen tieferen Sinn aufgetan haben, ausgehalten. Sie sind den existenziellen Fragen – Wer bin ich? Warum bin ich? Was ist der Sinn des Ganzen? –, die durch die Unmöglichkeit einer rationalen Antwort in die Leere führen, nicht ausgewichen. Und sie haben den Sinn gefunden und darüber berichtet.
Dank diesen Berichten müssen Menschen an diesem Punkt, der als ‹Verzweiflung› und ‹Nihilismus› wahrgenommen wird, nicht stehen bleiben. Seit dem Altertum haben Philosophen13 und spirituelle Lehrer14 über die Möglichkeit berichtet, den Sinn in einer den rationalen Bereich überschreitenden Ebene zu finden, und haben anderen geholfen, diesen schwierigen Weg zu gehen.
In diesem Buch sind zwei mögliche Wege beschrieben: die gegenstandslose Meditation und die Philosophie Karl Jaspers’. Auf beiden Wegen wird der Bereich des logischen Denkens überschritten, ohne dass ein rational nicht begründbares ideologisches Gebäude errichtet wird.
Warum nur zwei? Eine Geschichte oder Übersicht aller möglichen philosophischen, meditativen oder psychologischen Richtungen würden unser Wissen vergrössern. Aber Kenntnisse allein – das, was wir mit dem Verstand erfassen können – bringen uns, wie im ersten Teil gezeigt, nicht zum Ziel. Um näher ans Ziel zu kommen, muss jeder und jede einen der Wege selbst antreten.
Warum diese zwei? Weil ich nur einen Weg, den ich selber gegangen bin, ‹aus erster Hand› beschreiben und ihn empfehlen kann.
Die gegenstandslose Meditation15
Die gegenstandslose oder objektfreie Meditation könnte man als den direkten Weg bezeichnen. Es ist eine Technik oder eine Übung, die uns hilft, bei der Leere, die unserem Verstand begegnet, wenn er den Sinn sucht, zu bleiben und sie auszuhalten.
Die Grundform der gegenstandslosen Meditation, die Atemachtsamkeit, wird seit mehr als 2500 Jahren in verschiedenen spirituellen Schulen gelehrt. Die ältesten Berichte, dass sie zur Erfahrung des Sinns führt, sind aus der Zeit des Buddhas und der hinduistischen Upanischaden überliefert worden.16
Die Übung ist sehr einfach: Der Atem wird als Anker verwendet, um den Geist zu sammeln und im gegenwärtigen Augenblick – so wie er jetzt hier ist – zu sich selbst zu kommen. Sie ist nicht an eine bestimmte Lehre oder Weltanschauung gebunden.17
Obwohl die Beschreibung der ‹Technik› einfach ist, ist die Übung – die Leere während der Meditation auszuhalten und bei der regelmässigen Praxis zu bleiben – alles andere als mühelos und leicht. Der Physiker und Philosoph Blaise Pascal schreibt: «Nichts ist dem Menschen so unerträglich, als wenn er sich in vollkommener Ruhe befindet, ohne Leidenschaften, ohne Beschäftigungen, ohne Zerstreuungen, ohne Betriebsamkeit.»18 Wer sich auf das tägliche Verweilen mit der Leere einlässt, erfährt überdies, dass die Praxis der gegenstandslosen Meditation die Tiefen des eigenen Inneren ‹sichtbar› macht: Auch die abgelehnten und verdrängten Teile dessen, was ich bin, werden offengelegt. Es ist eine Reise mit vielen überraschenden und nicht immer angenehmen Entdeckungen über mich selbst. Sie zu akzeptieren und die Reise fortzusetzen, kann sehr schwierig sein.
Zugleich kommt es aber auch zu einer ungeahnten Erweiterung meines Horizonts als Bestätigung, dass dies der richtige Weg ist. Das Ausharren in der regelmässigen Praxis führt dann zur Erfahrung der spirituellen Dimension meiner Existenz als Mensch.19 ‹Was› bei dieser Erfahrung erlebt wird, lässt sich mit Worten nicht beschreiben – da es jenseits der rationalen Ebene geschieht, ist es mit rationalen Begriffen nicht fassbar. Es ist das «Unaussprechliche»20, das nur in Metaphern beschrieben werden kann.
Trotzdem wird es wirklicher und wahrer erlebt als das, was wir mit unseren Sinnen und unserem Verstand erfahren können. Der Religionsphilosoph Michael von Brück sagt in einem Vortrag: «Es ist eine intuitive, direkte Erfahrung, die nicht nach Verifizierung von aussen verlangt.»21 Ein in den Berichten häufig verwendetes Symbol ist das Licht oder eine mit dem Verstand nicht greifbare und alles überstrahlende Klarheit.22
Dieses Erlebnis spendet den Sinn. Der Alltag wird nicht unbedingt weniger schwer, er bleibt, wie für alle anderen, mit Leid und Kampf verbunden. Im Gegenteil, nach dieser Erfahrung wird das Leiden der Menschen in dieser Welt mehr und tiefer erlebt. Es gibt aber auch das Wissen um diese Quelle eines über allem stehenden Friedens, zu der ich jeden Tag neu den Zugang finden kann.
Diese Sinnsuche endet daher nicht bei einer höheren Lebensqualität, wie sie heute zum Beispiel unter dem Wort ‹Wellness› verstanden wird. Sie führt aber zu einer anderen, neuen Qualität dank der Bereicherung des Lebens durch eine Dimension, welche der menschlichen Existenz einen tiefen Sinn und ein neues Verständnis für die gelebte zwischenmenschliche Liebe gibt.
Denn Hand in Hand mit dem Sinn wird die Liebe zu allen und allem geschenkt. Die Erfahrungen der Liebe und des Sinns sind nicht getrennt. Das Geschenk dieser Liebe und des Wissens, in ihr aufgehoben zu sein, spendet gleichsam den Sinn. Liebe kann nicht ohne Sinn sein, sie ist der Sinn. Ihr Wesen ist ja zu lieben. Und im Lieben finden wir als Menschen das Höchste, was wir während unseres Lebens erfahren können.23
Als Folge dieser Erfahrung kommt es zu einer Veränderung des Verhaltens. Denn die Berührung der spirituellen Dimension ist auch die Quelle eines auf dem Geschenk der bedingungslosen Liebe beruhenden ethischen Handelns. Dadurch kann die Auswirkung der spirituellen Dimension nicht nur subjektiv erlebt, sondern auch objektiv von anderen wahrgenommen werden.
Auch nach dieser Erfahrung sind indes diese Frauen und Männer keine Engel oder Heiligen. Und sie wissen – gerade dank der langen Reise, auf der sie ihren Schattenseiten begegnet sind – auch um ihre Schwäche, Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit als Menschen in dieser Welt. Das höchste Prinzip in ihrem Leben bleibt jedoch die Liebe.
Die Suche des Sinns durch die Praxis der gegenstandslosen Meditation ist ein anspruchsvolles Projekt, das Zeit, Mut, Kraft und Ausdauer verlangt.
Nachdem ich mich entschieden hatte, diesen Weg zu gehen, musste ich jeden Tag eine halbe bis eine Stunde investieren. Das heisst, jeden Tag stand eine Stunde weniger für Arbeiten, Spielen, Kunst, Geniessen oder Nachdenken zur Verfügung.
Es braucht Ausdauer. Die Reise kann lang sein; die Zeit wird nicht in Tagen oder Wochen gezählt, sondern in Jahren. Und sie kann durch schwierige Phasen führen. Es ist ein Weg zu mir selbst. In meinem Inneren begegnete ich all dem, was ich aussen, bei anderen Menschen, verurteile. Diese schmerzhaften Erfahrungen auszuhalten und die Reise fortzusetzen, verlangt Mut und Kraft. Gleichsam gibt es auch genügend Gründe, sich für diesen Weg zu entscheiden. Er führt zu der wichtigsten Erfahrung schlechthin, die ich als Mensch während der Existenz in dieser Welt machen konnte.
Es braucht allerdings einen klaren Entscheid und auch Klarheit über seine Umsetzung. Jeden Tag meditieren und sich während der Meditation auf die Übung voll einlassen. Die Entscheidung ist schwierig, weil das Erleben der spirituellen Dimension dem Verstand fremd ist, es ist etwas ‹ganz Anderes›, etwas ‹Unglaubliches›. Überzeugen kann sich jemand davon aber nur, wenn er oder sie den langen und beschwerlichen Weg selber geht. Es braucht ein grosses Vertrauen denen gegenüber, die den Weg gegangen sind und darüber berichten. 24
Philosophie
«Die Philosophie ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit.»25
Für Menschen, welche sich vom Denken und nicht durch das Verweilen mit der Leere leiten lassen wollen, bietet sich die Philosophie an als ein Weg, den verlorenen Sinn zu finden.
Im ersten Teil haben wir gesehen, dass die Philosophie, wenn sie sich nur auf die rationalen Betrachtungen beschränkt, beim ‹Verlust› eines tieferen Sinns endet. Einige wenige Philosophen des 20. Jahrhunderts haben an der Grenze des mit dem Verstand Fassbaren nicht haltgemacht. Zu diesen gehört Ludwig Wittgenstein. Er war ein genialer Logiker. Sein Lehrer, Bertrand Russell, schreibt über ihn in seiner Autobiographie: «He was perhaps the most perfect example I have ever known of genius».26
Ludwig Wittgenstein zeigt klar die Grenzen unseres rationalen Denkens auf und sieht, dass für uns als Menschen diese rational erfassbare Welt nicht alles ist. Er beschreibt die Grenze im bereits im Teil I erwähnten Zitat knapp und prägnant: «Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.»27 Obwohl er sie klarer als viele andere Philosophen sieht, bleibt er bei dieser Grenze des logisch denkenden Verstands nicht stehen. Im übernächsten Paragrafen des «Tractatus logico-philosophicus» heisst es: «Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.» (6.522)
Am Schluss des Tractatus meint er, dass über das Unaussprechliche die logischphilosophische Sprache schweigen muss: «Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.» (7) Zu dem, was wir als Menschen erleben, gehört für ihn also auch das «Unaussprechliche», das jenseits des rationalen Denkens liegt. In seinen Tagebucheinträgen und Briefen ist es präsent. In einem Brief an seine Schwester vergleicht er den Bereich, der durch unseren Verstand erforschbar ist, mit einer roten Glasglocke, in der alles rot erscheint. Der Mensch in dieser Glasglocke sieht nicht das reine weisse Licht. Da er sich aber in diesem vom roten Glas begrenzten Teil befindet, wird er, wenn er sich weit genug bewegt, an die Grenze dieses Raums stossen.28
Seine Aufgabe als Philosoph sieht Wittgenstein im Aufzeigen der Grenzen der rein rationalen Betrachtung. In einem Brief an den Verleger des Tractatus logico-philosophicus schreibt er: «[…] mein Werk bestehe aus zwei Teilen: aus dem, der hier vorliegt, und aus alledem, was ich nicht geschrieben habe. Und gerade dieser zweite Teil ist der Wichtige. Es wird nämlich das Ethische durch mein Buch gleichsam von Innen her begrenzt».29
Im vorliegenden Buch wird als möglicher Weg auf der Suche nach Sinn die Philosophie Karl Jaspers’ beschrieben.30 Obwohl Karl Jaspers’ Hintergrund ein ganz anderer war als der des Logikers Wittgenstein – seine akademische Laufbahn begann er als Arzt und Psychiater –, kommt er zu dem gleichen Schluss: «Die [mit dem Verstand fassbare] Welt ist für uns nicht alles.»31 Er macht, ähnlich wie Ludwig Wittgenstein, an der Grenze des mit dem Verstand Fassbaren nicht halt. Für das «Unaussprechliche» – das, was wir mit objektivem Denken nicht erfassen können – gebraucht Karl Jaspers die Worte das «Umgreifende», die «Transzendenz» und die «Existenz».
Im Gegensatz zu Wittgenstein, der ein «Schweigen» fordert, beschreibt er in seinem dreibändigen Hauptwerk, das er 1931 abgeschlossen hat, einen Zugang zu dem «Umgreifenden».32 Der Weg führt über das «philosophische Grundwissen» oder die «philosophische Grundoperation»: Das Bewusstwerden, dass wir das Ganze, in dem wir und als das wir leben, nicht denken können, es aber zu dem, was wir erleben, hinzugehört. Ich werde mir bewusst, dass ich als «Existenz» mehr bin als das, was ich begreifen – mit dem Verstand erfassen – kann. Mehr als meine körperlichen Teile, Organe, Zellen und meine körperlichen und psychischen Funktionen.
Philosophieren heisst, offen zu sein für alle Erfahrungen.33 Die Existenzphilosophie Jaspers’ bleibt offen für die Erfahrung des Menschseins als Ganzes. Sie macht nicht halt an der Grenze des mit dem Verstand Fassbaren. Sie führt uns über das Bewusstwerden meiner selbst als «Existenz» – als das, «was ich eigentlich bin»34 – zu der Möglichkeit, den Bezug zur Transzendenz zu finden – zu dem «Unbegrenzten», das allein gemäss Nozicks im Teil I erwähnten logischen Betrachtungen unserem Leben Sinn spenden könnte.
Obwohl die Existenzerhellung, welche den Kern seines Philosophierens bildet, über die Grenze des rationalen Denkens hinausgeht, bleibt für Jaspers in diesem Prozess die Grenze stets präsent. Das Umgreifende, die Existenz und die Transzendenz liegen jenseits des objektiv Beschreibbaren, sie sind das «Unaussprechliche». Das Bewusstwerden meiner selbst als «Existenz» bezeichnet er aus diesem Grund mit dem Verb «erhellen» – im Gegensatz zu verstehen, begreifen oder in logisch sinnvollen Sätzen beschreiben.
Die Existenz, dieses Mehr, das ich bin, die Fähigkeit, mich zutiefst in meinem Inneren als einmaliges Individuum wahrzunehmen, ist eng mit meiner Freiheit als Mensch verbunden. Ich kann frei entscheiden über meine Handlungen35, trage für sie aber auch die Verantwortung.36 Und – da ich als Mensch unvollkommen bin und auch Dinge getan habe und tue, für welche ich mich schäme oder verachte – auch die Schuld. Die Schuld gehört nach Karl Jaspers, zusammen mit der Unumgänglichkeit des Leidens, des Todes und des Zufalls, zu der «Grundsituation» des Menschen.37
Diese Grundsituation, unter der wir als Menschen leben, die wir als Menschen vorfinden, können wir nicht begreifen. Niemand hat uns gefragt, ob wir Freiheit und damit auch Schuld als Bedingungen unseres Lebens als Menschen wollen. Wir hatten überhaupt keine Mitsprache – keine Freiheit, uns dafür oder dagegen zu entscheiden. Wir sind schuld, weil wir frei entscheiden können, hatten aber nicht die Freiheit, diese Bedingungen anzunehmen oder abzulehnen.
Wird uns die Grundsituation voll bewusst, wird uns auch bewusst, dass unser Menschsein als freie, einmalige Person in seiner Tiefe jenseits dessen liegt, was wir mit dem Verstand, durch rationales Denken, erfassen können. Je tiefer wir uns der Grundsituation, in der wir als Menschen leben, bewusst werden, umso klarer wird für uns auch die Erkenntnis, dass wir als Menschen scheitern müssen. Ich erlebe gleichzeitig als eine tiefe Wahrheit in mir, dass ich als Mensch die Verantwortung für meine Handlungen und ihre Folgen trage und dass ich sie nicht tragen kann. Ich muss an dieser ‹Aufgabe› – meiner Lebensaufgabe als Mensch – scheitern. Dieser existenzielle Widerspruch wird zum existenziellen Scheitern.
Das Scheitern führt zu einer Veränderung meines Selbstbewusstseins. Karl Jaspers spricht von einem «Sprung». Ich erlebe, dass zum Menschsein auch eine Dimension gehört, welche das Denken ‹übersteigt› – transzendiert – und einen tiefen Sinn spendet. Eine Dimension, in der «eine Berührung mit dem Unendlichen unobjektivierbar erlebt wird».38 Ich erfahre mich als «Existenz», als «das Selbstsein, das sich zu sich selbst und zu der Transzendenz verhält, durch die es sich geschenkt weiss, und auf die es sich gründet».39
Das Erleben einer sinnspendenden Dimension unserer Existenz durch Scheitern finden wir auch bei Paul Tillich, einem Religionsphilosophen, wenn er versucht, die Religion mit philosophischen Begriffen zu definieren: «Religion ist Erfahrung des Unbedingten und das heisst Erfahrung schlechthinniger Realität auf der Grundlage der Erfahrung schlechthinniger Nichtigkeit; es wird erfahren die Nichtigkeit des Seienden, die Nichtigkeit der Werte, die Nichtigkeit des persönlichen Lebens; wo diese Erfahrung zum absoluten, radikalen Nein geführt hat, da schlägt sie um in eine ebenso absolute Erfahrung der Realität, in ein radikales Ja.»40
Diese Erfahrung geschieht im Augenblick des «Sprungs». Die durch dieses Erleben erfolgte Änderung meines Selbstbewusstseins verändert meine Haltung mir selber und anderen Wesen gegenüber.
Wir geben dabei die Vernunft nicht preis, indem wir uns rational nicht begründbaren religiösen, mystischen oder esoterischen Lehren und Ideologien zuwenden, welche der vernünftigen Betrachtung der Welt, der Menschheitsgeschichte und unseres Menschseins widersprechen. Wir erfahren aber, dass die wesentlichen – existenziellen, einen tiefen Sinn spendenden – Aspekte unseres Menschseins Dimensionen umfassen, welche mit dem Verstand nicht fassbar sind. Der Verstand wird nicht geleugnet, es werden aber seine Grenzen erkannt.
Philosophie ist für Jaspers kein theoretisches Gebäude, keine Lehre, die sich ein Mensch aneignen kann, indem er sie mit dem Verstand erfasst. So wie Jaspers sie versteht, geht Philosophie den ganzen Menschen an. Jeden Menschen – jede Frau, jeden Mann – einzeln, direkt und persönlich. Philosophieren heisst für ihn, sich als Mensch in seiner Freiheit und Verantwortung zu erfahren. Es setzt bei der philosophierenden Person einen Prozess voraus, in dem es zu einer «Verwandlung ihres Seinsbewusstseins» kommt.41
Philosophie oder Meditation?
Die Philosophie ist freilich nicht für alle offen. Sie ist intellektuell sehr anspruchsvoll und verlangt eine zeitaufwendige, vertiefte Auseinandersetzung mit der Materie. Letztlich ist sie vielleicht für weniger Personen zugänglich als die oben beschriebene, direkte Suche der gegenstandslosen Meditation.
Die zwei Wege – Meditation und Philosophie – schliessen sich nicht aus. Sie können sich im Gegenteil ergänzen. Die beschriebene Philosophie Jaspers führt an den gleichen ‹Ort› wie die gegenstandslose Meditation: zur Erfahrung der Dimension der menschlichen Existenz, welche in diesem Buch die ‹spirituelle Dimension› genannt wird.42 Die Beschäftigung mit der Philosophie Jaspers’ kann daher eine Hilfe auf dem Weg der gegenstandslosen Meditation leisten.
Und umgekehrt kann die Praxis der gegenstandslosen Meditation eine Hilfe für das Verständnis des philosophischen Wegs sein. Ich bin der Philosophie Karl Jaspers’ begegnet, als ich bereits einige Jahre meditiert hatte. Es ist wahrscheinlich, dass mich sein Werk nicht so tief angesprochen hätte, wäre ich nicht auf dem Meditationsweg gewesen.
Eine tiefe, sinnspendende Erfahrung wird auch von Personen beschrieben, welche keinen der hier erwähnten Wege gezielt gegangen sind. Diese Menschen haben durch ihre Veranlagung, verbunden oft mit tiefgreifenden Erlebnissen – Verzweiflung angesichts der Sinnleere, Kriegserfahrungen, Krankheit – einen Zugang zur spirituellen Dimension gefunden. Bekannte Beispiele sind die Beschreibung der Sinnsuche von Lew Tolstoj in seinem Buch «Meine Beichte»43, die Berichte von Eckhart Tolle44 und die Beschreibung ihrer mystischen Erfahrungen von der französischen Philosophin Simone Weil.45
Durch unsere Veranlagung und Erziehung ist bei den Menschen die Fähigkeit, die spirituelle Dimension zu erfahren, unterschiedlich ausgeprägt. Es gibt grosse individuelle Unterschiede, wie intensiv Frauen und Männer die verschiedenen Ebenen, die zu unserem Menschsein gehören, erleben. Wir alle kennen Personen, welche ‹nur im Kopf leben› und einen schlechten Zugang zu ihren Gefühlen haben. Bei anderen bemerken wir, dass sie zu bestimmten Ebenen – sei es die körperliche, emotionale, künstlerische – einen besseren Zugang haben als wir.
Ähnlich sind auch einige anfälliger, könnte man sagen, für die Wahrnehmung dieser tiefen, sinnspendenden spirituellen, mystischen oder religiösen Ebene, welche bei vielen in unserer westlichen Kultur lebenden Menschen von einer dicken Schicht des rationalen Denkens überdeckt ist.
So gesehen macht die Praxis der gegenstandslosen Meditation oder die vertiefte Beschäftigung mit der Philosophie Karl Jaspers’ die Menschen für die Erfahrung der spirituellen Dimension ‹anfälliger›.
12 Ludwig Wittgenstein. Tractatus logico-philosophicus. 6.41; 6.4312.
13 Siehe zum Beispiel das Kapitel 3. «Platon: Das Höhlengleichnis» im Anhang C.
14 Zum Beispiel Buddha, Jesus, Meister Eckehart.
15 Siehe auch Anhang A.
16 Siehe Anhang A, Kapitel «Ursprünge, Geschichte und Wirkung der gegenstandslosen Meditation».
17 Siehe Anhang A, Kapitel «Drei mögliche Perspektiven».
18 Blaise Pascal. Gedanken. Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart, 1997, S. 366 (622/131).
19 Siehe Anhang C 4. «Die spirituelle Dimension».
20 Ludwig Wittgenstein schreibt in «Tractatus logico-philosophicus»: «Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.» (6.522)
21 Michael von Brück. «Zum Begriff der Wahrheit in europäischen und indischen Traditionen». https://www.tibet.de/zeitschrift/rezensionen/?tx_news_pi1%5Bnews%5D=19&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash=cfb4bb17bfa7bd3441ad833298108136. Gesichtet 23. Februar 2017.
22 Die im westlichen Kulturkreis wahrscheinlich bekannteste Metapher ist das Höhlengleichnis von Platon. Siehe Anhang C 3. «Platon: Das Höhlengleichnis».
23 Siehe Anhang C 5. «Liebe: Ein mögliches rationales Konzept für den Sinn des Ganzen».
24 Siehe Anhang A, Kapitel «Der Weg des Vertrauens».
25 Ludwig Wittgenstein. Tractatus logico-philosophicus. 4.112.
26 «The Autobiography of Bertrand Russell 1914-1944». First American Edition. Little, Brown and Company, 1968, p. 136.
27 Ludwig Wittgenstein. Tractatus logico-philosophicus. 6.52.
28 Ludwig Wittgenstein. Der Mensch in der roten Glasglocke (ein Brieffragment). In: Licht und Schatten. Herausgegeben von Ilse Somavilla. Haymon Verlag 2014, S. 43-45.
29 Ludwig Wittgenstein. Briefwechsel. Hrsg. B. F. McGuiness und G. H. v. Wright, Frankfurt 1968, S. 96. Hier zitiert aus: W. Baum. Wittgenstein im Ersten Weltkrieg. Kitab-Verlag, 2014, S. 33-34.
30 Siehe auch Anhang B.
31 Karl Jaspers. Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung. R. Piper Verlag, München 1962, Lizenzausgabe Ex Libris Zürich, 1984, S. 32.
32 Karl Jaspers. Philosophie. II. Existenzerhellung, Vierte Auflage, Springer Verlag 1973.
33 Siehe z. B. Arno Anzenbacher. Einführung in die Philosophie. Herder Verlag, 1995, S. 17.
34 Karl Jaspers. Von der Wahrheit. Philosophische Logik erster Band. Piper Verlag, Neuausgabe 1991, S. 76.
35 Selbstverständlich im Rahmen meiner Möglichkeiten und Fähigkeiten. Frei will nicht heissen grenzenlos. Ich erkenne die Grenzen, ich kann zum Beispiel nicht fliegen wie die Vögel und ich kann mir auch keinen Ferrari kaufen. Ich kann aber trotzdem im Rahmen meiner Möglichkeiten und Fähigkeiten frei entscheiden, was ich tue und was ich nicht tue.
36 Siehe Anhang B, Teil I, Kapitel «Freiheit und Verantwortung».
37 Siehe Anhang B, Teil II, Kapitel «Bewusstwerden meiner selbst als Existenz in Grenzsituationen».
38 Karl Jaspers. Psychologie der Weltanschauungen. Berlin 1919. Hier zitiert aus: K. Salamun. Karl Jaspers. C. H. Beck, 1985, S. 66.
39 Karl Jaspers. Von der Wahrheit. Philosophische Logik erster Band. Piper Verlag, Neuausgabe 1991, S. 49.
40 Paul Tillich. Ausgewählte Texte. Herausgegeben von Christian Danz, Werner Süssler und Erdmann Sturm. Walter de Gruyter, 2008, S. 30.
41 Siehe zum Beispiel: Karl Jaspers. Einführung in die Philosophie. Piper Verlag, 29. Auflage 2012, S. 18.
42 Siehe Anhang B, Teil II, Kapitel «Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Jaspers’ philosophischem Weg und einem meditativen Weg zur Erfahrung der Existenz».
43 Lew Tolstoj. Meine Beichte. Insel Taschenbuchverlag, 2010.
44 Eckhart Tolle. Jetzt! Die Kraft der Gegenwart. Kamphausen Verlag 2000.
45 Simone Weil. Das Unglück und die Gottesliebe. Übers. Friedhelm Kemp. Kösel Verlag München 1953.